Die Bilanzierung und Bewertung von Rückstellungen ist regelmäßig ein Zankapfel in vielen Betriebsprüfungen. Der Streit wird nicht selten vor den Finanzgerichten ausgetragen. Im Folgenden sollen besonders bedeutsame Entscheidungen aus der jüngeren Vergangenheit vorgestellt werden.

2.1.1 Eigenbetriebliches Interesse kann Außenverpflichtung überlagern

Mit Urteil v. 22.1.2020 (BFH, Urteil v. 22.1.2020, XI R 2/19, BStBl 2020 II S. 493) hat der BFH entschieden, dass ungeachtet einer bestehenden Außenverpflichtung (hier: zur Räumung eines Baustellenlagers bei Vertragsende) die Bildung einer Verbindlichkeitsrückstellung (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB) dann ausscheide, wenn die Verpflichtung in ihrer wirtschaftlichen Belastungswirkung von einem eigenbetrieblichen Interesse vollständig "überlagert" werde.

Dem Urteil des BFH lag (vereinfacht) der folgende Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin, eine GmbH, war im Spezialgerüstbau auf Dauerbaustellen bei Großindustrieanlagen tätig und unterhielt auf den Grundstücken ihrer Auftraggeber jeweils Materiallager. Mit den Betreibern der Anlagen schloss die Klägerin jeweils mehrjährige Rahmenverträge, auf deren Grundlage mit den jeweiligen Auftraggebern Einzelverträge (Abrufe) über konkret zu erbringende Gerüstbauarbeiten geschlossen wurden. Nach den Rahmenverträgen war die Klägerin verpflichtet, nach Vertragsbeendigung die Baustellen zu räumen und in einem ordnungsgemäßen Zustand zu verlassen. Mit den in den Rahmenverträgen vereinbarten Entgelten waren auch die Aufwendungen für die Demontage der Gerüste und für den Abtransport des Gerüstmaterials in ein Zentrallager abgegolten. Für diese Aufwendungen bildete die Klägerin eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten. Sie realisierte ihr Entgelt jeweils nach Abwicklung der Einzelaufträge.

Der BFH lehnte die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ab. Zwar bestehe eine Außenverpflichtung der Klägerin, der sie sich nicht entziehen könne. Allerdings könne es ungeachtet einer ausreichend bestimmten Außenverpflichtung in Betracht kommen, "die wirtschaftlichen Interessen des Leistungsverpflichteten und des Anspruchsberechtigten zu gewichten und im Einzelfall ein sog. eigenbetriebliches Interesse als wirtschaftlich auslösendes Moment der Belastung zu werten." Eine Rückstellung scheide deshalb in Fällen aus, in "denen eine bestehende Außenverpflichtung durch ein eigenbetriebliches Interesse bei wirtschaftlicher Betrachtung vollständig überlagert" werde. Solchenfalls begründe die Drittverpflichtung keine wirtschaftliche Last; vielmehr liege "der Sache nach eine sog. Aufwandsrückstellung" vor. Auch scheide eine Kostenaufteilung und eine Rückstellung – nur – für die anteiligen Räumungskosten "mit Blick auf den einheitlichen und durch das eigenbetriebliche Interesse veranlassten Transportvorgang" aus.

Die Bedeutung des Urteils kann kaum überschätzt werden, weil es ein bislang in der Rechtsprechung nur flankierend bemühtes Merkmal in ein "eigenständiges Ausschlusskriterium" (Negativkriterium) umdeutet und dessen "Anwendungsbereich nun allgemein auf alle Verpflichtungen aus(weitet)" (Kolbe, StuB 2020, S. 583 f.).

Das Urteil überzeugt nicht. Das Negativkriterium ist "ohne Rechtsgrundlage" (Weber-Grellet, FR 2020, S. 783) und unterminiert – sub specie Vollständigkeitsgrundsatz (§ 246 Abs. 1 Satz 1 HGB) – die "Bilanz im Rechtssinne". § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB ordnet an, dass Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden sind. Dieser abstrakte Gesetzesbefehl ist von Rechtsprechung und Literatur durch mehrere Tatbestandsmerkmale konkretisiert worden (z. B. Außenverpflichtung, wirtschaftliche Verursachung etc.). Das Kriterium des "eigenbetrieblichen Interesses" an der Erfüllung einer Außenverpflichtung ist dagegen "eine originäre Erfindung des I. Senats" des BFH (Weber-Grellet, FR 2020, S. 783); es ist ohne Rechtsgrundlage. Sorge bereitet, wie dieses Kriterium in der Praxis der Gesetzesanwendung und Rechtsprechung verlässlich und konsistent beurteilt werden soll. Dies gilt umso mehr, als Ausgaben, die ein Kaufmann tätigt, immer auch im eigenen Interesse erfolgen ("Ein Kaufmann hat nichts zu verschenken").

Eine Rückstellung scheide indes nur aus, wenn die Erfüllung der Verpflichtung durch das eigenbetriebliche Interesse des Kaufmanns "vollständig" überlagert werde, ein (wesentliches) Fremdinteresse an der Erfüllung der Verpflichtung also nicht bestehe. Diese Grenzziehung ist extrem ermessensbehaftet und dürfte in eine unbefriedigende Rechtsprechungskasuistik münden; künftiger Streit in Betriebsprüfungen ist unvermeidlich.

Nachdem der BFH die Rückstellung unter Hinweis auf das Negativkriterium des eigenbetrieblichen Interesses zu Fall gebracht hatte, konnte er offenlassen, "ob im Streitfall die Voraussetzungen für einen sog. Erfüllungsrückstand überhaupt dem Grunde nach erfüllt waren" (BFH, Urteil v. 22.1.2020, XI R 2/19, DStR 2020, S. 1300 Rz. 29). Dies ist u. E. im Streitfall zu bejahen, weil die Pflicht zur Räumung und zum Abtransport der Gerüste durch das Entgelt abgegolten war, das die Klägerin am ...

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