BFH Kommentierung: Verfassungsmäßigkeit der Nachforderungszinsen

Die Verzinsung von Steuernachforderungen zu dem gesetzlichen Zinssatz von 0,5 % pro Monat = 6 % pro Jahr verstößt weder gegen den Gleichheitsgrundsatz noch gegen das Übermaßverbot.

Hintergrund: Verzinsung einer ESt-Nachzahlung

X gab die ESt-Erklärung für 2011 im Dezember 2012 ab. Er erwartete eine ESt-Nachzahlung von 300.000 EUR, die er auf einem gesonderten Bankkonto bereithielt. Im Juli 2013 erbrachte X im Hinblick auf die drohende Nachzahlung eine freiwilligte Zahlung von 366.400 EUR an das FA. Im September 2013 erging der ESt-Bescheid für 2011. Es ergab sich ein Nachforderungsbetrag von 390.000 EUR. Für diesen Betrag setzte das FA von 0,5 % monatlich für den Zinszeitraum April 2013 bis September 2013 i.H.v. rund 11.000 EUR fest. Später erließ das FA wegen der im Juli 2013 geleisteten freiwilligen Zahlung die Zinsen für August und September 2013. Den Antrag, den Zinsbescheid aufzuheben oder hilfsweise auch die restlichen Zinsen (April bis Juli) zu erlassen, lehnte das FA ab. Dem folgte das FG und wies die Klage ab.

Entscheidung: Keine Vorlage an das BVerfG

Eine Vorlage an das BVerfG zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nach Art. 100 Abs. 1 GG kommt nur in Betracht, wenn ein Gericht von der Verfassungswidrigkeit der Regelung überzeugt ist. An einer solchen Überzeugung fehlt es im Streitfall. Der BFH hält die gesetzlich angeordnete Zinspflicht und die festgelegte Zinshöhe für verfassungsgemäß. Der BFH konnte daher über die Revision entscheiden. Er wies die Revision als unbegründet zurück.

Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG

Der BFH beruft sich im Wesentlichen auf den Beschluss des BVerfG aus 2009 (BVerfG v. 3.9.2009, 1 BvR 2539/97, BFH/NV 2009, 2115). Die Verzinsung von Steuerforderungen und Steuererstattungen nach § 233a AO soll einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens zum Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeiten festgesetzt und fällig werden. Die Regelung beruht auf der typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditätsvorteil und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Die Vollverzinsung dient damit insbesondere auch der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil sie die Unterschiede in der Steuererhebung ausgleicht, die zwischen LSt-Zahlern und veranlagten (selbständigen) ESt-Pflichtigen bestehen.

Außerdem hat das BVerfG auch den Umstand, dass die Vollverzinsung nach § 233a AO gleichermaßen zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen wirkt, als relevanten Sachgrund qualifiziert, der gegen eine Gleichheitswidrigkeit der Zinsbelastung einzelner Steuerpflichtiger durch Nachzahlungszinsen spricht. Ferner ist mit dem BVerfG davon auszugehen, dass sich der Gesetzgeber in Umsetzung dieser Ziele mit § 233a AO im Rahmen seines weiten Spielraums bei der Ausgestaltung eines rechtsstaatlichen und zugleich praktikablen Besteuerungsverfahrens bewegt. Dabei hat das BVerfG insbesondere gebilligt, dass die Regelung grundsätzlich unabhängig davon greift, aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob und inwiefern tatsächlich die Liquiditätsvorteile genutzt wurden (BVerfG v. 3.9.2009, 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115, Rz 24). Es ist daher unerheblich, dass X aufgrund der Bereitstellung des erwarteten Nachzahlungsbetrags auf einem gesonderten Bankkonto tatsächlich keinen oder nur einen geringen Zinsvorteil erlangt hat.

Auch kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Für die bezweckte Abschöpfung von potentiellen Liquiditätsvorteilen müssen die Entscheidungsalternativen des Steuerpflichtigen bei der Finanzierung von Steuernachzahlungen und der Anlage des nicht zu Steuernachzahlungen benötigten Kapitals betrachtet werden. Deshalb ist nicht nur auf die Anlagezinssätze, sondern auch auf die Finanzierungszinssätze abzustellen. Denn der Liquiditätsvorteil kann auch darin bestehen, dass eine im Fall der früheren Festsetzung des Nachzahlungsbetrags notwendige Finanzierung unterbleiben kann. Auf der Grundlage der Daten der Deutschen Bundesbank untersuchte der BFH die Zinssätze für verschiedene kurz- und langfristige Einlagen und Kredite. Hierbei ergaben sich für 2013 Zinssätze in einer Bandbreite von 0,15 % bis 14,70 %. Obwohl der Leitzins der Europäischen Zentralbank bereits seit 2011 auf unter 1 % gefallen war, konnte somit nicht davon ausgegangen werden, dass der gesetzliche Zinssatz die Bandbreite realitätsnaher Referenzwerte verlassen hat.

Kein Anspruch auf Erlass der Zinsen

Das FA war nicht wegen eines ihm zurechenbaren Fehlverhaltens zu einem weitergehenden Erlass der Nachzahlungszinsen verpflichtet. Die Verzinsung nach § 233a AO ist grundsätzlich nicht davon abhängig, ob den Steuerpflichtigen oder das FA ein Verschulden an der verzögerten Festsetzung trifft. Die Verschuldensunabhängigkeit ist bereits im gesetzlichen Tatbestand des § 233a AO angelegt, so dass grundsätzlich kein Anlass besteht, ein Verschulden des FA an der verzögerten Festsetzung als sachlichen Billigkeitsgrund zu qualifizieren.

Hinweis: Gleichheitsverstoß setzt Gruppenvergleichbarkeit voraus

Zum Teil wird der Gleichheitsverstoß damit begründet, Steuerpflichtige, deren Steuer in der 15-monatigen Karenzzeit (§ 233a Abs. 2 AO) in zutreffender Höhe festgesetzt wird, würden anders behandelt, als Steuerpflichtige, denen das FA nach Ablauf der Karenzzeit eine Nachzahlungsverpflichtung auferlegt. Diesen Einwand weist der BFH damit zurück, dass die in § 238 Abs. 1 festgelegte Zinshöhe nur auf Fälle Anwendung findet, in denen dem Grunde nach eine Zinspflicht besteht. Bei der Gruppe, deren Steuer innerhalb der Karenzzeit richtig festgesetzt wird, besteht aber bereits dem Grunde nach keine Zinspflicht. Der Gesetzgeber habe die beiden Gruppen bewusst unterschiedlich ausgestaltet, so dass es schon an einer Vergleichbarkeit der Gruppen fehle.

BFH, Urteil v. 9.11.2017, III R 10/16; veröffentlicht am 28.2.2018