Klimastrategien von Großunternehmen – Interview

Vor kurzem veröffentlichte das New Climate Institute den „Corporate Climate Responsibility Monitor 2023“ (CCRM). Darin wurden die Klimastrategien von 24 internationalen Großunternehmen kritisch geprüft. Im Interview spricht Frederic Hans, Klimapolitik-Experte bei dem Think Tank mit Sitz in Berlin, über Reduktionsziele und konkrete Handlungsmöglichkeiten.

Die Klimaschutzziele der von Ihnen untersuchten deutschen Unternehmen sind ambitioniert. So verspricht etwa die Deutsche Post DHL, alle Emissionen bis 2050 netto auf null zu reduzieren. Ist das nicht lobenswert?

Das Problem an Netto-Null-Zielen beziehungsweise Klimaneutralitätszielen ist, dass Unternehmen häufig nicht spezifizieren, welcher Anteil reduziert wird, und welcher kompensiert wird. Man kann dann nicht unabhängig feststellen, was die tatsächliche Intension war. Von den vier deutschen Unternehmen, die wir im Corporate Climate Responsibility Monitor untersuchten, kommunizieren drei nicht, welche Emissionsreduktion ihre langfristigen Netto-Null-Ziele überhaupt bedeuten.

Gibt es also ein Missverhältnis von Reduktion und Kompensation?

In vielen Fällen können wir das gar nicht bewerten, weil gar nicht spezifiziert wird, wie hoch der Anteil der Reduktion sein soll. Wir wissen dann nicht, ob das Verhältnis bei 70/30 oder bei 80/20 steht. Manche Unternehmen benennen klar den Anteil der Reduktion an ihrem Netto-Null-Ziel. Bei der Deutsche Post DHL Gruppe ist das nicht spezifiziert. Und damit bleibt das Ziel sehr vage und wird gleichzeitig sehr stark in den Vordergrund gerückt. Es kann aber gar nicht bewertet werden, ob dahinter wirklich eine hohe Ambition steckt oder nicht.

Der Kritikpunkt an Kompensationen ist, dass suggeriert wird, eine Tonne CO2, die in die Atmosphäre entlassen wird, würde wieder eingefangen und dann für Jahrzehnte und Jahrhunderte eingespeichert. Das ist nicht der Fall, gerade bei den Projekten, die oft im Fokus stehen.

Wiederaufforstung und Biodiversitätsschutz sind ganz wichtige Projekte – sie sind aber nicht geeignet, den Kompensations-Ansatz zu unterstützen. Wir empfehlen daher, klare Reduktionsziele zu setzen.

Emissionen über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg erfassen

Kann man Null-Emissionen ohne Kompensation überhaupt erreichen?

Das „Netto“ im Begriff „Netto-Null“ impliziert, dass kompensiert wird. Würden die Emissionen wirklich bei Null liegen, wäre der Begriff „Null-Emissions-Ziel“ richtig. Die Entscheidung für ein Netto-Null-Ziel ist freiwillig. Das Unternehmen könnte sich zum Beispiel auch ein dezidiertes Reduktionsziel setzen, beispielsweise von neunzig oder hundert Prozent im Einklang mit wissenschaftlichen und sektorspezifischen Reduktionspfaden. Ist die Rede von „Netto-Null“ ist die entscheidende Frage: Wie viel wird reduziert und was ist der Anteil der Kompensation?

Der aktuelle Stand der Diskussion ist, dass Netto-Null-Ziele mit tatsächlichen Emissions-Reduktionszielen unterlegt sein müssen. Da gibt es einen Konsens zwischen dem SBTi Corporate Net-Zero Standard und der Methodik, die wir vorschlagen. Nach unserer Methodik sollte die Kompensation bei der Verwendung eines Netto-Null-Ziels auf maximal 10 Prozent limitiert werden. Das heißt, mindestens 90 Prozent der Emissionen müssen reduziert werden – je nach Sektor sogar mehr. In manchen Sektoren, zum Beispiel im Automobil- oder Energiesektor, müssen wir Emissionen um 95 oder sogar 100 Prozent reduzieren, und das möglichst bald.

Hans, Frederic

Der SBTi Corporate Net-Zero Standard wurde von der Science Based Targets Initiative festgelegt. Im CCRM weisen Sie auf methodologische Unterschiede hin. Wieso schneiden die bewerteten Unternehmen dort teilweise anders ab als im CCRM?

Die Unternehmen, die bei der SBTi unter dem Corporate Net-Zero Standard verifiziert sind, werden auch von uns moderat oder sogar gut bewertet. Der größere Unterschied liegt in den 2030-Zielen, hier gibt es in der Tat abweichende Ergebnisse. Warum ist das so? In unserer Analyse betrachten wir die 2030-Ziele über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Also über Scope 1, Scope 2, Scope 3 und davon Downstream und Upstream. Die SBTi-Verifizierungen für 2030 betrachten dahingegen in den allermeisten Fällen nur Scope 1 und Scope 1 und lassen Scope-3-Emissionen bis jetzt meist aus.

Worauf sollten Unternehmen achten, die das komplette Bild erfassen und integer handeln wollen?

Im ersten Schritt sollten sie alle Emissionen erfassen. Für Emissionen in der Wertschöpfungskette, also Scope 3, ist das etwas schwieriger. Aber auch dafür entstehen Methoden und Tools. Unsicherheiten kann man kommunizieren. Man sollte sie aber nicht als Grund hernehmen, diese Bereiche einfach auszuklammern. Wer Ziele setzt, muss die gesamte Wertschöpfungskette mitdenken. Gerade für die Unternehmen, die wir im CCRM untersuchen, stecken in Scope 3 relevante Emissionen. Und auch diese Emissionen können sie in gewissem Maß selbst beeinflussen. Ein Beispiel sind die Automobilhersteller. Wenn diese nur noch Autos mit Elektroantrieb herstellen, hat das einen konkreten Einfluss auf die Emissionen in der unteren Wertschöpfungskette.

Wenn ein Unternehmen ein „Netto-Null-Ziel“ kommuniziert, muss das die gesamte Wertschöpfungskette umfassen und nicht nur fünf oder zehn Prozent der Gesamtemissionen. Konsumentinnen und Konsumenten, aber auch Investoren, werden das ansonsten falsch verstehen. Nimmt das ein Unternehmen bewusst in Kauf, sehen wir das als nicht integer an.

Transformation zu einer klimafreundlicheren Ökonomie

Sind Unternehmen zu zögerlich, wenn es darum geht, Veränderungen an ihren Geschäftsmodellen vorzunehmen?

Unternehmen schrecken davor zurück, ihr Geschäftsmodell grundlegend zu verändern. Das gilt gerade in den Sektoren, in denen gar kein Weg darum herumführen wird, zum Beispiel in der Fleischproduktion oder der Luftfahrt. Das sind Bereiche, in denen man nicht an zwei, drei kleinen Schrauben drehen kann. Stattdessen müsste eine fundamentale Transformation her. Interessanterweise gibt es aber auch interessante Gegenbeispiele wie das Unternehmen Maersk. Auch manche Stahlunternehmen sind dabei, ihre Geschäftspraktiken grundlegend zu ändern.

All das passiert aber nicht mit der Geschwindigkeit, die der aktuelle Stand der Forschung gebietet. Der Startschuss ist nicht erst jetzt gefallen. Man hätte schon vor zehn Jahren beginnen müssen, Transformationsprozesse einzuläuten und Geschäftsmodelle kompatibel mit dem Pariser Klimaschutzvertrag zu machen.

Wie lässt sich das beschleunigen?

Aus unserer Analyse ziehen wir drei Schlussfolgerungen: Erstens: Allein mit freiwilligen Initiativen kann das Problem nicht gelöst werden. Eine verstärkte Regulierung ist essenziell. Auf EU-Ebene sehen wir diese auch schon kommen, zum Beispiel mit der verpflichtenden Nachhaltigkeitsberichtserstattung. Zweitens: Emissionsreduktion muss jetzt stattfinden, daher ist ein Fokus auf konkrete Handlungen in den nächsten Jahren wichtig. Investitionsentscheidungen werden jetzt getroffen, deshalb sollten wir nicht nur auf 2050 schauen. Und drittens: Unternehmen müssen sich auf transparente und echte Reduktionsziele konzentrieren und diese Aussagen nicht mit Kompensationsvorhaben vermischen. Aktuell ist für Verbraucher nicht transparent, welche Ambitionen ein Unternehmen wirklich hat.

Um die weitreichende Reduktion von Treibhausgas-Emissionen kommen wir also nicht herum. Was passiert dann mittel- und langfristig mit Sektoren, die ihre Emissionen nicht weiter reduzieren können?

Das ist eine entscheidende Frage, die gesellschaftlich thematisiert werden muss. Es gibt de fakto schwer zu dekarbonisierende Sektoren. Fossile Energieträger wie Kohle oder Erdgas gehören dazu – sie sind auf lange Frist inkompatibel mit dem Pariser Klimavertrag. Vor kurzem sahen wir, dass sich ein Mineralölkonzern Netto-Null-Ziele setzte und fossile Treibstoffe als „kohlenstoffneutral“ auf den Markt brachte. Da wird suggeriert, dass diese Treibstoffe keine Emissionen ausstoßen. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Manche Sektoren müssen umsatteln. Es gibt auch andere Energieträger und eine Nachfrage. Ob das jetzt grüner Wasserstoff, Strom oder Wärme aus erneuerbaren Energiequellen ist – die Auswahl ist vielfältig.

Keine Ziele ohne zugehörige Maßnahmen

Vorhin sprachen Sie die dänische Reederei Maersk an. Die Klimastrategie dieses Unternehmens wird zum zweiten Mal in Folge am besten bewertet – sie landet zumindest in der Kategorie „angemessen“. Was unterscheidet diese Strategie von anderen?

Es gibt einige Punkte, die Maersk unserer Meinung nach schon sehr gut macht. Die Kategorie „angemessen“ ist die zweithöchste Kategorie im CCRM. Es gibt also immer noch Verbesserungspotenzial, aber auch schon richtige Ansätze.

Der erste ist: Sie sprechen sehr transparent über ihre Ziele. Also, welche Emissionen umfassen diese Ziele und was bedeutet das konkret? Maersk setzt sich ein Netto-Null-Ziel bis 2040 und untermauert dies mit dem Versprechen, neunzig Prozent der Emissionen im Vergleich zum Jahr 2020 zu reduzieren. Mit dieser Angabe sind sie transparenter als viele andere und können daran gemessen werden. So wird das Ziel für Investoren, Konsumentinnen aber auch für uns als unabhängige Forscher klarer. Der zweite Aspekt, der heraussticht ist, dass Maersk klare Maßnahmen zu diesen Zielen angibt. Es gibt Pläne, aus fossilen Brennstoffen auszusteigen und auf emissionsarme oder emissionsfreie Treibstoffe zu wechseln. In diesem Zusammenhang gibt es auch noch verbesserungswürdige Punkte. Zum Beispiel das Thema Bio-Kraftstoffe, was unserer Einschätzung nach nur eine Zwischenlösung ist.

Emissionsarme und emissionsfreie Kraftstoffe sind für die Logistikbranche spannend. Welche Aspekte sind branchenübergreifend relevant?

Eine Klimastrategie umfasst immer verschiedene Elemente. Viele Komponenten davon sind branchenübergreifend relevant. Dazu gehört zunächst, die Emissionen transparent und vollständig darzustellen. Pro Sektor gibt es unterschiedliche Herausforderungen bei der Berechnung – branchenübergreifend wichtig ist aber, es überhaupt zu machen. Das Gleiche gilt für Zielsetzungen: Natürlich haben unterschiedliche Sektoren unterschiedliche Pfade, auf denen sie sich dekarbonisieren werden. Für alle Branchen ist aber wichtig, dass man sich transparente Ziele setzt und die gesamte Wertschöpfungskette im Blick hat. Ziele müssen klar verständlich sein, zum Beispiel, indem der Emissionsreduktionsansatz gegenüber einem Basisjahr angegeben wird. Die Maßnahmen können sich in den unterschiedlichen Sektoren stark unterscheiden. Aber auch hier geht es darum, klar zu kommunizieren: Welche Maßnahmen ergreifen wir in welchem Umfang auf welcher Zeitschiene? Nur so können die gesetzten Ziele unterfüttert werden.

Transparenz ist also der Schlüssel zu einer seriösen Klimastrategie?

Transparenz ist eine Notwendigkeit. Aber Transparenz allein macht eine Strategie nicht integer. In unserer Analyse gibt es auch Unternehmen, die relativ transparent sind, aber dennoch keine hohe Integrität haben. Transparenz muss von Maßnahmen untermauert werden. Die Ziele sollten außerdem im Einklang mit dem aktuellen Stand der Forschung sein. Das ist der Ausgangspunkt für unsere Analysen: Wir schauen, welche Benchmarks und Standards definiert wurden und klopfen die Unternehmen auf ihre Kompatibilität mit diesen Standards ab.

Vielen Dank für das Gespräch!


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Schlagworte zum Thema:  Klimawandel, Emission, Nachhaltigkeitsmanagement