Entscheidungsstichwort (Thema)

Dreimonatsfrist für Antrag auf Grundsteuererlaß; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung durch Angehörige der steuerberatenden Berufe

 

Leitsatz (NV)

1. Auch wenn einem Steuerpflichtigen erst nach dem 31. März des auf den Erlaßzeitraum (§ 34 Abs. 1 Satz 1 GrStG) folgenden Kalenderjahres ein die ursprüngliche Grundsteuerfestsetzung erhöhender Änderungsbescheid bekanntgegeben wird, kann er innerhalb einer Frist von drei Monaten den Erlaß der die bisherige Steuerschuld übersteigenden (Erhöhungs-)Beträge beantragen; die Antragsfrist beginnt mit der -- wirksamen -- Bekanntgabe des Verwaltungsakts (Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Urteil vom 21. September 1984 -- 8 C 62.82 -- BStBl II 1984, 870).

2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung einer gesetzlichen Frist kommt bei berufsmäßigen Vertretern -- auch soweit sie in eigener Sache tätig werden -- nur ausnahmsweise in Betracht, wenn nämlich die Rechtslage in hohem Maße unsicher ist und die einzuhaltende Frist deshalb versäumt wurde, weil es aus rechtlich vertretbaren Überlegungen unterlassen wird, die Frist zu wahren, sofern nicht trotz der Unsicherheit die Zweifel über die bestehende Frist durch zumutbare Ausschöpfung bestehender Informationsmöglichkeiten ausgeräumt werden konnten.

 

Normenkette

GrStG § 34 Abs. 2 S. 2; AO 1977 § 110 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Hamburg

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) ein Rechtsanspruch auf Grundsteuererlaß für die Kalenderjahre 1984 bis 1987 zusteht.

Der Kläger, ein Rechtsanwalt und Steuerberater, ist Eigentümer einer Wohnung, die sich in einem denkmalgeschützten Gebäude befindet und im Juni 1983 bezugsfertig geworden ist. Diese Wohnung wurde gemäß § 82 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes (II. WoBauG) als steuerbegünstigter Wohnraum anerkannt. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) hat dementsprechend im Wege der Wert- und Artfortschreibung auf den 1. Januar 1984 mit Bescheid vom 13. August 1984 den Einheitswert für die Eigentumswohnung auf ... DM und als Grundstücksart "Einfamilienhaus" festgestellt. Auf der Grundlage dieses Einheitswertbescheides und des mit ihm zusammengefaßten Grundsteuermeßbescheides wurde die Grundsteuer für 1984 auf ... DM und für die Jahre 1985 bis 1987 auf jeweils ... DM festgesetzt.

Nachdem der Anerkennungsbescheid rückwirkend zum 1. Dezember 1983 aufgehoben worden war, erließ das FA am 22. November 1988 einen geänderten Einheitswertsbescheid, in dem der Einheitswert der Wohnung auf den 1. Januar 1984 auf nunmehr ... DM festgestellt wurde. Aufgrund des entsprechend geänderten Grundsteuermeßbescheides erhöhte das zuständige FA die Grundsteuer für 1984 auf ... DM und für die Jahre 1985 bis 1987 auf jeweils ... DM. Sämtliche Bescheide gingen dem Kläger am 28. November 1988 zu.

Seine hiergegen gerichteten Einsprüche vom 23. Dezember 1988 begründete er mit Schriftsätzen vom 28. und 29. März 1989 unter Hinweis auf die Eintragung des Gebäudes in die Denkmalliste. Zugleich beantragte er den Erlaß der Grundsteuer für die Kalenderjahre 1984 bis 1987 wegen Denkmalschutzes und wesentlicher Ertragsminderung. Auf den Einspruch ermäßigte das FA mit Änderungsbescheid vom 26. Juli 1989 den für die Wohnung des Klägers festgestellten Einheitswert auf ... DM und setzte gleichzeitig im Wege der Folgeänderung den Steuermeßbetrag entsprechend herab. Auf die entsprechend geänderten Grundsteuerbescheide, mit denen die Jahressteuerschuld für 1984 auf ... DM und für 1985 bis 1987 auf jeweils ... DM festgesetzt wurde, beantragte der Kläger erneut deren Erlaß. Das FA lehnte die Erlaßanträge des Klägers wegen Versäumung der Antragsfrist ab.

Hiergegen wandte sich der Kläger mit seinem Einspruch vom 21. August 1989, den er im wesentlichen unter Bezugnahme auf seine der Rechtsbehelfsschrift beigefügten Einnahmeüberschußrechnungen begründete. Hilfsweise beantragte er wegen eventueller Versäumung der Erlaßantragsfristen seine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da die Nichteinhaltung einer -- wie hier -- gesetzlich nicht (ausdrücklich) geregelten Frist einen Verschuldensvorwurf nicht rechtfertigen könne. Der Einspruch blieb erfolglos.

Auf die Klage hob das Finanzgericht (FG) die ablehnende Verfügung des FA und die sie bestätigende Einspruchsentscheidung insoweit auf, als das FA den Erlaß der Grundsteuererhöhungsbeträge -- d. h. der Differenz zwischen den ursprünglich fest gesetzten und den später geänderten Jahresschuldbeträgen -- sowie die vom Kläger beantragte Wiedereinsetzung abgelehnt hatte. Darüber hinaus sprach das FG -- bei gleichzeitiger Abweisung der Klage im übrigen -- die Verpflichtung des FA aus, unter Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Differenzbeträge über die Erlaßanträge des Klägers zu entscheiden.

Dabei teilte das FG zwar die Auffassung des FA, daß der Kläger den Erlaß der Grundsteuern für die Kalenderjahre 1984 bis 1987 nicht fristgerecht -- d. h. innerhalb von drei Monaten nach Bekanntgabe der angefochtenen Erhöhungsbescheide -- beantragt habe, verneinte aber hinsichtlich dieser Fristversäumnis ein Verschulden des Klägers.

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung (materiellen) Bundesrechts.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

Zu Unrecht hat das FG unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen das FA verpflichtet, nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erneut über den Erlaßantrag des Klägers zu entscheiden. Der Kläger ist mit der Geltendmachung seines auf § 32 Abs. 1 Nr. 1 des Grundsteuergesetzes (GrStG) gestützten Rechtsanspruchs auf Grundsteuererlaß für die Kalenderjahre 1984 bis 1987 ausgeschlossen.

1. Zutreffend ist die Vorinstanz zunächst davon ausgegangen, daß der Kläger den Erlaß nicht rechtzeitig innerhalb der dreimonatigen Antragsfrist beim FA beantragt hat. Als er nämlich mit Schreiben vom 28. bzw. 29. März 1989 -- erstmalig -- den Erlaß der Grundsteuer(-erhöhungsbeträge) für die Jahre 1984 bis 1987 beantragt hat, war die mit Ablauf des 28. Februar 1989 endende Ausschlußfrist bereits seit einem Monat verstrichen. Dies ergibt sich aus einer analogen Anwendung der in § 34 Abs. 2 Satz 2 GrStG normierten Frist. Nach dieser Bestimmung ist der Antrag auf Grundsteuererlaß nach § 32 GrStG bis zu dem auf den Erlaßzeitraum folgenden 31. März zu stellen. Erlaßzeitraum ist nach der Legaldefinition des § 34 Abs. 1 Satz 1 GrStG das Kalenderjahr, für das die Grundsteuer festgesetzt ist, hier also die Jahre 1984 bis 1987. Da dem Kläger die mit Erhöhungsbescheiden vom 22. November 1988 durchgeführten Änderungsfestsetzungen erst am 28. November 1988 bekanntgegeben, die Grundsteuerbeträge für 1984 bis 1987 somit erst nach dem 31. März des jeweiligen auf den Erlaßzeitraum folgenden Kalenderjahres heraufgesetzt worden sind, wird der vorliegende Sachverhalt durch § 34 Abs. 2 Satz 2 GrStG nicht unmittelbar erfaßt.

Die insofern bestehende -- planwidrige -- Regelungslücke ist jedoch im Wege der Gesetzesanalogie sinnvoll dahingehend zu schließen, daß dem Kläger auch bei späterem (d. h. erst nach dem 31. März des an den Erlaßzeitraum anschließenden Kalenderjahres erfolgendem) Zugang des Grundsteuer(-erhöhungs-)bescheides eine dreimonatige Überlegungs- und Entscheidungsfrist zuzubilligen ist, deren Lauf mit der Bekanntgabe des Verwaltungsakts beginnt. Der Senat schließt sich insoweit der vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in seinem Urteil vom 21. September 1984 8 C 62.82 (BStBl II 1984, 870) vertretenen Auffassung an.

Wenn dort von einer Ingangsetzung einer ... "(neuen) dreimonatigen Ausschlußfrist ... " die Rede ist, kann diese sprachliche Wendung -- entgegen der Auffassung des Klägers -- nur dahingehend verstanden werden, daß auch das BVerwG den Beginn des Fristenlaufs an die Bekanntgabe des Erhöhungsbescheides knüpft.

2. Zutreffend ist die Vorinstanz ferner der Auffassung, daß eine Umdeutung des am 23. Dezember 1988 -- u. a. -- gegen die Grundsteuer(-änderungs-)bescheide 1984 bis 1987 eingelegten Einspruchs in einen -- dann rechtzeitigen -- Erlaßantrag abzulehnen ist.

Die Formulierungen des mit der steuer- (verfahrens-)rechtlichen Terminologie vertrauten Klägers lassen keinen Zweifel an dessen (erklärtem) Willen aufkommen, Rechtsschutz ausschließlich im Wege des Einspruchsverfahrens gegen die schriftsätzlich bezeichneten Verwaltungsakte zu erlangen. Abgesehen von der insoweit klaren Fassung der unmißverständlich als Einspruch überschriebenen Eingabe kann der bloßen Behauptung einer durch Steuer-(änderungs-)bescheid begründeten Beschwer nicht statt dessen oder daneben das andersartige bzw. weitergehende Begehren nach Grundsteuererlaß entnommen werden, wenn -- wie hier -- keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Erlaßsituation vorgetragen sind.

3. Zu Unrecht ist das FG jedoch davon ausgegangen, daß bezüglich der versäumten Erlaßantragsfrist die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung des Klägers in den vorigen Stand (§ 110 der Abgabenordnung -- AO 1977 --) erfüllt sind.

Diese ist nur demjenigen zu gewähren, der ohne sein Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

a) Zwar ist der Argumentation des FG insoweit zu folgen, als es das Vorliegen einer gesetzlichen (Handlungs-)Frist bejaht; dies folgt aus der entsprechenden Anwendung der nicht verlängerbaren gesetzlichen Ausschlußfrist des § 34 Abs. 2 Satz 2 GrStG.

b) Nicht zu teilen vermag der erkennende Senat die Rechtsauffassung der Vorinstanz, der Kläger habe die Frist zur Einreichung seines Erlaßgesuchs schuldlos nicht eingehalten. Verschulden ist nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung anzunehmen, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der von ihm versäumten Frist diejenige Sorgfalt außer acht läßt, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Bürger geboten und ihm nach den Gesamtumständen des konkreten Einzelfalles zuzumuten ist (vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 7. August 1970 VI R 24/67, BFHE 100, 71, BStBl II 1970, 814; Beschluß vom 1. Oktober 1981 IV R 100/80, BFHE 134, 220, BStBl II 1982, 131, 132). Dabei schließt jedes Verschulden -- also auch einfache Fahrlässigkeit -- die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (vgl. BFH-Beschluß vom 24. September 1985 III B 3/85, BFH/NV 1986, 190). Wenngleich wegen der Bedeutung der Wiedereinsetzung für den verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes -- GG --) die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht nicht überspannt werden dürfen (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 8. Oktober 1981 IV R 108/81, BFHE 134, 388, BStBl II 1982, 165, 166 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG --), so ist dennoch allgemein anerkannt, daß bei einem Rechtsanwalt oder sonstigen (Steuer-) Rechtskundigen grundsätzlich ein strengerer Sorgfaltsmaßstab anzulegen ist als bei einem juristischen Laien (Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 1993, § 32 Rdnr. 15; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 10. Aufl. 1991, § 60 Rdnr. 9; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl. 1994, § 110 AO 1977 Tz. 4). Nach der Rechtsprechung begründet daher bei berufsmäßigen Vertretern die mangelnde Kenntnis über verfahrensrechtliche Fristen grundsätzlich einen Verschuldensvorwurf (vgl. hierzu grundlegend: BVerwG-Urteil vom 21. Oktober 1975 VI C 170.73, BVerwGE 49, 252; BFH-Beschluß vom 20. Februar 1990 VII R 125/89, BFHE 159, 573, BStBl II 1990, 546). Ausschlaggebend sind nämlich insoweit -- anders als nach dem objektiven Verschuldensbegriff des § 276 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) -- die besonderen Umstände des individuellen Falles sowie die durch Vorbildung, berufliche Tätigkeit und/oder praktische Erfahrung geprägten persönlichen Verhältnisse (Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Nebengesetze, 17. Aufl. 1995, § 110 AO 1977, Bem. 3; Tipke/Kruse, a. a. O., § 110 AO 1977 Tz. 4).

Deren Berücksichtigung führt im Streitfall zu dem Ergebnis, daß die Versäumung der Erlaßantragsfrist auf einem unentschuldbaren Rechtsirrtum des Klägers über den Beginn des dreimonatigen Fristenlaufs beruht, weil er nicht alle ihm zumutbaren Anstrengungen zur Beseitigung seiner Unkenntnis unternommen hat. Zwar kann nach allgemeiner Ansicht ein Rechtsirrtum über den Inhalt und die Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften -- im Gegensatz zu materiell-rechtlichen Fehlvorstellungen -- eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen, sofern die ihm zugrundeliegende Unkenntnis nicht ihrerseits auf einem Verschulden beruht (vgl. BFH-Urteile vom 8. März 1957 VI 117/55 U, BFHE 64, 509; BStBl III 1957, 190, und vom 14. Juli 1989 III R 54/84, BFHE 158, 273, BStBl II 1989, 1024).

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt aber bei berufsmäßigen Vertretern -- auch soweit sie in eigener Sache tätig werden -- nur ausnahmsweise in Betracht, wenn nämlich die Rechtslage in hohem Maße unsicher ist und die einzuhaltende Frist deshalb versäumt wurde, weil es aus rechtlich vertretbaren Überlegungen unterlassen wird, die Frist zu wahren (vgl. BFH-Urteil vom 14. Dezember 1989 III R 116/85, BFH/NV 1990, 530; siehe auch Urteil vom 21. Oktober 1987 IX R 129, 131/84, BFH/NV 1988, 437), sofern nicht trotz der Unsicherheit die Zweifel über die bestehende Frist durch zumutbare Ausschöpfung bestehender Informationsmöglichkeiten ausgeräumt werden konnten (vgl. Senats-Beschluß vom 17. November 1970 II R 121/70, BFHE 100, 490, sowie Urteil vom 23. Oktober 1986 IV R 21/85, BFH/NV 1987, 412). Ein derartiger Ausnahmefall liegt nicht vor. Dem Kläger war die Entscheidung des BVerwG vom 21. September 1984 bekannt. Zur Beseitigung etwa trotzdem noch bestehender Zweifel an der einzuhaltenden Frist hätte er sich Gewißheit verschaffen müssen, in welcher Weise er mit Sicherheit die Frist wahren kann. Dabei erstreckt sich seine Informationspflicht sowohl auf das Vorhandensein gesetzlicher Vorschriften schlechthin als auch deren Auslegung durch die Gerichte (Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 110 AO 1977 Anm. 46; Tipke/Kruse, a. a. O., § 110 AO 1977 Tz. 14; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 1855/3).

 

Fundstellen

BFH/NV 1996, 358

BB 1996, 255

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Finance Office Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge