Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Ausübung des Ermessens, ob eine Einspruchsentscheidung dem Steuerpflichtigen selbst oder dessen Bevollmächtigten zuzustellen ist, hat das Finanzamt die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Ist kein Zustellungsbevollmächtigter ausdrücklich benannt worden, darf das Finanzamt sich in der Regel nicht in Widerspruch zur Handhabung im bisherigen Verlauf des Verfahrens setzen.

VwZG § 8 Abs. 1.

 

Normenkette

VwZG § 8 Abs. 1

 

Tatbestand

Bei der Bfin. fand im Jahre 1958 eine Betriebsprüfung statt, nach deren Ergebnis die Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuermeßbetragsveranlagungen für die Jahre 1955 bis 1956 berichtigt und für das Jahr 1957 erstmalig durchgeführt wurden. Auf die dagegen erhobenen Einsprüche stellte das Finanzamt der Bfin. die Einspruchsentscheidungen am 18. Mai 1960 durch Boten gegen Empfangsbekenntnis zu. Die Berufungen gegen die Einspruchsentscheidungen gingen erst am 20. Juni 1960 ein. Auf die Versäumung der Rechtsmittelfrist hingewiesen, beantragte die Bfin. am 25. Juni 1960 zwar Nachsichtgewährung, machte aber geltend, die Rechtsmittelfrist sei wegen unheilbarer Zustellungsfehler nicht in Lauf gesetzt worden; insbesondere hätten die Einspruchsentscheidungen dem Steuerbevollmächtigten zugestellt werden müssen. Jedenfalls habe die Bfin. die etwaige Verspätung der Berufungen nicht verschuldet.

Das Finanzgericht verwarf die Berufungen wegen unentschuldigter Versäumung der Rechtsmittelfrist als unzulässig. Zustellungsmängel lägen nicht vor. Das Finanzamt habe von seinem Ermessen keinen Fehlgebrauch gemacht, als es die Einspruchsentscheidungen der Bfin. unmittelbar übermittelte. Die vorgetragenen Entschuldigungsgründe reichten für Nachsichtgewährung nicht aus.

Mit den Rb. wird Verletzung des § 8 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) und des § 246 Abs. 3 AO gerügt. Die Bfin. wiederholt, die Einspruchsentscheidungen hätten rechtswirksam nur ihrem Vertreter zugestellt werden können; dieser sei der Einspruchsführer gewesen. Durch die Zustellung an die Bfin. sei die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt worden. Zur Nachsichtfrage weist die Bfin. darauf hin, daß die Einspruchsentscheidungen undatiert gewesen seien, so daß der Fristbeginn nur aus dem Anschreiben habe festgestellt werden können. Außerdem sei die Zustellung durch Boten ungewöhnlich gewesen und habe die Feststellung des Fristablaufs erschwert. Schließlich hätte das Finanzgericht die Angestellte der Bfin., die mit der Überbringung der Berufungsschrift betraut gewesen sei, vernehmen müssen, um die Verzögerung der Übermittlung würdigen zu können.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. sind zur einheitlichen Entscheidung verbunden worden. Sie sind nicht begründet.

Gemäß § 8 Abs. 1 VwZG kann das Finanzamt an den Vertreter des Steuerpflichtigen statt an ihn selbst zustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs liegt es im Ermessen des Finanzamts, ob es an den Steuerpflichtigen persönlich oder an dessen Vertreter zustellt. Die Steuergerichte haben deshalb nur das Recht und die Pflicht zu prüfen, ob die Grenzen des Ermessens eingehalten worden sind (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs II 239/53 U vom 11. August 1954, BStBl 1954 III S. 327, Slg. Bd. 59 S. 305; V 109/59 vom 31. Mai 1961, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Verwaltungszustellungsgesetz, § 3, Rechtsspruch 3; VI 310/62 U vom 9. April 1963, BStBl 1963 III S. 388, Slg. Bd. 77 S. 193; III 7/60 U vom 25. Oktober 1963, BStBl 1963 III S. 600, Slg. Bd. 77 S. 764). Der Senat tritt dieser Auffassung bei.

Das Finanzamt darf sein Ermessen nicht willkürlich ausüben. Hat der Steuerpflichtige dem Finanzamt einen Zustellungsbevollmächtigten benannt, so ist grundsätzlich diesem zuzustellen (Urteil des Bundesfinanzhofs II 127/60 vom 11. Juli 1962, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1962 Nr. 331). Fehlt es an der ausdrücklichen Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten, hat das Finanzamt sich aber eine Zeitlang ständig an den Vertreter gewendet gehabt, darf es die Einspruchsentscheidung nicht dem Steuerpflichtigen unmittelbar zustellen, es sei denn, daß es dazu durch besondere, aktenkundig zu machende Gründe veranlaßt worden ist (Urteil des Bundesfinanzhofs II 239/53 U, a. a. O.). Verkehrt das Finanzamt im allgemeinen unmittelbar mit dem Steuerpflichtigen und richtet seine Antworten nur dann an den Bevollmächtigten, wenn dieser Anträge eingereicht hat, so liegt darin kein willkürliches Verhalten (Urteil des Bundesfinanzhofs V 109/59, a. a. O.). Im Urteil des Bundesfinanzhofs III 7/60 U (a. a. O.) ist entschieden worden, daß die Einspruchsentscheidung rechtswirksam nur dem Bevollmächtigten zugestellt werden könne, wenn dieser das Rechtsmittel eingelegt und das Finanzamt ihn im Rubrum und in den Gründen des Einspruchsbescheids ausdrücklich als Bevollmächtigten bezeichnet und damit anerkannt hat. Das gelte auch dann, wenn das Finanzamt sich stets an den Steuerpflichtigen gewendet hat, obwohl bekannt war, daß der Bevollmächtigte die Sache bearbeitet und der Bevollmächtigte dies Verfahren nicht gerügt hat.

Der Senat vertritt die Auffassung, daß bei der Ausübung des Ermessens die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Das Finanzamt darf die ausdrückliche Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten in der Regel nicht außer acht lassen. Ist ein Zustellungsbevollmächtigter nicht ausdrücklich benannt worden, darf sich das Finanzamt grundsätzlich nicht in Widerspruch zur Handhabung im bisherigen Verlauf des Verfahrens setzen.

Im Streitfall hat das Finanzgericht zutreffend festgestellt, daß das Finanzamt seit Anfang 1955 die Steuerbescheide ausschließlich und andere Bescheide, Bescheinigungen und Schreiben zum ganz überwiegenden Teil unmittelbar an die Bfin. gerichtet hat. Nach den Akten ist das nicht nur in den häufigen Fällen geschehen, in denen sich die Bfin. unmittelbar an das Finanzamt gewendet hat, sondern zum Teil auch dann, wenn es sich um die Bearbeitung von Eingaben und Anträgen des Steuerbevollmächtigten handelte. Das war nie beanstandet worden. Die Bfin. hat dem Finanzamt gegenüber keine ausdrückliche allgemeine Zustellungsbevollmächtigung ihres Vertreters ausgesprochen. Die Einsprüche gegen die Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuermeßbescheide sind vom Steuerbevollmächtigten eingereicht worden. Im vorliegenden Fall die Vorinstanzen die Stellungnahme des Steuerbevollmächtigten zum Betriebsprüfungsbericht vom 30. Dezember 1958 zutreffend zugleich als Einspruchsschrift angesehen, obwohl in der Regel Stellungnahmen zu Betriebsprüfungsberichten nicht in Einsprüche umgedeutet werden können (Urteil des Bundesfinanzhofs VI 310/62 U, a. a. O.). Der Bfin. mag eingeräumt werden, daß sich die Einspruchsschrift auch auf die Körperschaftsteuerbescheide bezog. Anders als die Gewerbesteuermeßbescheide waren sie noch nicht zugestellt worden. Nach § 246 Abs. 2 AO kann aber ein Rechtsmittel eingelegt werden, sobald der Bescheid vorliegt. Diese Voraussetzung war erfüllt: Die Körperschaftsteuerbescheide waren bereits am 3. Dezember 1958 vom Sachgebietsleiter abschließend gezeichnet und anschließend der Finanzkasse zugeleitet worden; die Bfin. durfte nach Erhalt der Gewerbesteuermeßbescheide annehmen, daß auch die Körperschaftsteuerveranlagungen durchgeführt waren (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, § 246 Anm. 2). Die abweichende Ansicht des Finanzgerichts war aber nicht erheblich. Zutreffend hat das Finanzgericht seine Entscheidung damit begründet, daß der ganze weitere Schriftwechsel des Einspruchsverfahren von der Bfin. mit dem Finanzamt geführt wurde und daß auch bei der mündlichen Erörterung des Streitstoffes beim Finanzamt der Geschäftsführer der Bfin. neben dem Steuerbevollmächtigten aufgetreten war. Das Ergebnis dieser Verhandlung bestätigte das Finanzamt zwar in einem Schreiben an den Steuerbevollmächtigten, die umgehende Antwort darauf kam aber ebenso wie die weiteren Schriftsätze wieder von der Bfin. selbst. Der Steuerbevollmächtigte hat lediglich einige der Schriftsätze der Bfin. gegengezeichnet. Die Bfin. hat dazu erklärt, daß der Steuerbevollmächtigte sich absichtlich zurückgehalten habe, um die damaligen Spannungen zwischen ihm und dem Finanzamt abzubauen. Daraus geht hervor, daß die Bfin. bewußt selbst gegenüber dem Finanzamt auftreten und sich ihres Steuerbevollmächtigten nur intern bedienen wollte.

Bei dieser Sachlage hat das Finanzgericht zu Recht angenommen, das Finanzamt habe den Rahmen seines Ermessens nicht überschritten, als es die Einspruchsentscheidungen der Bfin. zustellte. Nachdem sich die Bfin. in so weitem Maße in die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens unmittelbar eingeschaltet und bis zuletzt eigene Schriftsätze eingereicht hatte, obwohl sie intern vom Steuerbevollmächtigten verfaßt worden waren, kam es für die Zustellung der Einspruchsentscheidungen nicht mehr darauf an, daß die Einspruchsschrift dem Finanzamt vom Steuerbevollmächtigten zugegangen war. Das Finanzamt setzte sich nicht in Widerspruch zum Verlauf des Einspruchsverfahrens, als es die Einspruchsentscheidungen der Bfin. zustellte. Daß der Steuerbevollmächtigte im Rubrum der Einspruchsentscheidungen als Vertreter der Bfin. bezeichnet worden war, ist hier nicht ausschlaggebend. Es kann dahingestellt bleiben, ob dem Urteil des Bundesfinanzhofs III 7/60 U (a. a. O.) für den Regelfall darin zu folgen ist, daß an den Bevollmächtigten zugestellt werden muß, falls er Einspruch eingelegt hatte und in der Einspruchsentscheidung als Vertreter benannt wird, auch wenn der Schriftwechsel im Einspruchsverfahren vom Steuerpflichtigen selbst geführt worden ist. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls kann jedenfalls dem Finanzamt kein Fehlgebrauch seines Ermessens vorgeworfen werden. Es entsprach dem eigenen Willen der Bfin., ihren Steuerbevollmächtigten im schriftlichen Verkehr mit dem Finanzamt zurücktreten zu lassen; sie legte erkennbar keinen Wert darauf, daß Schriftstücke ihrem Steuerbevollmächtigten zugestellt würden. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, im Streitfall die Einspruchsentscheidungen anders als den vorhergegangenen Schriftwechsel zu beurteilen. Zwar ist die Anfechtbarkeit der Einspruchsentscheidungen fristgebunden; das trifft aber auf alle Steuerbescheide zu, die stets widerspruchslos der Bfin. unmittelbar zugesandt wurden.

Die Auffassung der Bfin., daß ihr Steuerbevollmächtigter dadurch, daß er die Einspruchsschrift einreichte, zum Einspruchsführer geworden sei, ist rechtsirrig. Beteiligt am Einspruchsverfahren und damit Einspruchsführer bleibt der Steuerpflichtige auch dann, wenn er sich in dem Verfahren vertreten läßt.

Die Einspruchsentscheidungen sind danach rechtswirksam am 18. Mai 1960 zugestellt worden. Die am 20. Juni 1960 eingelegten Berufungen waren mithin verspätet (ßß 245, 246 AO).

Zu Recht hat das Finanzgericht auch keine Nachsicht wegen der Fristversäumung gewährt. Die Zustellung von Schriftstücken durch einen bediensteten Boten gegen Empfangsbekenntnis ist im § 5 VwZG ausdrücklich zugelassen. Weshalb dadurch die Feststellung des Fristablaufs erschwert sein soll, ist nicht zu erkennen. Daß die Einspruchsbescheide undatiert waren, entschuldigt die Fristversäumung ebensowenig, weil nicht der Ausstellungstag, sondern der Zustellungstag für den Fristbeginn maßgebend war, was sich auch aus der Rechtsmittelbelehrung ergab. Außerdem war den Bescheiden ein datiertes Begleitschreiben beigefügt. Es war Sache der Bfin., geeignete Vorkehrungen für die Fristwahrung zu treffen. Notfalls konnte sie das Zustellungsdatum beim Finanzamt erfragen. Nachsicht kann auch nicht deshalb gewährt werden, weil der letzte Tag der Frist auf einen dienstfreien Sonnabend fiel. Die Bfin. hatte nicht die Absicht, die Berufungen gemäß § 249 AO zu Protokoll zu erklären. Das von der Bfin. angeführte Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. April 1964 ("Entscheidungen der Finanzgerichte" 1964 S. 506) hat die Entscheidung eines solchen Falles ausdrücklich offen gelassen. Es war der Bfin. möglich, die Berufungsschriften in den Briefkasten zu werfen. Daß die Angestellte davon absah, weil sie eine Empfangsbestätigung haben wollte, ist kein Nachsichtsgrund. Die Angestellte hätte in der gebotenen Weise auf die Eilbedürftigkeit hingewiesen werden müssen, was nach der Feststellung des Finanzgerichts unterblieben ist. Die hierzu erhobene Rüge, das Finanzgericht hätte die Angestellte vernehmen müssen, betrifft einen Verfahrensmangel, der nach den ßß 289 Abs. 2, 290 Abs. 1, 296 Abs. 2 AO nur innerhalb der Begründungsfrist geltend gemacht werden konnte. Die Rüge ist aber erst nach Ablauf dieser Frist vorgebracht worden und muß deshalb ungeprüft bleiben.

Das Finanzgericht hat die Berufungen als unzulässig verworfen. Gleichwohl hat es die Kostenentscheidungen und Streitwertfeststellungen der Einspruchsentscheidungen geändert. Das ist nicht zu billigen. Wird die Einspruchsfrist unentschuldigt versäumt, so fehlt es an einer Prozeßvoraussetzung für das Verfahren vor dem Finanzgericht. Das gilt nicht nur für die Hauptsache, sondern auch für die in der Einspruchsentscheidung getroffene Kostenentscheidung und Streitwertfeststellung; denn auch für deren Anfechtung gilt die Frist des § 245 AO. Die Vorentscheidungen waren deshalb aufzuheben, soweit sie die Kostenentscheidung und die Streitwertfeststellung der Einspruchsbescheide geändert haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411614

BStBl III 1965, 389

BFHE 82, 391

StRK, VwZG:8 R 9

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