Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Wird in einer Rechtsmittelbelehrung eine kürzere als die gesetzmäßige Rechtsmittelfrist eingeräumt, so wird die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt.Zur Frage der Verwirkung im Steuerrecht.

 

Normenkette

AO § 246 Abs. 3, § 237/2; StAnpG § 1

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.) A ist an einer Personengesellschaft mit zwei anderen Gesellschaftern beteiligt. Der Gewinnanteil für das Jahr 1950 belief sich laut Einkommensteuererklärung auf 23.675 DM. Die Eheleute A wurden erklärungsgemäß durch Einkommensteuerbescheid vom 24. Februar 1953, der am gleichen Tage zur Post aufgegeben wurde, zur Einkommensteuer 1950 in Höhe von 6.675 DM veranlagt. Mit Schreiben vom 4. Oktober 1954 beantragte der Bf. unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesfinanzhofs I 163/53 U vom 15. Juni 1954 (Slg. Bd. 59 S. 68, Bundessteuerblatt - BStBl - 1954 III S. 235) die Berücksichtigung eines Verlustes, den er bei einer in der Ostzone betriebenen Firma erlitten habe, an der er mit seinen jetzigen Gesellschaftern in gleichem Umfange beteiligt war. Der Verlust sei im März 1949 durch die Flucht der damaligen Gesellschafter der ostzonalen Firma und durch die hierdurch ausgelöste Enteignung entstanden. Er betrage ausweislich der Steuerbilanz der enteigneten Firma per 31. Dezember 1948 mindestens 622.881 DM-Ost. Mit Schreiben vom 25. November 1954 und 4. April 1955 beantragte der Bf., ihm Nachsicht wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist zu gewähren. Er begründete diesen Antrag damit, daß erst durch das o. a. Urteil I 163ß53 U die Rechtslage wegen der Berücksichtigung ostzonaler, durch Enteignung entstandener Vermögensverluste geklärt worden sei. Weder das Gutachten des Bundesfinanzhofs I D 4/50 S vom 25. Januar 1951 (Slg. Bd. 55 S. 182, BStBl 1951 III S. 68) noch die Einkommensteuer-Richtlinien II/1948 und 1949 hätten die Möglichkeit der Berücksichtigung derartiger auf politischer Grundlage beruhender einmaliger Verluste eröffnet. Der Steuerausschuß lehnte die Gewährung von Nachsicht ab. Mit der Berufung machte der Bf. geltend, daß der Einkommensteuerbescheid nicht rechtskräftig geworden sei, weil in der Rechtsmittelbelehrung entgegen der Bestimmung des § 17 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes vom 3. Juli 1952 vermerkt worden sei, daß die Bekanntgabe mit dem zweiten anstatt mit dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bewirkt gelte.

Das Finanzgericht wies die Berufung als unbegründet zurück. Es sei zwar zuzugeben, daß in der Rechtsmittelbelehrung des Einkommensteuerbescheides ein Fehler enthalten sei; es könne aber nicht anerkannt werden, daß dieser Fehler den Bf. veranlaßt habe, von der Einlegung eines Rechtsmittels abzusehen. Die Bf. seien mit der Steuerfestsetzung, die ihren eigenen Angaben gefolgt sei, einverstanden gewesen; erst durch das Urteil des Bundesfinanzhofs I 163/54 U vom 15. Juni 1954 (a. a. O.) hätten sie erkannt, daß unter Umständen eine Berücksichtigung der ostzonalen Enteignungsverluste möglich gewesen wäre. Die Bestimmung des § 246 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (AO) könne nicht so weit ausgelegt werden, daß ein Fehler in der Rechtsmittelbelehrung, der den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen offensichtlich nicht beschränkt habe, noch nach Jahr und Tag dazu führen könne, die Einkommensteuerveranlagung erneut aufzurollen. In sinngemäßer Anwendung des vom Bundesfinanzhof im Urteil IV 285/51 U vom 30. April 1952 (Slg. Bd. 56 S. 415, BStBl 1952 III S. 162) entwickelten Grundsatzes müsse daher davon ausgegangen werden, daß die Rechtsmittelfrist auch im vorliegenden Falle in Lauf gesetzt worden und am 27. März 1953 abgelaufen sei. Den Antrag auf Nachsichtgewährung wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist hat die Vorentscheidung ebenfalls als unbegründet abgelehnt, da eine spätere Entscheidung des Bundesfinanzhofs kein Grund für die Gewährung von Nachsicht sein könne und die im § 87 Abs. 5 AO bestimmte Frist von einem Jahr bereits verstrichen gewesen sei, als der Bf. mit Schreiben vom 4. Oktober 1954 den Antrag auf Nachsichtgewährung stellte.

Mit der Rechtsbeschwerde (rb.) beantragt der Bf., die Entscheidung des Finanzgerichts aufzuheben. § 246 Abs. 3 AO bestimme eindeutig, daß durch eine unrichtig erteilte Rechtsmittelbelehrung die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt werde; der Einkommensteuerbescheid 1950 sei deshalb noch nicht in Rechtskraft erwachsen. Es handle sich um eine positive Gesetzesbestimmung, die nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen einengend ausgelegt werden könne. Daher sei auch die sinngemäße Anwendung des Urteils des Bundesfinanzhofs IV 285/51 U (a. a. O.) nicht zulässig. Diese Entscheidung behandle einen anderen Tatbestand, bei dem die Rechtsmittelbelehrung einen Fehler zugunsten des Steuerpflichtigen enthalten habe, so daß der Steuerpflichtige tatsächlich nicht schlechte gestellt gewesen sei, als wenn die Rechtsmittelbelehrung richtig erteilt worden wäre. Im Falle des Bf. sei aber die Rechtsmittelfrist zum Nachteil des Bf. falsch bemessen. Das müsse genügen, um die im § 246 Abs. 3 AO festgelegten Rechtsfolgen eintreten zu lassen. Es komme somit nicht darauf an, ob der Fehler den Steuerpflichtigen damals veranlaßt habe, von der Einlegung eines Rechtsmittels abzusehen. Der von der Vorentscheidung erwähnte Grundsatz von Treu und Glauben müsse im vorliegenden Falle, in dem eine Steuer objektiv zu Unrecht erhoben sei, dazu führen, dem Bf. durch Anwendung des § 246 Abs. 3 AO die Möglichkeit zu geben, die Veranlagung 1950 im Rechtsmittelverfahren anzugreifen. Es sei auch nicht richtig, von einem jahrelangen Stillschweigen des Steuerpflichtigen zu sprechen, da er bereits im Oktober 1954 die Anregung gegeben habe, die ostzonalen Verluste zu berücksichtigen.

 

Entscheidungsgründe

Der Rb. muß der Erfolg versagt bleiben.

Es kann zwar dem Finanzgericht nicht gefolgt werden, wenn es in sinngemäßer Anwendung des Urteils IV 285/51 U die Rechtsmittelfrist trotz der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung als in Lauf gesetzt ansieht. Mit Recht wird in der Rb. darauf hingewiesen, daß die Rechtsmittelbelehrung im Gegensatz zu dem Tatbestand des oben erwähnten Urteils zum Nachteil des Bf. unrichtig erteilt worden ist. Der im § 246 Abs. 3 AO im Vordergrunde stehende Rechtsschutz der Steuerpflichtigen darf durch eine zu weitgehende Gesetzesauslegung nicht gefährdet werden. Ist in einer Rechtsmittelbelehrung eine kürzere als die gesetzmäßige Rechtsmittelfrist eingeräumt, so ist die Belehrung geeignet, den Steuerpflichtigen irrezuführen und von der rechtzeitigen Wahrnehmung seiner Rechte abzuhalten; die Rechtsmittelfrist wird deshalb nicht in Lauf gesetzt. Das hat zur Folge, daß der Einkommensteuerbescheid vom 24. Februar 1953 zunächst nicht rechtskräftig geworden ist. Es ist also ein Schwebezustand eingetreten, der jedoch nicht ohne zeitliche Begrenzung sein darf; denn das Interesse der Rechtssicherheit, das sowohl für die Steuerpflichtigen wie für die Steuerverwaltung zu gelten hat, verlangt, daß Verwaltungsakte nicht nach beliebig langer Zeit angefochten werden können. Hier greift der vom früheren Reichsfinanzhof wie auch vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverwaltungsgericht anerkannte Grundsatz der Verwirkung von Anfechtungsrechten ein (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs III A 26/37 vom 24. Juni 1937 - Slg. Bd. 41 S. 303, Mrozek-Kartei, Reichsabgabenordnung 1931 § 253 Rechtssatz 14 -, Urteile des Bundesfinanzhofs IV 192/52 U vom 3. Juli 1952 - Slg. Bd. 56 S. 627, BStBl 1952 III S. 241 (3) -, I 147/52 U vom 23. März 1953 - Slg. Bd. 57 S. 354, BStBl 1953 III S. 140 - und Urteile des Bundesverwaltungsgerichts IV C 237/56 vom 28. Mai 1957 - Deutsches Verwaltungsblatt 1957 S. 646 -, V C 44/54 vom 1. März 1956 - Deutsches Verwaltungsblatt 1956 S. 520, Neue Juristische Wochenschrift 1956 S. 1213 -). Die Bf. waren durch die Rechtsmittelbelehrung auf die Möglichkeit des Einspruchs gegen den Einkommensteuerbescheid hingewiesen worden. Wenn sie erst nach über 1 1/2 Jahren einen Antrag stellten, Ostzonenverluste bei der Veranlagung 1950 zu berücksichtigen, so haben sie durch ihr untätiges Verhalten bei der Steuerbehörde den Anschein erweckt, daß sie den Steuerbescheid als rechtsbeständig anerkennen wollten. Sie setzten sich also mit der späteren Anfechtung zu ihrem früheren Verhalten und auch zu ihren eigenen Angaben in der der Veranlagung zugrunde gelegten Einkommensteuererklärung für 1950 in Widerspruch. Der Grundsatz von Treu und Glauben gebietet aber, daß ein Steuerpflichtiger zu seinen Angaben und zu seinem Verhalten steht, und daß er sich hierzu nicht in Widerspruch setzt. Aus diesem Grunde ist dem Bf. der Einwand der Verwirkung, der eine Auswirkung des Grundsatzes von Treu und Glauben ist, entgegenzuhalten. Mit diesem Grundsatz ist es auch nicht vereinbar, daß sich die Bf. auf einen Fehler des Finanzamts in der Rechtsmittelbelehrung berufen, der für sie seinerzeit völlig bedeutungslos gewesen ist, da sie nach ihren eigenen Angaben veranlagt worden sind und daher keine Veranlassung hatten, gegen den Steuerbescheid Rechtsmittel einzulegen. Hinzu kommt noch die Tatsache, daß sie sich erst mit Schreiben vom 8. September 1955, also nach 2 1/2 Jahren, auf die unrichtige Rechtsmittelbelehrung berufen haben, und zwar zu dem ausgesprochenen Zweck, einen nicht nur von der Steuerbehörde, sondern auch von ihnen selbst als erledigt betrachteten Fall von neuem aufzurollen. Der Vorentscheidung war daher, wenn auch aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten, im Ergebnis beizutreten.

Der Streitwert ist für die Berufung und die Rb. nach der für 1950 festgesetzten Einkommensteuer zu bemessen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408918

BStBl III 1958, 46

BFHE 1958, 118

BFHE 66, 118

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