Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksame Bekanntgabe eines Steuerbescheids an Ehegatten; Heilung durch Einspruchsentscheidung; Ablaufhemmung durch Klageerhebung

 

Leitsatz (NV)

1. Ist der Einkommensteuerbescheid nicht wirksam geworden, weil er den Ehegatten nur in einer Ausfertigung zugesandt wurde, obwohl sie einander nicht zu Empfangsbevollmächtigten bestellt hatten, so kann dieser Bekanntgabemangel durch fehlerfreie Zustellung der Einspruchsentscheidung geheilt werden.

2. Auch wenn einer solchen Einspruchsentscheidung die Wirkung einer erstmaligen Steuerfestsetzung zukommt, bedarf es nicht der nochmaligen Durchführung eines Einspruchsverfahrens.

3. Durch Klageerhebung tritt Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist auch dann ein, wenn das FA einen neuen Bescheid erläßt und danach Erstbescheid und Einspruchsentscheidung aufhebt.

 

Normenkette

AO 1977 § 171 Abs. 3 S. 2, § 124 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) gab am 12. September 1980 für das Streitjahr 1978 eine nur von ihm, nicht jedoch von seiner Ehefrau unterzeichnete Einkommensteuererklärung ab. Den hierauf erlassenen Steuerbescheid vom 5. Februar 1981 (Steuerbescheid I) adressierte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) an ,,Herrn und Frau. . ." und gab den Bescheid unter der gemeinschaftlichen Anschrift der Eheleute in einer einzigen Ausfertigung bekannt.

Mit dem durch ihren Steuerberater erhobenen Einspruch wandten sich der Kläger und seine Ehefrau in erster Linie gegen die Nichtberücksichtigung des geltend gemachten Verlustes nach § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG). In der Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1983 erkannte das FA einen Teil des Verlustes an, setzte unter Zugrundelegung eines zu versteuernden Einkommens von . . . DM die Einkommensteuer 1978 mit . . . DM fest und wies im übrigen den Einspruch zurück. Die Einspruchsentscheidung war adressiert an ,,Herrn und Frau. . ." und wurde durch förmliche Zustellung gegenüber dem Steuerberater als Bevollmächtigten bekanntgegeben.

Während des anschließenden Klageverfahrens gelangte das FA zu der Auffassung, daß der Steuerbescheid I und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung wegen Bekanntgabemangels nichtig seien. Es erließ am 22.Oktober 1986 einen neuen - inhaltlich dem Steuerbescheid I entsprechenden - nunmehr an den Kläger gerichteten Einkommensteuerbescheid 1978, in dem der Kläger zusammen mit seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt wurde (Steuerbescheid II). Im Anschluß daran hob das FA den als nichtig angesehenen Steuerbescheid I und die Einspruchsentscheidung auf. Der Rechtsstreit wurde von Kläger und FA übereinstimmend für erledigt erklärt.

Mit seinem Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid II machte der Kläger erfolglos den Einwand der Festsetzungsverjährung geltend.

Seine Klage vor dem Finanzgericht (FG) hatte Erfolg. Zur Begründung führte das FG im wesentlichen aus:

Im Zeitpunkt des Ergehens des Steuerbescheids II sei die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen gewesen. Durch den Einspruch der Eheleute gegen den Steuerbescheid I sei der Ablauf der Festsetzungsfrist nicht gehemmt worden, da der Bescheid mangels Bekanntgabe nicht wirksam geworden sei (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. März 1985 VIII R 225/83, BFHE 143, 491, BStBl II 1985, 603). Die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) setze die Anfechtung eines wirksamen Bescheids voraus.

Mit der vom FG zugelassenen Revision macht das FA geltend, die Vorentscheidung beruhe auf der Verletzung des § 171 Abs. 3 Satz 1 AO 1977. Diese Vorschrift unterscheide nicht danach, ob der angefochtene Bescheid rechtmäßig, rechtswidrig oder nichtig sei. Sie verlange lediglich einen wirksamen Rechtsbehelf. Die Ablaufhemmung sei keine Wirkung des Bescheids, sondern eine Wirkung der Anfechtung.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Im Zeitpunkt des Ergehens des Steuerbescheids II war die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer 1978 nach den §§ 169 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr.2, 170 Abs. 2 Nr.1, 171 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 noch nicht abgelaufen.

1. Zwar ist das FG zutreffend davon ausgegangen, daß der Steuerbescheid I nicht wirksam geworden ist. Er wurde den Ehegatten nur in einer Ausfertigung zugesandt, obwohl sie einander nicht zu Empfangsbevollmächtigten bestellt hatten (BFHE 143, 491, BStBl II 1985, 603). Die Vorschrift des § 155 Abs. 5 Satz 1 AO 1977, nach der die Übersendung nur einer Ausfertigung zur Bekanntgabe ausreicht, ist erst durch das Steuerbereinigungsgesetz 1986 (BGBl I 1985, 2436) eingefügt worden und am 1. Januar 1986 in Kraft getreten.

2. Wirksam geworden ist jedoch die Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1983, da sie gemäß § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 gegenüber dem gemeinsamen Bevollmächtigten beider Ehegatten bekanntgegeben wurde (BFH-Urteil vom 9. August 1991 III R 169/90, BFH/NV 1992, 433).

Nachdem dem Bevollmächtigten zwei Fertigungen der Einspruchsentscheidung übersandt wurden, braucht die Frage nicht entschieden zu werden, ob auch bei der Bekanntgabe an den gemeinsamen Bevollmächtigten für jeden Ehegatten je eine Urschrift des Bescheids zu übermitteln ist, oder ob in Anlehnung an § 8 Abs. 1 Satz 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) die Zustellung eines Schriftstücks genügt (vgl. BFH/NV 1992, 433). Die Anforderungen an eine wirksame Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung sind im Streitfall jedenfalls erfüllt.

3. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann der in der fehlerhaften Bekanntgabe eines Steuerbescheids liegende Mangel, der die Unwirksamkeit des Bescheids bewirkt, durch fehlerfreie Zustellung der Einspruchsentscheidung geheilt werden (BFH-Urteile vom 11.Dezember 1985 I R 352/83, BFH/NV 1986, 644; vom 18. März 1986 II R 214/83, BFHE 147, 99, BStBl II 1986, 778; vom 14. November 1990 II R 255/85, BFHE 162, 380, BStBl II 1991, 49, und vom 26. März 1991 VIII R 210/85, BFH/NV 1992, 73). Nach § 44 Abs. 2 FGO ist der ursprüngliche unwirksame Verwaltungsakt nur in der Gestalt der wirksamen Einspruchsentscheidung von dem Gericht auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. Auch wenn einer solchen Einspruchsentscheidung die Wirkung einer erstmaligen Steuerfestsetzung zukommt, bedarf es nicht der nochmaligen Durchführung eines Einspruchsverfahrens, da bereits dem Zweck eines außergerichtlichen Vorverfahrens entsprochen wurde.

4. Durch die gegen die Einspruchsentscheidung erhobene Klage wurde gemäß § 171 Abs. 3 Satz 2 AO 1977 der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer 1978 gehemmt. Für den Eintritt der Ablaufhemmung ist es unschädlich, daß das FA den Steuerbescheid I und die Einspruchsentscheidung am 30. Oktober 1986 aufgehoben hat. Die Einspruchsentscheidung ist bis zur Fristwahrung wirksam geblieben (BFH-Urteil vom 16. Mai 1990 X R 147/87, BFHE 161, 398, BStBl II 1990, 942). Das FA hat den Steuerbescheid II noch vor der Aufhebungsverfügung erlassen. Nach § 124 Abs. 2 AO 1977 konnte die Einspruchsentscheidung bis zu ihrer Aufhebung Wirkung entfalten und in Verbindung mit der gegen sie gerichteten Klage den Ablauf der Festsetzungsfrist hemmen.

5. Die Sache ist nicht spruchreif. Dies ergibt sich bereits daraus, daß das FG nicht in eine Prüfung der Sache eingetreten ist.

 

Fundstellen

BFH/NV 1993, 576

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