Leitsatz

Ersetzt das FA während eines Klageverfahrens den mit der Klage angefochtenen Haftungsbescheid durch einen anderen Haftungsbescheid, in dem es erstmals seine Ermessenserwägungen erläutert, so wird dieser Bescheid zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens. Im weiteren Verlauf jenes Verfahrens sind die nunmehr angestellten Ermessenserwägungen in vollem Umfang zu berücksichtigen.

 

Normenkette

§ 68 S. 1, § 102 S. 2 FGO

 

Sachverhalt

Der Kläger, ein Verein, veranstaltet Konzerte. Das FA nahm an, dass er in diesem Zusammenhang seiner Verpflichtung zum Steuerabzug gem. § 50a Abs. 4 EStG nicht nachgekommen sei, und erließ deshalb gegen ihn einen Haftungsbescheid über KSt für den Anmeldungszeitraum I/2000. Der Einspruch des Klägers gegen diesen Bescheid hatte keinen Erfolg. Weder der Bescheid selbst noch die Einspruchsentscheidung enthielten Ausführungen zur Ermessensbetätigung.

Der Kläger focht den Haftungsbescheid mit einer Klage an. Daraufhin hob das FA den Bescheid auf. Gleichzeitig erließ es einen neuen Haftungsbescheid, der im Hinblick auf den Haftungsgegenstand und die Haftungsbeträge mit dem ursprünglichen identisch ist. In diesem Bescheid heißt es u.a., der Kläger werde als Haftungsschuldner in An-spruch genommen, weil er den maßgeblichen Vertrag geschlossen und die für die Steuerschuld maßgebliche Vergütung gezahlt habe und weil der Steuerschuldner im Ausland ansässig sei. Von einer Inanspruchnahme des gesetzlichen Vertreters des Klägers werde zunächst abgesehen. Der Bescheid enthält ferner den Hinweis, dass er gem. § 68 FGO zum Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens werde.

Nach Erhalt dieses Bescheids erklärte der Kläger im Klageverfahren den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Das FA gab keine Erledigungserklärung ab. Daraufhin erließ das FG ein Urteil mit dem Tenor, dass sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt habe (Niedersächsisches FG, Urteil vom 06.03.2008, 11 K 300/01, Haufe-Index 1993082, EFG 2008, 1051).

 

Entscheidung

Der BFH sah das anders: Das Klageverfahren sei nicht in der Hauptsache erledigt. Der "Reparaturbescheid" sei unbeschadet des in § 102 S. 2 FGO angeordneten "Nachholverbots" für Ermessenserwägungen in das Klageverfahren überzuleiten. Über diesen Bescheid und seine Rechtmäßigkeit sei deswegen nunmehr im fortzusetzenden Verfahren zu entscheiden.

 

Hinweis

Das Urteil berührt eine durchaus gängige und damit praxisrelevante Verfahrensfrage im Zusammenhang mit Ermessensbescheiden im Allgemeinen und Haftungsbescheiden im Besonderen:

Ergeht ein derartiger Bescheid, so sieht das FA nahezu routinemäßig davon ab, ihn mit speziellen Ermessenserwägungen zu begründen. Das ist oftmals zwar nicht gar so "schlimm", weil die Ermessenserwägungen ja (hoffentlich) tatsächlich im Vorfeld angestellt wurden und es nur versäumt wird, sie auch in dem Bescheid zu dokumentieren. In vielen Fällen spricht dann der Bescheid "für sich selbst" und es bedarf einer solchen Dokumentation nicht. Zu bedenken ist beispielsweise beim sog. Auswahlermessen die Inanspruchnahme eines Steuerausländers durch einen Haftungsbescheid oder bei einer Außenprüfung die auf § 193 AO gestützte Prüfungsanordnung.

Zuweilen verlangt die Rechtsprechung aber doch mehr und verzichtet auf die Ermessenserwägungen im Bescheid selbst nicht. Wird dann (ggf. gerade wegen des Fehlens von Ermessensgründen) gegen den Bescheid Klage erhoben, wird das FA den inkriminierten Bescheid – oft auf Hinweis des Gerichts – aufheben und sogleich einen neuen Bescheid in die Welt setzen, in welchem "nachgebessert" wird.

Ist dann das Klageverfahren erledigt? Oder wird der Neubescheid in dieses Verfahren gem. § 68 S. 1 FGO automatisch übergeleitet? Letzteres ist verfahrensökonomisch, "reibt" sich aber an § 102 S. 2 FGO, der das (erstmalige) Nachbessern von Ermessensgründen im Klageverfahren gerade verbietet.

Der BFH gibt der Verfahrensökonomie dennoch Vorrang: Der Neubescheid wird übergeleitet. Wird die Klage nunmehr – aus Gründen der nachgeholten Ermessenserwägungen – als unbegründet abgewiesen, muss dann ggf. im Rahmen der Kostenentscheidung berücksichtigt werden, dass das FA mit seinem unzulänglichen Erstbescheid Anlass zu der im Ergebnis unnötigen Klage gegeben hat. Dazu ist auf § 137 S. 2 FGO zu verweisen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 16.12.2008 – I R 29/08

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