Entscheidungsstichwort (Thema)

Minderung des Arbeitslosengeld II. Verletzung von Pflichten aus dem Eingliederungsverwaltungsakt. Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit des Eingliederungsverwaltungsakts. vor dem Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 festgesetzte Sanktionen auch für Zeiträume danach. Anhörungspflicht. Zusammentreffen mehrerer Sanktionen. Härtefallprüfung. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Im Rahmen der Prüfung einer Sanktion, die auf die Verletzung einer per Eingliederungsverwaltungsakt auferlegten Pflicht zurückgeht, ist ungeachtet der Bestandskraft des Eingliederungsverwaltungsaktes zu beurteilen, ob der Betreffende wirksam und rechtmäßig den im Eingliederungsverwaltungsakt festgelegten Pflichten unterworfen war.

2. Eine vor dem 5.11.2019 festgesetzte, nicht bestandskräftige Sanktion nach § 31 Abs 1 SGB 2 iVm § 31a Abs 1 S 1 SGB 2, die Zeiträume nach dem 5.11.2019 erfasst, verpflichtet nur dann zur (mündlichen) Anhörung und zum Hinweis auf eine Verkürzung bei Bekundung zukünftiger Pflichterfüllung, wenn eine reale Chance auf eine ernsthafte Erklärung zur Mitwirkungsbereitschaft besteht.

3. Minderungen über 30% durch Überschneidung von Sanktionszeiträumen sind nicht per se verfassungswidrig; ggfs erfordert eine daraus resultierende Härte Korrekturen.

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Sanktionsbescheides nach § 31 Abs. 1 SGB II.

Der Kläger bezieht seit 2017 Alg II. Er geht einer Nebentätigkeit als Fahrer auf 165 €-Basis nach.

Wegen versäumter Meldetermine waren Sanktionen nach § 32 SGB II verfügt worden, die den Zeitraum September bis November 2019 bzw. Oktober bis Dezember 2019 erfassten (Bescheid vom 8.8.2019 zum Meldetermin 16.5.2019, sowie Bescheid vom 29.8.2019 zum Meldetermin 23.7.2019).

Außerdem hatte der Beklagte mit Bescheid vom 10.10.2019 eine Sanktion nach § 31 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II verfügt, der die Ablehnung eines zusammen mit einem Eingliederungs-Verwaltungsakt vom 23.7.2019 zugesandten Angebots einer Eingliederungsmaßnahme nach § 16 SGB II i.V.m. § 45 SGB III zugrunde liegt (Coaching für erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit Einkommen).

Die im Hinblick auf die Tätigkeit des Klägers in Teilzeit angebotene Maßnahme, die vom 29.7. bis zum 28.10.2019 laufen sollte, hatte der Kläger im Anhörungsverfahren zur Prüfung einer Sanktion mit den Worten zurückgewiesen, er habe die Maßnahme erst mit Schreiben vom 29.7.2019 zur Kenntnis nehmen können; das Erfordernis einer beruflichen Eingliederung sehe er angesichts der ausgeübten Tätigkeit im Fahrdienst nicht.

Den gegen die Sanktion erhobenen Widerspruch, in dem der Kläger die Maßnahme als „absoluten Witz“ bezeichnete, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5.11.2019 als unbegründet zurück; der Kläger habe keinen wichtigen Grund für die Ablehnung der mit Rechtsfolgenbelehrung extra für berufstätige Leistungsbezieher konzipierten Maßnahme dargelegt.

Hiergegen richtet sich die am 9. Dezember 2019 beim Sozialgericht Berlin erhobene Klage.

Der Kläger macht geltend, die Sanktion sei im Hinblick auf das Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 aufzuheben; er habe die Maßnahme als freiwilliges Angebot gewertet; überdies überschnitten sich im November und Dezember 2019 die Sanktionsfolgen mit einer Gesamtkürzung der Leistungen von 50%. Dies sei trotz der im Bescheid vom 10.10.2019 angebotenen Gutscheine für ergänzende Sachleistungen verfassungswidrig.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Bescheid vom 10.10.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.11.2019 aufzuheben

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Sanktion mit Bescheid vom 29.8.2019 sei aufgehoben worden. Eine Überschneidung geben es nur im Monat November mit insgesamt 40% Leistungsminderung, bedingt durch den bestandskräftigen Sanktionsbescheid vom 8.8.2019.

Ergänzend wird zum übrigen Sach- und Streitstand auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die in Auszügen vorliegende Leistungsakte verwiesen.

Den mit Postzustellungsurkunde bekannt gegebenen Eingliederungs-VA hat der Kläger nicht angefochten.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Sanktion ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Nach Auffassung des erkennenden Gerichts ist im Rahmen der Prüfung einer Sanktion, die auf die Verletzung einer per Eingliederungs-VA auferlegten Pflicht zurückgeht, wie hier, ungeachtet der Bestandskraft des Eingliederungs-VA‚s zu beurteilen, ob der Betreffende wirksam und rechtmäßig den im Eingliederungs-VA festgelegten Pflichten unterworfen war.

Dies folgt aus den strengen Anforderungen, die das BVerfG im Urteil vom 5.11.2019 für die Berechtigung zur Kürzung der Regelbedarfsleistungen vorgegeben hat (so auch schon früher LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.1.2019 - L 11 AS 877/18; s. auch LSG NRW vom 23.5.2019 - L 7 AS 1790/18).

Der hier einschlägige Eingliederungs-VA ist mit Postzustellungsurkunde bekannt gegeben worden und insoweit auch wirksam (§ 39 SGB X)...

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