Solidaritätszuschlag nicht verfassungswidrig

Der Solidaritätszuschlag war in den Jahren 2020 und 2021 noch nicht verfassungswidrig. Das SolZG 1995 i.d.F. durch Art. 4 des 2. FamEntlastG vom 1.12.2020 (BGBl I 2020, 2616) verstößt auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 oder Art. 14 GG.

Hintergrund: Musterverfahren zum Solidaritätszuschlag

Die zusammen zur ESt veranlagten Eheleute wenden sich gegen die Festsetzung des SolZ für die Jahre 2020/2021.

Mit ihrer Klage hatten die Eheleute vor dem FG keinen Erfolg. Das FG war der Auffassung, beim SolZ handele es sich um eine Ergänzungsabgabe i.S. des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, deren Erhebung bis 2019 unstreitig nicht verfassungswidrig gewesen sei. Dies gelte auch für 2020 und ab 2021.

Mit ihrer Revision machten die Eheleute geltend, der SolZ sei grundgesetzwidrig. Sie beriefen sich auf das Auslaufen des Solidarpakts II und damit der Aufbauhilfen für die neuen Bundesländer in 2019 sowie die damit zusammenhängende Neuregelung des Länderfinanzausgleichs. Der SolZ dürfe als Ergänzungsabgabe nur ausnahmsweise zur Abdeckung von Bedarfsspitzen erhoben werden. Sein Ausnahmecharakter verbiete eine dauerhafte Erhebung. Neue Zusatzlasten (Coronapandemie, Ukraine-Krieg) könnten den SolZ nicht rechtfertigen. Die Erhebung verletze sie zudem in ihren Grundrechten. Der SolZ stelle seit der in 2021 in Kraft getretenen Änderung eine gleichheitswidrige "Reichensteuer" dar.

Entscheidung: Der BFH bejaht die Verfassungsmäßigkeit des SolZ

Das angefochtene FG-Urteil wurde lediglich aus verfahrensrechtlichen Gründen aufgehoben. In der Sache hatte die Revision jedoch keinen Erfolg und führte zur Abweisung der Klage. Entgegen den überwiegenden Stimmen im juristischen Schrifttum bejaht der BFH die Verfassungsmäßigkeit des SolZ. Im Übrigen sind die angefochtenen SolZ-Bescheide unstreitig rechnerisch zutreffend.

Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes

Mit der Einführung des SolZG 1995 hat der Bund seine Gesetzgebungszuständigkeit nicht überschritten. Zwar darf der Bund unter der Bezeichnung "Ergänzungsabgabe" keine Steuer einführen, die den Vorstellungen des Verfassungsgebers zur Ergänzungsabgabe widerspricht und das finanzielle Ausgleichssystem zu Lasten der Länder verändert. Das ist beim SolZ jedoch nicht der Fall. Er führt mit dem Satz von 5,5 % nicht zur "Aushöhlung" der dem Bund und den Ländern gemeinschaftliche zustehenden ESt und KSt (BFH v. 21.7.2011, II R 72/10, BStBl II 2012, S. 43)

Keine Befristung des SolZ

Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, das SolZG 1995 wegen fehlender zeitlicher Befristung 2020 aufzuheben. Das SolZG 1995 ist (jedenfalls im Streitzeitraum) auch nicht durch bloßen Zeitablauf oder veränderte tatsächliche Umstände verfassungswidrig geworden. Eine Ergänzungsabgabe muss nicht von vornherein befristet werden und der Mehrbedarf für die Ergänzungsabgabe kann sich auch für längere Zeiträume ergeben. Ein dauerhafter Finanzbedarf muss jedoch regelmäßig über die auf Dauer angelegten Steuern erhoben werden. Er darf nicht über eine Ergänzungsabgabe gedeckt werden. Deshalb kann eine verfassungsgemäß beschlossene Ergänzungsabgabe durch Zeitablauf verfassungswidrig werden, wenn sich die Verhältnisse, die für ihre Einführung maßgeblich waren, grundsätzlich ändern oder wenn eine dauerhafte Finanzierungslücke entstanden ist (BFH v. 21.7.2011, II R 72/10, BStBl II 2012, S. 43). Für 2005 und 2007 hat der BFH nicht verlangt, den SolZ zur Deckung von Bedarfsspitzen nicht mehr zu erheben. Diese Grundsätze hat er später auf 2011 übertragen (BFH v.14.11.2018, II R 63/15, BStBl II 2021, S. 184).

Für die Streitjahre 2020 und 2021 gilt (auch wenn weitere neun bzw. zehn Jahre verstrichen sind) im Ergebnis nichts anderes. Der (als fiskalische Begrenzung fungierende) von der Normallage abweichende wiedervereinigungsbedingte Finanzbedarf des Bundes ist auch in den Jahren 2020 und 2021 noch gegeben. Der Gesetzgeber hat in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/14103, S. 1) auf diesen fortbestehenden Bedarf (u.a. im Bereich der Rentenversicherung und des Arbeitsmarkts) hingewiesen und die Verringerung dieses Bedarfs durch die Beschränkung des SolZ auf die Bezieher höherer Einkommen ab 2021 berücksichtigt. Bei einer Generationenaufgabe kann der finanzielle Mehrbedarf des Bundes für einen sehr langen Zeitraum anzuerkennen sein. Dieser Zeitraum ist beim SolZ jedenfalls 26 bzw. 27 Jahre nach seiner Einführung noch nicht abgelaufen. Diese legislative Begründung sieht der BFH zur Rechtfertigung des SolZ als ausreichend an.

Keine "Umwidmung" des SolZ für andere Zwecke

Entgegen der wohl herrschenden Auffassung im Schrifttum geht der BFH somit nicht davon aus, dass der (unbefristet erhobene) SolZ bereits mit dem Auslaufen des Solidarpakts II seine Rechtfertigung verloren hat. Da der ursprüngliche Gesetzeszweck für die Einführung des SolZ auch in den Jahren 2020 und 2021 noch nicht entfallen ist, kommt es auf eine mögliche "Umwidmung" des SolZ für andere Zwecke (Coronapandemie, Ukraine-Krieg) nicht an (BFH v. 21.7.2011, II R 72/10, BStBl II 2012, S. 43, Rz. 28).

Keine Verletzung des Gleichheitssatzes

Dass ab 2021 rund 90 % der Steuerpflichtigen vom SolZ freigestellt sind, ergibt keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Bei Steuern, die an der Leistungsfähigkeit ausgerichtet sind, ist die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte zulässig und geboten. Deshalb kann der Gesetzgeber auch bei einer Ergänzungsabgabe, die im wirtschaftlichen Ergebnis eine Erhöhung der ESt darstellt, solche Erwägungen anstellen. Der Finanzierungszweck als Hauptzweck schließt es nicht aus, dass zugleich Lenkungszwecke und/oder sozialpolitische Zwecke verfolgt werden. Dabei können die Maßstäbe und Kriterien durchaus differieren.

Vor diesem Hintergrund ist die ab 2021 bestehende Staffelung des SolZ (Freigrenze mit Gleitzone) gleichheitsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip gerechtfertigt. Es liegen - im Hinblick auf Differenzierungsziel und Ausmaß der Ungleichbehandlung - angemessene sachliche Gründe vor, die eine willkürliche Differenzierung ausschließen. Der sog. Abschmelzung kann nicht entgegengehalten werden, dass sich die Staffelung nicht unmittelbar aus dem Erhebungszweck der Abgabe (Finanzierung der Wiedervereinigung) ergebe.

Kein Verstoß gegen den Schutz von Ehe und Familie

Der BFH sieht auch keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG. Zwar mag sich aus der Ausgestaltung des SolZ ab 2021 ergeben, dass in bestimmten Fällen die Einzelveranlagung - aufgrund besserer Ausnutzung der Freigrenze (§ 3 Abs. 3 Satz 1 SolZG 1995) - günstiger ist als die Zusammenveranlagung. Derartige Reflexwirkungen sind jedoch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie stellen eine Folge der Wirkungsweise des Ehegattensplittings dar. Ihnen kann durch (Nicht-)Ausübung des Wahlrechts nach § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG begegnet werden. Im Übrigen ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, die Zusammenveranlagung stets günstiger als die Einzelveranlagung auszugestalten.

Kein Verstoß gegen die Eigentumsgarantie

Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen Art. 14 GG vor. Die Steuerbelastung fällt zwar in den Schutzbereich des Eigentums. Der Zugriff auf das Eigentum ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil die Regelungen des SolZG 1995 als Inhalts- und Schrankenbestimmungen i.S. von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG die Belastung ermöglichen (BFH v. 21.7.2011, II R 50/09, BFH/NV 2011, S. 1685, Rz. 45). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht verletzt. Eine übermäßige Belastung besteht bei einem Zuschlag von 5,5 % der Bemessungsgrundlage bei den hier betroffenen höheren Einkommen nicht.

Hinweis: Gang zum BVerfG

Das vorliegende Verfahren wird durch den Bund der Steuerzahler als Musterverfahren unterstützt. Der SolZ ist seit Jahren Gegenstand finanzgerichtlicher Verfahren, in denen es vorwiegend darum geht, für welchen Zeitraum der SolZ noch erhoben werden darf. Von Anfang an bestand Klarheit, dass der BFH nicht Endstation des Verfahrens ist. Hätte der BFH die Verfassungsmäßigkeit bejaht, hätte er das Verfahren dem BVerfG vorlegen müssen, das im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens (Art. 100 GG) hätte prüfen müssen, ob die Regelungen zum SolZ mit dem GG vereinbar sind. Nachdem der BFH nunmehr aber das Urteil des FG bestätigt und die Revision zurückgewiesen hat, verbleibt den Eheleuten jetzt die Möglichkeit, gegen die Entscheidung des BFH Verfassungsbeschwerde zum BVerfG einzulegen. Es ist zu erwarten, dass die Eheleute von der Verfassungsbeschwerde Gebrauch machen und diese innerhalb der Monatsfrist einlegen werden (§§ 90 BVerfG). Die endgültige Entscheidung über das Schicksal des nicht nur rechtlich, sondern auch politisch umstrittenen SolZ wird sich daher noch einige Zeit hinziehen. Dann wird der ungeliebte SolZ vielleicht schon Geschichte sein.     

BFH Urteil vom 17.01.2023 - IX R 15/20 (veröffentlicht am 30.01.2023)

Schlagworte zum Thema:  Solidaritätszuschlag, Grundgesetz