Green Governance Insights

Warum Aufsichtsräte ihre Rolle neu denken müssen


Warum Aufsichtsräte ihre Rolle neu denken müssen

In Zukunft sollten fundierte Nachhaltigkeitskompetenzen zum Handwerkszeug jedes Aufsichtsratsmitglieds gehören, meint Anna Katharina Meyer im vierten Teil ihrer Serie „Green Governance Insights“. Warum das so ist und welches Werkzeug gefragt sein wird.

Wer sich heute lediglich um seine kurzfristige Ertragsoptimierung kümmert, ist nicht zukunftsfähig. Immer entscheidender wird es, Geschäftsrisiken zu erkennen und zu vermeiden sowie zukunftsfähige, nachhaltige Geschäftsmodelle und -strategien zu gestalten. Nachhaltigkeitssteuerung im Unternehmen ist dabei längst kein Nebenschauplatz mehr. Sie muss selbstverständlicher Teil der unternehmerischen Steuerung werden.

Steuerung ist operativ, doch sie entsteht (in gut geführten Unternehmen) in engem Austausch mit den obersten Leitungs- und Kontrollebenen. Diese haben unter anderem die Aufgabe, das Unternehmen im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu sehen und Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Dass Unternehmen eine Rolle bei der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung spielen, ist spätestens seit der Verabschiedung der Sustainable Development Goals (SDGs) durch die UN kaum noch umstritten. Die 17 Ziele betonen die Wichtigkeit von Unternehmen. Aufgrund unzureichender freiwilliger Bemühungen werden inzwischen verschiedene Gesetze diskutiert, die Unternehmen für vorhersehbare und vermeidbare Menschenrechts- und Umweltverstöße haftbar machen.

Nachhaltigkeit als „License to lead“

Vor diesem Hintergrund wandelt sich unser Verständnis eines „führenden Unternehmens“. Es geht zunehmend darum, das Geschäft in Einklang mit gesellschaftlichen Interessen und Zielen zu entwickeln – weg vom reinen Shareholder-Fokus hin zum Stakeholder-Return (Peters 2025). Wer praktikable Lösungen für Nachhaltigkeitsherausforderungen in wirtschaftlich tragfähige Lösungen gießen kann, erschließt nicht nur neue Wachstumspotenziale, sondern kann auch an der Neugestaltung der Regeln für eine nachhaltige Wirtschaft mitwirken. Nachhaltigkeit wird zur Notwendigkeit – zur „License to operate“ – und zur „License to lead“ (Falter & Krick 2020). 

Die veränderte Rolle des Aufsichtsrats beim Thema Nachhaltigkeit berührt das traditionelle Modell, bei dem der Vorstand die operative Leitung übernimmt und der Aufsichtsrat primär überwacht und berät. Die aktuelle Regulatorik, auch wenn sie in Teilen zurückgenommen wurde oder in der Schwebe steht, macht jedoch eine aktivere Rolle des Aufsichtsrats unabdingbar. Es geht um Nachhaltigkeitssteuerung und auch um eine Kontrolle von Unternehmen. Bereits seit 2017 muss der Aufsichtsrat börsennotierter Unternehmen etwa die nicht-finanzielle Erklärung freigeben.

Dabei ist ein fundamentaler Wandel in der Steuerungslogik erforderlich, um von transaktionalem Management, das auf kurzfristige Effizienz zielt, zu transformativem Management zu gelangen, das langfristige Nachhaltigkeit strategisch verankert (Meyer et al. 2024). Dies erfordert ein Umdenken und die Bereitschaft, Zielsysteme neu zu denken. Ohne den Buy-in aus der obersten Führungsebene bleibt Nachhaltigkeit oft nur symbolisch (Falter & Krick 2020).

Wirksame Nachhaltigkeitssteuerung durch den Aufsichtsrat

Basierend auf Erkenntnissen zur Integration von Nachhaltigkeit in Entscheidungsprozesse lassen sich drei zentrale Wirkungshebel, angelehnt an Simons (1994), identifizieren, die für die Rolle des Aufsichtsrats bei der Steuerung der Nachhaltigkeit von entscheidender Bedeutung sind:

  1. Belief Systems – Überzeugung und strategische Verankerung: Nachhaltigkeit muss Teil der Identität des Unternehmens und integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie werden. Der Aufsichtsrat spielt eine Schlüsselrolle dabei, diese Überzeugung auf der obersten Ebene zu verankern. Er hat die Aufgabe, den Vorstand in strategischen Angelegenheiten zu beraten, einschließlich der ESG-Kriterien. Es geht darum, strategische Entscheidungen und Investitionsvorhaben kritisch zu hinterfragen und sicherzustellen, dass wichtige Nachhaltigkeitsdimensionen ausreichend berücksichtigt werden. Die Integration von Nachhaltigkeit in die Unternehmensstrategie erfordert Raum für strategische Reflexion und interdisziplinäre Diskussionen. Ausschüsse, wie der Strategie- und Nachhaltigkeitsausschuss der Deutschen Börse können hierfür eine notwendige Struktur bieten, um komplexe Sachverhalte für das Gesamtgremium vorzubereiten. 
  2. Interactive Controls – Räume für Aushandlung und Dialog: Nachhaltigkeitsentscheidungen werden oft dort getroffen, wo Austausch möglich ist und Zielkonflikte sichtbar und handhabbar werden. Interaktive Steuerungssysteme spielen in der Nachhaltigkeitstransformation eine entscheidende Rolle, indem sie den Dialog über Silodenken hinaus ermöglichen. Unternehmen benötigen Formate für strategische Diskussionen über Nachhaltigkeitsfragen zwischen Management, operativen Abteilungen und externen Stakeholdern. Der Aufsichtsrat sollte diesen Dialog suchen und aktiv nichtfinanzielle Aspekte in Diskussionen auf oberster Führungsebene einbringen.
  3. Diagnostic Controls & Transparenz – Orientierung an Daten und Nachvollziehbarkeit: Nachhaltigkeit muss systematisch gemessen und erfasst werden, um den Transformationsprozess gestalten zu können. Dafür sind geeignete Kennzahlen (KPIs) und Indikatorsysteme notwendig. Messung und Erfassung ermöglichen ein konkretes Zielbild und schaffen Sichtbarkeit und Vergleichbarkeit. Der Aufsichtsrat sollte sicherstellen, dass ihm systematische Informationen vorgelegt werden, die eine analytische Betrachtung der Nachhaltigkeit unterstützen.

Die gestiegene Verantwortung des Aufsichtsrats ab 2025

Die finale Verantwortung für die Inhalte der Nachhaltigkeitsberichte liegt beim Aufsichtsrat. Dabei reicht eine reine Plausibilitätsprüfung wie bisher nicht mehr aus (Kurzböck & Caliebe 2023). Der Aufsichtsrat muss die Berichte tiefgreifend auf Vollständigkeit und Korrektheit prüfen. Dies erfordert fundierte Kenntnisse der aktuellen Regulatorik und auch ein grundsätzliches Verständnis von Nachhaltigkeitsthemen. Ein zentraler Punkt ist die doppelte Wesentlichkeitsanalyse, die ab 2025 systematisch geregelt und bindend ist. Der Aufsichtsrat muss die Methodik hinterfragen und sicherstellen, dass sowohl die Auswirkungen des Unternehmens auf Umwelt und Gesellschaft (impact materiality) als auch umgekehrt die Einflüsse von Nachhaltigkeitsthemen auf das Unternehmen (financial materiality) umfassend analysiert und die Ergebnisse in die Unternehmensstrategie integriert werden. 

Der Prüfungsausschuss befasst sich intensiv mit der Rechnungslegung, einschließlich der Konzernnachhaltigkeitserklärung. Eine freiwillige betriebswirtschaftliche Prüfung mit begrenzter Sicherheit der Konzernnachhaltigkeitserklärung, erstellt nach CSRD/ESRS, kann beauftragt werden, wie im Fall der Deutschen Börse AG geschehen. Auch eine entsprechende Organisation des Aufsichtratsgremiums wird notwendig, wie zum Beispiel durch Einrichtung eines „ständigen ESG- oder Nachhaltigkeitsausschusses“. Für diesen muss selbstverständlich ein hinreichender Informationsfluss mit anderen betroffenen Ausschüssen und im Gesamt¬gremium gewährleistet sein, da es die Aufgabe des Gesamtaufsichtsrats ist, die nichtfinanziellen Informationen im Rahmen seiner Abschlussprüfung zu überprüfen und der Hauptversammlung zu berichten (Kurzböck & Caliebe 2023).

Der Aufbau von ESG-Expertise im Aufsichtsrat

Bereits seit 2019 schreibt der Deutsche Corporate Governance Kodex Nachhaltigkeitskompetenzen im Kompetenzprofil des Aufsichtsrat vor und verpflichtet Unternehmen dazu, dies in der Entsprechenserklärung darzustellen. So sollte man sich in jedem Unternehmen die Frage stellen, ob im aktuellen Aufsichtsrat ausreichend fundiertes Wissen über das Thema Nachhaltigkeit besteht. Ist dieses nicht vorhanden, sollten sich Mitglieder des Aufsichtsrates intensiv fortbilden oder es sollten entsprechende Kandidat:innen für den Zeitpunkt von Neubesetzungen identifiziert und angesprochen werden. 

Umfangreiche Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit der aktuellen Regulatorik kann aufgrund der sich rasch verändernden Rahmenbedingungen derzeit kein Aufsichtsrat vollumfänglich besitzen; es ist jedoch leicht erkennbar, in welchen Unternehmen eine entsprechende Zielsetzung besteht und in welchen ein adäquater Umgang mit dem Thema Nachhaltigkeit „eher verschlafen“ wird. Dabei mag Spezialwissen im Prüfungsausschuss verortet sein, grundlegende Kenntnisse und ein systemisches Verständnis von Nachhaltigkeit gehören jedoch zur allgemeinen Überwachungsaufgabe eines Aufsichtsratsmitglieds.

Neben der Berichterstattung und der Überwachung der Kontrollsysteme (einschließlich Risiko-, Compliance- und interner Revisionssysteme, die ESG-Risiken berücksichtigen müssen), hat der Aufsichtsrat auch eine Rolle bei der personellen Weichenstellung und der Anreizgestaltung. Die Vorstandsvergütung sollte auf eine nachhaltige und langfristige Entwicklung des Unternehmens ausgerichtet sein. Gezielte Anreize für nachhaltiges Wachstum können im Vergütungssystem verankert werden. Die Deutsche Börse AG hat im Berichtsjahr 2024 ihr Vergütungssystem für den Vorstand überarbeitet.

Praktische Implikationen und ein Ausblick

Für Aufsichtsräte bedeutet dies eine signifikant gesteigerte Sorgfaltspflicht. Sie müssen sich frühzeitig bei der Nachhaltigkeitsstrategie und der Nachhaltigkeitsberichterstattung einbringen. Die Überprüfung der Angemessenheit interner Kontrollsysteme muss nun zwingend Nachhaltigkeitsaspekte umfassen. Die Verankerung von Nachhaltigkeit in der Strategie und in Zielsystemen erfordert, dass der Aufsichtsrat dies aktiv hinterfragt und einfordert.

Während die Meinungen darüber auseinandergehen, ob ein gesonderter ESG-Ausschuss notwendig ist, ist die effiziente Bearbeitung in Ausschüssen wie dem Prüfungsausschuss oder einem Strategieausschuss entscheidend. Wichtiger als die Ausschussstruktur selbst ist, dass ausreichend Nachhaltigkeitswissen im gesamten Gremium vorhanden ist, um mit dem Vorstand auf Augenhöhe agieren zu können.

Vorschriften einzuhalten ist nicht nur eine Pflicht (Regulatory Compliance), sondern unabdingbar, um die License to Operate zu behalten und Risiken (Finanzierung, Reputation, Geschäft) zu minimieren. Proaktives Management und transparente Berichterstattung können Bußgelder und Reputationsschäden vermeiden. Stakeholder, darunter Kunden, Finanzinstitute und die Öffentlichkeit, üben zunehmend Druck aus und nutzen den Transparenzgrad von Nachhaltigkeitsberichten als Argumentationsgrundlage.

Von der Aufsicht zur aktiven Gestaltung des nachhaltigen Wandels 

Der Aufsichtsrat ist im Bereich Nachhaltigkeit weit mehr als nur ein passiver Überwacher der Rechtstreue des Vorstands. Er ist ein zentraler Akteur bei der Governance, der strategischen Einbettung, der Schaffung und Überwachung notwendiger Steuerungssysteme unter Berücksichtigung aller drei Wirkungsebenen (Belief Systems, Interactive Controls, Diagnostic Controls), der Sicherstellung der Transparenz durch Berichterstattung, sowie der personellen Ausstattung und Anreizgestaltung.

Die regulatorischen Anforderungen erhöhen die Verantwortung des Aufsichtsrats signifikant. Die „Steuerung von Nachhaltigkeit" durch den Aufsichtsrat ist somit nicht im Sinne des operativen Managements zu verstehen, sondern als eine aktive und strategische Einflussnahme, Überwachung des Rahmens und Sicherstellung der Governance, die den Weg für eine nachhaltige Transformation des Unternehmens ebnet. Regulatorische Pflichten sind zwar Herausforderungen, sie bieten aber auch die Chance, Nachhaltigkeit strategisch zu verankern und Wettbewerbsvorteile zu sichern. Unternehmen, die diesen Wandel aktiv gestalten, sichern sich langfristig Resilienz und Zukunftsfähigkeit.

Ausblick: Nachhaltigkeit als Kernkompetenz im Aufsichtsrat

Zukünftig wird fundiertes ESG-Wissen und die Fähigkeit zur Prüfung und Interpretation von Nachhaltigkeitsstrategien und -berichten zum Handwerkszeug jedes Aufsichtsratsmitglieds gehören müssen. Die Komplexität der Anforderungen wird zunehmen, was eine kontinuierliche Fortbildung und Weiterbildung sowie eine effiziente Zusammenarbeit in den Ausschüssen notwendig macht. Die Integration von Nachhaltigkeit in alle Dimensionen der Aufsichtsratstätigkeit ist keine Option mehr, sondern eine strategische Notwendigkeit für den langfristigen Erfolg und die Relevanz des Unternehmens in einer sich wandelnden Welt.

Zu Beginn schrieb ich, was Unternehmen leisten müssen, um zukunftsfähig zu sein. In seiner Keynote beim ersten B2B Kongress der GLS Bank vor wenigen Wochen sagte Dr. Simon Berkler, dass es uns als Entscheidungsträgern in der Wirtschaft nicht alleine darum gehen solle, zukunftsfähig zu sein. Viel eher sollten wir uns zutrauen zukunftsgestaltend zu wirken. Ob im Aufsichtsrat oder an jeder anderen Stelle im Unternehmen. 


Quellen

FACHFRAGEN Podcast: ESG-Experten in Vorstand, Aufsichtsrat und Beirat: von der Kür zur Pflicht?

https://der-betrieb.de/meldungen/fachfragen-podcast-esg-experten-in-vorstand-aufsichtsrat-und-beirat-von-der-kuer-zur-pflicht/

Falter, W., Krick, T. (2020): Aufsichtsratsthema Nachhaltigkeit: eine Frage der unternehmerischen Handlungs- und Wettbewerbsfähigkeit.

https://www.deloittegermany.de/corporate-governance-inside-03-2020/aufsichtsratsthema-nachhaltigkeit

Kurzböck, C., Caliebe, V. (2023): Nachhaltigkeit und Aufsichtsratsarbeit 

https://www.roedl.de/themen/nachhaltigkeit-csr/neue-csr-richtlinienerweiterung-2023-environment-cocial-governance-berichterstattungspflicht

Meyer, A. K., Isaak, A., Weißenberger, B. E. (2024). Re-Examining Control Systems for Integrating Sustainability into Corporate Investment Decisions: Derivation of a Transformation Management Compass. In: Meyer, A. K. (2024): Controlling for Sustainability and Innovation: Control Practices in Startup-Corporate Collaborations, Investment Decisions, and Integrated Sustainability Accounting as Pathways for Transformational Management, 129-169.

Peters (2025): Die Zukunft der ESG im Aufsichtsrat: Verschärfte Anforderungen ab 2025

https://directorsacademy.de/der-aufsichtsrats-blog/die-zukunft-der-esg-im-aufsichtsrat-verschaerfte-anforderungen-ab-2025/

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