Entscheidungsstichwort (Thema)

Sonstiges Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Zur rechtlichen Bedeutung der Entfernungsgrenze von 40 Kilometern sowie des Begriffs "zwingende persönliche Gründe" in § 20 Abs. 2 Ziff. 2 Satz 2 LStDV.

Wird die Grenze von 40 Kilometern nur um einige Kilometer überschritten, können die gesamten Fahrtkosten als Werbungskosten geltend gemacht werden.

Wohnt eine minderjährige Tochter im Haus ihrer Eltern, das mehr als 40 Kilometer von ihrer Arbeitsstätte entfernt liegt, weil die Eltern sie im Kreis der Familie behalten wollen, so liegt ein zwingender persönlicher Grund für die Beibehaltung der Wohnung im Elternhaus vor.

GG Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 80 Abs. 1; EStG § 9 Ziff. 4 und § 12 Ziff. 1; LStDV § 20 Abs. 2 Ziff. 2 Satz

 

Normenkette

GG Art. 6 Abs. 1-2, Art. 80/1; EStG § 9 Ziff. 4, § 12 Nr. 1; LStDV § 20 Abs. 2 Ziff. 2

 

Tatbestand

Die 20jährige Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige - Stpfl. -) ist Steuersekretärin bei einem Finanzamt (FA) in H. Sie wohnt bei ihren Eltern in A., 42 km von H. entfernt und fährt regelmäßig um 5.40 Uhr mit dem Zug nach H und kehrt gegen 18 Uhr ins Elternhaus zurück. Die Stpfl. bat im Lohnsteuerjahresausgleich 1964, 10 Monatsfahrkarten II. Klasse zu je 59 DM (= 590 DM), eine Monatsfahrkarte I. Klasse zu 88,50 DM sowie zwei Wochenkarten zu je 16 DM (= 32 DM), insgesamt also 710,50 DM als Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zum Abzug zuzulassen. Sie machte auch einen Mehraufwand für Verpflegung von 360 DM wegen mehr als 12stündiger dienstlicher Abwesenheit geltend.

Das FA erkannte die Fahrtkosten nur bis zur Entfernung von 40 km als Werbungskosten an und ließ demgemäß nur 686,30 DM zum Abzug zu; die 360 DM für Verpflegungsmehraufwand strich es, weil die Stpfl. mehr als 40 km vom Dienstort entfernt wohne. Demgegenüber machte die Stpfl. geltend, sie habe in H. kein Zimmer zu einem angemessenen Preis finden können; sie sei ferner im Streitjahr minderjährig gewesen und habe nicht gegen den Willen ihrer Eltern nach H ziehen dürfen; ihre Eltern legten Wert darauf, daß sie im Familienkreis aufwachse; A. gehöre im übrigen zum Einzugs- und Siedlungsgebiet von H. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Berufung statt und führte aus, Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte seien Werbungskosten im Sinne des § 9 Ziff. 4 des Einkommensteuergesetzes - EStG - (§ 20 Abs. 2 LStDV). Wohne ein Arbeitnehmer mehr als 40 km von seiner Arbeitsstätte entfernt, so seien die Fahrtkosten gemäß § 20 Abs. 2 Ziff. 2 LStDV Werbungskosten, wenn zwingende persönliche Gründe den Arbeitnehmer zur Wahl des Wohnorts veranlaßt hätten. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Die minderjährige Stpfl. lebe im Kreis ihrer Familie. Wenn ein minderjähriges Mädchen die Bindung zur Familie nicht aufgeben wolle, so sei das ein zwingender persönlicher Grund im Sinne des § 20 Abs. 2 Ziff. 2 Satz 2 LStDV. Die Stpfl. könne darum alle Fahrtkosten und auch einen geschätzten Mehraufwand von 360 DM für die Beköstigung am Dienstort wegen mehr als 12stündiger Abwesenheit vom Haus als Werbungskosten abziehen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision, mit der der Vorsteher des FA unrichtige Anwendung der §§ 9 Ziff. 4 und 12 Ziff. 1 EStG, 20 Abs. 2 Ziff. 2 LStDV rügt, ist unbegründet.

Der Senat hat sich zuletzt in den Entscheidungen VI 219/64 vom 18. Februar 1966 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 86 S. 39 - BFH 86, 39 -, BStBl III 1966, 386), VI 305/64 vom 18. Februar 1966 (BFH 86, 85, BStBl III 1966, 385) und VI 103/65 vom 23. Februar 1966 (BFH 85, 512, BStBl III 1966, 470) mit dem Abzug von Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte befaßt. § 9 Ziff. 4 EStG 1955 (und später) läßt für Arbeitnehmer grundsätzlich den unbeschränkten Abzug solcher Kosten zu; im Wortlaut der Vorschrift ist der Abzug nicht auf eine bestimmte Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beschränkt. Die Grenze von 40 km, auf die das FA sich beruft, ist nicht im Gesetz vorgesehen, sondern nur in § 20 Abs. 2 Ziff. 2 Satz 2 LStDV, also in einer Rechtsverordnung. Eine gesetzliche Ermächtigung im Sinne von Art. 80 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), die Grenze von 40 km in einer Rechtsverordnung bindend festzulegen, hat das EStG der Bundesregierung nicht erteilt. Insofern ist § 20 Abs. 2 Ziff. 2 Satz 2 LStDV keine die Steuergerichte bindende Rechtsnorm. Der Senat hat die Vorschrift allerdings bisher als eine zur Abgrenzung von Werbungskosten (§ 9 EStG) und Kosten der Lebensführung (§ 12 Ziff. 1 EStG) vertretbare Auslegung des EStG - in Anlehnung an den früheren Begriff des "Einzugs- und Siedlungsgebiets" unter Berücksichtigung der Fortentwicklung der Verhältnisse - anerkannt (vgl. zuletzt Urteil des Senats VI 40/64 U vom 8. Oktober 1965, BFH 83, 651, BStBl III 1965, 736). Die Bundesregierung ist als Organ der vollziehenden Gewalt auf Grund von Art. 20 Abs. 3 GG berufen, das Gesetz auszulegen (Urteil des Senats VI 51/61 S vom 7. Juli 1961, BFH 73, 456, BStBl III 1961, 433). Die Gerichte sind an diese Gesetzesauslegung der Bundesregierung aber nicht gebunden, weil sie nach Art. 20 Abs. 3 GG selbst das Gesetz auszulegen haben. Der Senat bleibt bei diesen Rechtsgrundsätzen. Für die große Zahl der Fälle bietet die Grenze von 40 km allerdings einen brauchbaren Anhalt. Solange sie aber nicht im Gesetz normativ festgelegt ist - das Gutachten der Einkommensteuer-Kommission in der Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 7, S. 136, hat einen entsprechenden Vorschlag gemacht -, sondern nur das Ergebnis einer Gesetzesauslegung der Bundesregierung ist, kann sie nicht einfach starr angewendet werden. Die Gerichte können, wenn z. B. die Grenze nur um wenige km überschritten ist, nicht, wie das FA will, ohne weiteres die 40 km-Grenze wie eine gesetzliche Grenze handhaben, sondern müssen prüfen, wie nach den Umständen des einzelnen Falles die in Betracht kommenden §§ 9 Ziff. 4 und 12 Ziff. 1 EStG auszulegen sind.

Gegen eine kleinliche und schematische Handhabung der 40 km- Grenze spricht auch, daß die Berechnung dieser Grenze selbst problematisch ist. Beispiel: Ein Steuerpflichtiger wohnt in der Großstadt B. und arbeitet in der westlich von B. gelegenen Großstadt C.; die Entfernung von Stadtgrenze zu Stadtgrenze soll 38 km betragen. Für einen Steuerpflichtigen, der im Osten der Stadt B. wohnt und dessen Arbeitsstätte im Westen der Stadt C. liegt, kann bei dem weiten Gebietsumfang der Großstädte die Entfernung 45 km betragen. Wird derselbe Steuerpflichtige in einen Betrieb versetzt, der im Osten der Stadt C. liegt, so kann sich die Entfernung auf 39 km vermindern. Es ist nicht einzusehen, warum die beiden Fälle bei der Anwendung des § 9 Ziff. 4 EStG verschieden beurteilt werden sollen. Weiteres Beispiel: Benutzt der Steuerpflichtige für seine Fahrten einen Kraftwagen, läßt sich die effektive Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in der Regel verhältnismäßig leicht bestimmen. Benutzt er aber die Bundesbahn und beträgt die Entfernung von Bahnhof zu Bahnhof 35 km, so fragt sich, ob die Grenze von 40 km dadurch überschritten wird, daß der Stpfl. zum Abfahrts- und Ankunftsbahnhof noch eine Straßenbahnfahrt von je 3 km machen muß.

Der Senat braucht zu diesen Zweifelsfragen im Streitfall nicht abschließend Stellung zu nehmen, da die Prozeßbeteiligten übereinstimmend von einer Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 42 km ausgehen und der Senat der Auffassung ist, daß es angesichts der Rechtsnatur der Vorschrift des § 20 Abs. 2 LStDV, soweit es um die Grenze von 40 km geht, nicht sinnvoll wäre, bei einer überschreitung von nur 2 km die aufgewandten Fahrtkosten anteilig zu kürzen, wie es das FA getan hat.

Das FG hat seine Entscheidung vor allem darauf gestützt, daß die Stpfl. aus zwingenden persönlichen Gründen mehr als 40 km von ihrer Arbeitsstätte entfernt gewohnt habe. Dieser Rechtsauslegung des FG tritt der Senat bei. Zum Begriff "zwingende persönliche Gründe" hat der Senat wiederholt, zuletzt in den Urteilen VI 40/64 U, VI 219/64, VI 305/64 und VI 103/65 (a. a. O.) Stellung genommen. Auch dieser Begriff ist nicht im Gesetz selbst enthalten, sondern ist, wie die Festlegung der 40 km-Grenze, das Ergebnis einer Rechtsauslegung der Bundesregierung zu §§ 9 Ziff. 4 und 12 Ziff. 1 EStG. Es ist nicht angebracht, den Begriff "zwingende persönliche Gründe" eng und kleinlich auszulegen. Der Senat hat in den erwähnten neueren Entscheidungen betont, daß die Bürger ein verfassungsrechtlich garantiertes Grundrecht auf freie Wahl von Wohnung und Arbeitsstätte haben und daß den Wertungen des GG auch bei der Auslegung der Steuergesetze im Rahmen des Gesetzes Rechnung zu tragen sei. Nur wenn überwiegend und offensichtlich reine Gründe der persönlichen Lebenshaltung für die weite Entfernung der Wohnung vom Arbeitsort maßgebend sind, greift § 12 Ziff. 1 EStG ein.

Für den Streitfall konnte das FG danach ohne Rechtsverstoß zwingende persönliche Gründe der Stpfl. für die Wahl der Wohnung im Elternhaus annehmen. Wenn die Eltern eine auswärts arbeitende minderjährige Tochter im Familienverband behalten wollen und verlangen, daß die Tochter täglich zur Familie heimkehrt, so haben die Finanzämter diese Entscheidung der Eltern als Erziehungsberechtigte zu respektieren. Eine andere Auslegung würde mit dem in Art. 6 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich garantierten Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder unvereinbar sein. Die Stpfl. nimmt als Tochter die Mühen der täglichen weiten Fahrt und die Reisekosten auf sich, weil sie sich den Anordnungen ihrer Eltern fügt. Die Entscheidung ihrer Eltern ist für sie ein zwingender persönlicher Grund. Die Finanzämter können nicht verlangen, daß sie sich unter Mißachtung der Entscheidung ihrer Eltern aus der Familie löst und eine Wohnung in einer Entfernung von höchstens 40 km von ihrer Arbeitsstätte nimmt. Eine gegenteilige Auslegung würde auch der Wertentscheidung des GG in Art. 6 Abs. 1 der die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, widersprechen.

Zu Recht hat das FG auch den Mehraufwand für Verpflegung mit 360 DM angesetzt, weil die Stpfl. regelmäßig mehr als 12 Stunden abwesend war. Es konnte aus den oben angeführten Gründen zu der Feststellung kommen, daß die mehr als 12stündige Abwesenheit von der Wohnung durch den Beruf der Stpfl. bedingt war.

 

Fundstellen

BStBl III 1967, 95

BFHE 1967, 150

BFHE 87, 150

StRK, EStG:9/4 R 41

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge