Entscheidungsstichwort (Thema)

Gerichtsbekannte Tatsachen

 

Leitsatz (NV)

1. Gerichtsbekannte (offenkundige) Tatsachen bedürfen keines Beweises. Sollen sie vom Gericht jedoch verwertet werden, müssen sie zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs in das Verfahren eingeführt und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden.

2. Eine an einen Sachverhalt, der in den Feststellungen der Vorinstanz keine Stütze findet, anknüpfende Rechtsfrage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung ist in einem künftigen Revisionsverfahren weder entscheidungserheblich noch klärungsfähig.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; AO 1977 § 76 Abs. 2-3; FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1, 3, Abs. 3, § 155; ZPO § 291

 

Tatbestand

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wendet sich gegen die vom Beklagten und Beschwerdegegner (Hauptzollamt - HZA -) wegen Nichtentrichtung der Eingangsabgaben gemäß § 76 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO 1977) verfügte Beschlagnahme von ... Zigaretten polnischer Herkunft der Marke ... und von ... Flaschen russischen Sekts. Der Kläger hatte diese Waren in Berlin auf dem sog. Polen-Markt gekauft.

Beschwerde und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) folgte nach § 105 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) der Begründung der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD).

Ergänzend führte das FG im wesentlichen aus, der Kläger müsse hinsichtlich der unstreitig unverzollten und unversteuerten Handelswaren nicht nur die Sachhaftung (§ 76 Abs. 2 und Abs. 3 AO 1977) dulden, sondern er sei hinsichtlich der darauf lastenden Abgaben nach § 57 Abs. 2 Satz 2 des Zollgesetzes (ZG) i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1031/ 88 des Rates vom 18. April 1988 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 102/5) - Zollschuldnerverordnung - auch weiterer Zollschuldner geworden. Ein genereller Verzicht auf die Abgabenerhebung aus politischen Gründen, etwa infolge Duldung des Polen-Marktes durch den Senat von Berlin, komme nicht in Betracht. Der Kläger könne sich insoweit auch nicht auf einen von dem HZA geschaffenen Vertrauenstatbestand berufen. Dabei könne es dahinstehen, ob überhaupt darauf vertraut werden dürfe, daß Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten nicht verfolgt würden; denn jedenfalls sei gerichtsbekannt, daß der Polen-Markt von Polizei, Steuerfahndung und Zoll überwacht worden sei und in den Grenzen der behördlichen personellen und sachlichen Möglichkeiten Verstöße geahndet worden seien. Darauf habe auch das HZA nochmals sehr eindeutig hingewiesen.

Seine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gegen das finanzgerichtliche Urteil stützt der Kläger zunächst auf grundsätzliche Bedeutung, wobei er allerdings eine entsprechende Rechtsfrage nicht klar formuliert. Er bringt vor, der Staat habe dadurch, daß er den illegalen Polen-Markt toleriert und sogar organisatorische Vorkehrungen zu einem einigermaßen reibungslosen Betrieb getroffen habe, den Anschein erweckt, das Treiben auf dem Markt sei legal, und dadurch einen Vertrauensschutz geschaffen, über den er sich nicht durch Verfolgungsmaßnahmen einzelner Käufer hinwegsetzen dürfe.

Des weiteren rügt der Kläger einen Verfahrensmangel, auf dem das Urteil des FG beruhe. Das FG habe in seinem Urteil, obgleich der Kläger etwas Gegensätzliches vorgetragen habe, ausgeführt, es sei gerichtsbekannt, daß der Polen-Markt von Polizei, Steuerfahndung und Zoll überwacht worden sei, ohne mitzuteilen, woher es diese Tatsachen habe. Sie seien nicht einmal im Urteil angegeben worden. Dadurch sei sein Recht auf Gehör verletzt worden. Hätte das FG die angeblich gerichtsbekannten Tatsachen offenbart, hätte er Gelegenheit gehabt, dazu Stellung zu nehmen, und hätte darlegen können, daß von einem ernsthaften Versuch der Behörden, den Polen-Markt zu unterbinden, überhaupt keine Rede sein könne.

 

Entscheidungsgründe

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht begründet.

1. Der vomKläger ordnungsgemäß geltend gemachte und bezeichnete Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 und Abs. 3 FGO) liegt nicht vor. Das Urteil des FG verletzt das Recht des Klägers auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) nicht.

Gerichtsbekannt oder gerichtskundig sind Tatsachen, die dem Gericht in seiner offiziellen Funktion, z.B. aus früheren oder noch laufenden Verfahren, bekannt geworden sind. Die Gerichtskundigkeit ist ein Unterfall der Offenkundigkeit (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 3. November 1959 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177, 183). Nach § 291 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der über § 155 FGO im finanzgerichtlichen Verfahren sinngemäß anzuwenden ist (Gräber/ Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl. 1987, § 81 Anm. 3), bedürfen offenkundige Tatsachen keines Beweises. Sollen sie vom Gericht bei seiner Entscheidung jedoch verwertet werden, müssen sie zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs vom Gericht in das Verfahren eingeführt und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden (BVerfGE 10, 177, 183).

Im Streitfall brauchte das FG die von ihm als gerichtsbekannt angesehene Tatsache, daß der Polen-Markt von Polizei, Steuerfahndung und Zoll überwacht worden sei und Verstöße gegen Zollbestimmungen im Rahmen der personellen und sachlichen Möglichkeiten der Behörden geahndet worden seien, nicht von sich aus in das Verfahren einzuführen, da diese bereits vom HZA in das Verfahren eingebracht worden war. Hierauf hat das FG in seinem Urteil mit den Worten auch der Beklagte hat darauf nochmals sehr eindeutig hingewiesen sogar ausdrücklich abgestellt. Diese Worte beziehen sich nämlich nach den Umständen eindeutig und auch für den Kläger erkennbar auf das der Klageerwiderung als Anlage beigefügte Heft mit Ablichtungen von Pressemitteilungen und amtlichen Merkblättern, die das HZA als Belege für ein präventives und repressives Einschreiten der staatlichen Stellen gegenüber dem sog. Polen-Markt zusammengestellt hatte. Die Klageerwiderung wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers mit dem Zusatz übersandt, das Anlageheft könne in der Geschäftsstelle des Gerichts eingesehen werden. Lt. Aktenvermerk hat der Klägervertreter an diesem Tag Akteneinsicht genommen. Der Inhalt des Anlagehefts war dem Kläger daher bekannt oder hätte ihm zumindest bekannt sein müssen. Er hatte sonach Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Mehr aber verlangt der Grundsatz des rechtlichen Gehörs bei vom Gericht als offenkundig behandelten und verwerteten Tatsachen nicht (BVerfG-Beschluß vom 19. April 1978 1 BvR 596/77, BVerfGE 48, 206, 209).

2. Auch soweit der Kläger seine Beschwerde auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache stützt (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), kann er nicht durchdringen. Es fehlt an der ordnungsgemäßen Darlegung bereits deshalb, weil der Kläger hierzu einen Sachverhalt vorträgt, der in den Feststellungen der Vorinstanz keine Stütze findet und dessentwegen nicht begründeterweise geltend gemacht ist, die unterbliebene Feststellung beruhe auf einem Verfahrensfehler. Der Kläger geht nämlich davon aus, der Staat habe durch Duldung des sog. Polen-Marktes einen Vertrauenstatbestand geschaffen. Das FG hat gerade unter Hinweis auf die vorstehend (oben 1) erörterte gerichtsbekannte Tatsache das Gegenteil als bewiesen erachtet, ohne daß der Kläger hiergegen einen Verfahrensfehler mit Erfolg geltend gemacht hätte. Unter solchen Umständen ist eine auf einen anderen, vom FG nicht festgestellten Sachverhalt gestützte Rechtsfrage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung in einem künftigen Revisionsverfahren weder entscheidungserheblich noch klärungsfähig (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 10. Mai 1991 V B 142/ 89, BFH/NV 1992, 822).

 

Fundstellen

Haufe-Index 419365

BFH/NV 1994, 326

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