Festsetzungsfrist für die Erbschaftsteuer

Maßgebender Zeitpunkt, zu dem ein testamentarisch eingesetzter Erbe sichere Kenntnis von seiner Erbeinsetzung hat, ist der Zeitpunkt einer Entscheidung des Nachlassgerichts über die Wirksamkeit des Testaments im Erbscheinverfahren, wenn ein anderer möglicher Erbe der Erteilung des Erbscheins entgegentritt.

Gesetzliche Regelungen und Streifrage

  • Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist die Änderung einer Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist, die für die Erbschaftsteuer regelmäßig 4 Jahre beträgt (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Die Steuer entsteht bei Erwerben von Todes wegen mit dem Tode des Erblassers (§ 9 Abs. Nr. 1 ErbStG.
  • Abweichend von § 170 Abs. 1 AO beginnt nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO für die Erbschaftsteuer die Festsetzungsfrist bei einem Erwerb von Todes wegen nicht vor Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Erwerber Kenntnis von dem Erwerb erlangt hat.

Der BFH hatte über die Frage zu entscheiden, ob sich die „Kenntnis“ i. S. d. § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO auf den tatsächlichen und rechtlich richtigen Erwerb bezieht, sodass ein nachträglich gefundenes Testament, welches zu einer abweichenden Aufteilung der Erbmasse führt, eine erneute Anlaufhemmung auslöst.

Sachverhalt: Errichtete Testamente zunächst nicht bekannt

  • Der Kläger ist der Neffe der im November 1988 verstorbenen Erblasserin. Diese hatte mit Testament vom 21.6.1983 den Kläger und dessen Schwester zu gleichen Teilen als Erben eingesetzt. Mit weiterem Testament vom 11.8.1988 hatte sie den Kläger zum Alleinerben bestimmt. Da die Testamente zunächst nicht bekannt waren, wies ein am 5.1.1989 erteilter Erbschein den Kläger und dessen Schwester als Erben zu je ½ aufgrund gesetzlicher Erbfolge aus.
  • Das zuständige Finanzamt setzte mit bestandskräftigem Bescheid vom 5.7.1994 Erbschaftsteuer fest. Dabei ging es davon aus, dass der Kläger hälftiger Erbe aufgrund gesetzlicher Erbfolge geworden ist.
  • Im Mai 2003 legte der Kläger dem Nachlassgericht das von ihm nach der Erteilung des Erbscheins aufgefundene Testament der Erblasserin vom 11.8.1988 vor. Nach der Eröffnung des Testaments beantragte er einen ihn als Alleinerben ausweisenden Erbschein. Dem trat seine Schwester entgegen.
  • Im Erbscheinverfahren erging am 27.9.2007 ein sog. Vorbescheid, mit dem das Nachlassgericht ankündigte, den Erbschein wie vom Kläger beantragt zu erlassen.
  • Die im Anschluss erhobenen Beschwerden der Schwester wurden im Februar 2009 letztinstanzlich zurückgewiesen. Am 7.10.2009 wurde ein Erbschein erteilt, der den Kläger als Alleinerben der Erblasserin ausweist.

Am 22.9.2010 erließ das Finanzamt (FA) einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und setzte gegen den Kläger als Alleinerben höhere Erbschaftsteuer fest. Mit dem Einspruch machte der Kläger im Wesentlichen den Ablauf der Festsetzungsfrist geltend. Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück. Das Finanzgericht (FG) ging davon aus, dass die Festsetzungsfrist bei Erlass des Bescheids vom 22.9.2010 nicht abgelaufen gewesen sei. Es vertrat die Auffassung, für die „Kenntnis von dem Erwerb“ i. S. d. § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO sei der tatsächlich und rechtlich richtige Erwerb – aufgrund des Testaments vom 11.8.1988 – maßgebend. Sichere Kenntnis von seinem Erwerb habe der Kläger erst 2009 mit Abschluss des Verfahrens über die Erteilung des Erbscheins erlangt.

Entscheidung: Noch keine Festsetzungsverjährung bei Erlass des Änderungsbescheids

Bei Erlass des Änderungsbescheids vom 22.9.2010 war noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten.

Zur Kenntnis vom Erwerb

Das FG hat zu Recht angenommen, dass für die „Kenntnis von dem Erwerb“ i. S. d. § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO auf den rechtsgültigen Erwerb abzustellen ist. Es ist aber zu Unrecht davon ausgegangen, dass sichere Kenntnis erst mit rechtskräftigem Abschluss des Erbscheinverfahrens vorliegt.

Im Regelfall Kenntnis erst mit der Eröffnung des Testaments

Ein durch letztwillige Verfügung eingesetzter Erbe erlangt Kenntnis von dem Erwerb, wenn er zuverlässig erfahren und somit Gewissheit erlangt hat, dass der Erblasser ihn durch wirksame letztwillige Verfügung zum Erben eingesetzt hat. Angesichts der Testierfreiheit wird es regelmäßig nicht ausreichen, dass der Erbe das Vorhandensein und den Inhalt eines Testaments kennt. Er muss nach der Sachlage auch davon ausgehen können, dass der Erblasser nicht zu einem späteren Zeitpunkt das Testament aufgehoben oder anderweitig testiert hat. Wegen der nicht ohne weiteres auszuräumenden Ungewissheit darüber, ob der Erblasser ein bekanntes Testament widerrufen oder geändert hat, ist im Regelfall davon auszugehen, dass die Kenntnis erst mit der Eröffnung des Testaments vorliegt.

Kenntnis bei Entscheidung des Nachlassgerichts im Erbscheinverfahren

Beantragt ein durch letztwillige Verfügung eingesetzter Erbe einen Erbschein und tritt ein anderer möglicher Erbe dessen Erteilung entgegen, ist die Kenntnis i. S. d. § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO erst mit der Entscheidung des Nachlassgerichts im Erbscheinverfahren gegeben. Wird durch gerichtliche Entscheidung die Wirksamkeit einer letztwilligen Verfügung festgestellt, hat der darin ausgewiesene Erbe bereits zu diesem Zeitpunkt ausreichend sichere Kenntnis von seiner Einsetzung als Erbe.

Unerheblich ist, ob die Entscheidung des Gerichts mit Rechtsmitteln anfechtbar ist, angefochten wird und welche Entscheidung zu welchem Zeitpunkt ggf. die Rechtsmittelinstanz trifft.

Kenntnis bei später aufgefundenem (neuen) Testament

Zwar ist mit der einmal erlangten Kenntnis von dem Erwerb von Todes wegen die Wirkung des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO verbraucht und eine Verlängerung der Anlaufhemmung nicht mehr möglich. Dies gilt jedoch nur im Hinblick auf den konkreten Rechtsgrund, auf dem der Erwerb von Todes wegen beruht. Ist der Erwerber testamentarischer Erbe, ist Rechtsgrund des Erwerbs die Verfügung von Todes wegen. Für eine Kenntnis von dem Erwerb i. S. d. § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO genügt es somit nicht, dass der Erwerber weiß, dass er überhaupt Erbe geworden ist. Er muss vielmehr Kenntnis von dem vollen auf einen bestimmten Rechtsgrund zurückgehenden Erwerb haben.

Ein aufgefundenes späteres – rechtsgültiges – Testament bildet einen neuen Rechtsgrund für den Erwerb des Erben, sodass dieser für die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO maßgeblich ist.

Festsetzungsfrist im Urteilsfall nicht abgelaufen

  • Der Änderungsbescheid vom 22.9.2010 ist innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist ergangen. Die Festsetzungsfrist begann nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht vor Ablauf des Kalenderjahres zu laufen, in dem der Kläger aufgrund des Erlasses des Vorbescheids des Nachlassgerichts am 27.9.2007 Kenntnis von dem rechtsgültigen Erwerb als Alleinerbe aufgrund des Testaments vom 11.8.1988 erlangt hat.
  • Entgegen der Auffassung des Klägers war die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht durch die Erteilung des Erbscheins im Januar 1989 verbraucht, da dieser auf der gesetzlichen Erbfolge beruhte und nicht – wie der Vorbescheid vom 27.9.2007 – auf dem rechtsgültigen Erwerb aufgrund des Testaments der Erblasserin vom 11.8.1988.
  • Auf die Erteilung des Erbscheins im Jahre 2009 nach rechtskräftigem Abschluss des Erbscheinverfahrens kommt es entgegen der Auffassung des FG nicht an. Die Festsetzungsfrist begann somit mit Ablauf des Jahres 2007 und endete mit Ablauf des Jahres 2011.

Hinweis: Neue Tatsache hat unstreitig vorgelegen

Die Voraussetzungen für eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO waren im Streitfall unstreitig gegeben. Das nach Erlass des Steuerbescheids vom 5.7.1994 aufgefundene Testament der Erblasserin vom 11.8.1988, mit dem der Kläger zum Alleinerben bestimmt wurde, stellt eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache dar, die zu einer höheren Erbschaftsteuer führt.

BFH, Urteil v. 4.6.2025, II R 28/22; veröffentlicht am 30.10.2025

Alle am 30.10.2025 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen