Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Es ist ein Ermessensmißbrauch, wenn das Finanzamt eine Einspruchsentscheidung nur dem Steuerpflichtigen, nicht aber dem Bevollmächtigten zustellt, obwohl dieser den Einspruch eingelegt und das Finanzamt ihn als Bevollmächtigten in der Einspruchsentscheidung aufgeführt hat.

 

Normenkette

VwZG § 8 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Bf. beantragte in der Vermögensabgabeerklärung, einen Zinsbetrag von 9.000 DM, den er aus einem Rückerstattungsvergleich schuldete, nach § 27 Abs. 2 LAG bei der Vermögensabgabeveranlagung als Schuldposten zu berücksichtigen. Mit Schreiben vom 7. Februar 1956, das an den Bf. gerichtet war, teilte das Finanzamt mit, daß dem Antrag nicht stattgegeben werden könne. Der Bf. leitete dieses Schreiben an seinen Steuerbevollmächtigten zur Erledigung weiter. Dieser nahm in einem Schriftsatz vom 27. März 1956 zu dem Schreiben des Finanzamts sachlich Stellung. Der Vermögensabgabebescheid, in dem die 9.000 DM nicht als Schuld berücksichtigt wurden, wurde am 16. Oktober 1956 an den Bf. zur Post gegeben.

Durch Schreiben vom 26. Oktober 1956 legte der Steuerbevollmächtigte im Auftrag des Bf. gegen diesen Bescheid Einspruch ein mit dem Antrage, die Zinsschuld in Höhe von 7.800 DM zum Abzug zuzulassen. In dieser Höhe sei sie bis zum 21. Juni 1948 angefallen. Das Finanzamt wies diesen Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 8. Juli 1959 als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung wurde wiederum dem Bf. selbst zugestellt. Sie ist laut Postzustellungsurkunde am 10. Juli 1959 der Ehefrau des Bf. übergeben worden. Gegen diese Einspruchsentscheidung legte der Steuerbevollmächtigte mit Schreiben vom 31. August 1959, eingegangen bei dem Finanzamt am 1. September 1959, Berufung ein. Er rügt erstmals, daß die Einspruchsentscheidung nicht an ihn, den Bevollmächtigten, sondern an den Bf. selbst zugestellt sei. Er vertrat unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs II 239/53 U vom 11. August 1954 (BStBl 1954 III S. 327, Slg. Bd. 59 S. 305) die Auffassung, daß die Berufungsfrist nicht in Lauf gesetzt sei, weil das Finanzamt die Einspruchsentscheidung an ihn, als den Bevollmächtigten, zustellen müsse. Vorsorglich beantragte er Nachsichtgewährung, weil den Bf. kein Verschulden treffe, falls die Berufungsfrist doch abgelaufen sein sollte. Die Einspruchsentscheidung sei versehentlich von einer Angestellten des Bf. zu den Akten abgelegt worden. Im übrigen brachte er sachliche Einwendungen vor.

Die Berufung wurde vom Finanzgericht als unzulässig verworfen. Das Finanzgericht ist der Auffassung, die Entscheidung darüber, an wen die Einspruchsentscheidung zuzustellen sei, sei in das pflichtgemäße Ermessen des Finanzamts gestellt. Die Steuergerichte hätten nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 11. August 1954 (a. a. O.) in diesem Fall nur zu prüfen, ob in der Zustellung der Einspruchsentscheidung an den Bf. ein Ermessensmißbrauch zu sehen sei. Das sei aber hier nicht der Fall. Der Bf. berufe sich zu Unrecht auf das Urteil vom 11. August 1954. In jenem Fall habe der Bundesfinanzhof deshalb einen Ermessensmißbrauch des Finanzamts festgestellt, weil das Finanzamt ohne ersichtlichen Grund sich plötzlich an den Pflichtigen selbst gewandt habe, obwohl es vorher stets mit dem Bevollmächtigten verhandelt habe. Im Streitfall sei es aber gerade umgekehrt. Hier habe sich das Finanzamt ohne Widerspruch stets an den Bf. selbst gewandt. Auch Nachsicht könne nicht gewährt werden, weil den Bf. an der Versäumung der Rechtsmittelfrist schon dadurch ein Verschulden treffe, daß er seiner Angestellten nicht die generelle Anweisung gegeben habe, behördliche Schriftstücke unverzüglich nach ihrem Eingang ihm selbst auszuhändigen, bevor sie abgelegt wurden.

Mit der Rb. trägt der Bf. vor, seit einiger Zeit sei es übliche Gepflogenheit der Finanzämter, wichtige Entscheidungen selbst dann dem Bevollmächtigten zuzustellen, wenn der vorausgehende Schriftverkehr nur an den Steuerpflichtigen gerichtet worden sei. Deshalb sei für ihn auch vorher, solange eine Fristversäumung nicht möglich gewesen sei, eine Rüge der Zustellungsart nicht angebracht gewesen. Bei der Frage der Nachsichtgewährung habe das Finanzgericht seine Entscheidung allein auf die persönlichen Verhältnisse des Bf. gestützt. Bei der Veranlagung der Vermögensabgabe, deren Auswirkungen sich auf einen sehr langen Zeitraum erstreckten, müsse jedoch in der Frage der Nachsichtgewährung ein ganz anderer Maßstab angelegt werden. Das Verschulden des Bf. sei dabei von zweitrangiger Bedeutung. Im übrigen sei noch zu berücksichtigen, daß der Bf. infolge seines vorgerückten Lebensalters (68 Jahre) den heutigen Anforderungen nicht mehr so gewachsen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

Die Einspruchsentscheidung ist nach § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) dem Bf. am 10. Juli 1959 zugestellt worden. Die Berufungsfrist des § 245 AO begann nach § 246 Abs. 1 AO mit dem Ablauf des 10. Juli 1959 und endete nach § 82 AO in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB mit dem Ablauf des 10. August 1959. Die Berufung ging aber beim Finanzamt erst am 1. September 1959 ein. Sie ist also verspätet eingegangen, wenn die Zustellung der Einspruchsentscheidung ordnungsmäßig war.

Es ist deshalb zunächst zu prüfen, ob die Rechtsmittelfrist durch die Zustellung der Einspruchsentscheidung an den Bf. selbst statt an den Bevollmächtigten in Lauf gesetzt worden ist. Die Vorinstanz hat das unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs II 239/53 U vom 11. August 1954 (a. a. O.) bejaht. In diesem Urteil hat der II. Senat die Auffassung vertreten, daß die Entscheidung, ob an den Steuerpflichtigen oder an seinen Bevollmächtigten zuzustellen sei, in das Ermessen der in Frage stehenden Behörden gestellt sei. Das ergebe sich aus § 8 Abs. 1 VwZG, der bestimme, daß Zustellungen an den allgemeinen oder für bestimmte Angelegenheiten bestimmten Vertreter gerichtet werden können. Auch Nr. 10 Abs. 2 der allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum VwZG (Bundesanzeiger Nr. 195 vom 8. Oktober 1952 S. 1, Ministerialblatt des Bundesministers der Finanzen 1952 S. 547) trage dieser Rechtslage Rechnung. Bei einer Ermessensentscheidung hätten aber die Steuergerichte nur das Recht und die Pflicht zu prüfen, ob die Grenzen des Ermessens innegehalten worden seien (vgl. Gutachten des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, BStBl 1951 III S. 107, Slg. Bd. 55 S. 277). Der II. Senat hat das Urteil vom 11. August 1954 durch das Urteil II 127/60 vom 11. Juli 1962 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1962 S. 351) erneut bestätigt. Er hat es in diesem Fall nur deswegen nicht angewandt, weil der Steuerpflichtige den Steuerbevollmächtigten zur Entgegennahme von Zustellungen ausdrücklich ermächtigt hatte. Auch der V. Senat (vgl. das Urteil V 109/59 vom 31. Mai 1961, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Verwaltungszustellungsgesetz, § 3, Rechtsspruch 3) und der VI. Senat (vgl. das Urteil VI 310/62 U vom 9. April 1963, BStBl 1963 III S. 388) sind dieser Entscheidung gefolgt. Der erkennende Senat tritt dieser Auffassung ebenfalls bei.

Das Finanzamt hat im Streitfall mit der Zustellung der Einspruchsentscheidung an den Bf. nach Auffassung des Senats die Grenzen seines Ermessens überschritten. Es ist der Vorinstanz zwar darin zuzustimmen, daß sich der Bf. dabei nicht auf das Urteil des Bundesfinanzhofs II 239/53 U berufen kann, weil der Sachverhalt hier ein anderer ist, wie in dem dort entschiedenen Fall. Der II. Senat hat einen Ermessensmißbrauch des Finanzamts darin gesehen, daß es sich bei gleichliegenden Verhältnissen eine Zeitlang ständig an den Bevollmächtigten, dann aber - ohne ersichtlichen Grund - bei Zustellung der Einspruchsentscheidung an den Steuerpflichtigen selbst gewendet hat. Die Vorinstanz weist mit Recht darauf hin, daß es im Streitfall gerade umgekehrt war. Hier hat das Finanzamt sich stets an den Bf. selbst gewandt, obwohl ihm durch das Schreiben des Bevollmächtigten vom 27. März 1956 bekannt war, daß dieser die Sache für den Bf. bearbeitete. Der Steuerbevollmächtigte hat dieses Verhalten des Finanzamts auch nicht gerügt. Er hat nicht einmal in dem Schreiben vom 26. Oktober 1956, mit dem er Einspruch gegen den Vermögensabgabebescheid einlegte, die Zustellung dieses Bescheides an den Bf. selbst bemängelt, obwohl dadurch die Rechtsmittelfrist des Einspruchs in Lauf gesetzt wurde. Es muß jedoch hier beachtet werden, daß der Einspruch nicht nur vom Bevollmächtigten eingelegt wurde, sondern daß auch das Finanzamt den Bevollmächtigten im Rubrum und in den Gründen der Einspruchsentscheidung ausdrücklich als solchen aufgeführt hat. Damit hat das Finanzamt zu erkennen gegeben, daß es die Bevollmächtigung anerkannte. Bei dieser Sachlage wäre es die Pflicht des Finanzamts gewesen, die Einspruchsentscheidung an den Bevollmächtigten zuzustellen, auch wenn dieser keine schriftliche Vollmacht eingereicht hatte. Die Zustellung nur an den Bf. bedeutet unter diesen Umständen einen Ermessensmißbrauch. Durch diese Zustellung ist die Rechtsmittelfrist des § 245 AO nicht in Lauf gesetzt. Da die Vorentscheidung dies verkannt hat, mußte sie aufgehoben werden. Die Sache geht an das Finanzgericht zurück. Dieses wird über die Berufung in sachlicher Beziehung zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

BStBl III 1963, 600

BFHE 1964, 764

BFHE 77, 764

StRK, VwZG:8 R 4

NJW 1964, 1247

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