Rz. 9

§ 4 Abs. 1konkretisiert die sozialpolitischen Ziele des § 1, nach denen behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen (§ 2 Abs. 1) zulasten der Rehabilitationsträger (§ 6) Leistungen beanspruchen können. Zur Erreichung der Teilhabeziele sind nicht Art und Schwere einer Erkrankung, sondern die Art und Ausprägung der Barrieren in Bezug auf die Aktivitäten und die Partizipation maßgebend. Dabei ist entsprechend der Zielsetzung der ICF (vgl. Komm. zu § 2) der gesamte Lebenskontext der betreffenden Person zu berücksichtigen; darunter versteht man u. a. die vorhandenen und nicht vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten der Um- und Mitwelt (Wohn-, Lebens- und Familienverhältnisse usw.) und die eigene Persönlichkeit in Bezug auf ihre Gedanken, Schulbildung, Herkunft, Religion usw. Näheres hierzu vgl. Komm. zu § 2 Abs. 1.

2.4.1 Beeinflussung der Behinderung (Abs. 1 Nr. 1)

 

Rz. 10

Das in Nr. 1 genannte Ziel verpflichtet die Rehabilitationsträger, im Rahmen ihrer Zuständigkeit (vgl. §§ 5, 6) Teilhabeleistungen zu erbringen, um

  • eine drohende Behinderung (§ 2 Abs. 1) abzuwenden oder
  • die bereits eingetretene Behinderung (§ 2 Abs. 1) zu beseitigen bzw. zu mindern oder
  • eine Verschlimmerung der Behinderung nach ihrem Eintritt zu verhüten oder
  • die Folgen der Behinderung (z. B. bei der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft oder bei der Bewältigung des Alltags wie Kleidung anziehen, Selbstversorgung usw.) zu mindern.

Eines dieser sozialpolitischen Ziele reicht aus, um die Leistungspflicht der Rehabilitationsträger zu begründen.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

 

Rz. 10a

Im heutigen Sprachgebrauch versteht man unter Behinderung eine Abweichung der Gesundheit, welche nicht nur vorübergehend (= mehr als 6 Monate) Barrieren aufbaut, die den betreffenden Menschen daran hindern, wie ein gesunder Mensch am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Danach zählen zu den Menschen mit Behinderungen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Das Ziel ist die menschenrechtlich begründete volle und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen – zumindest im Bereich des unmittelbaren Behindertenausgleichs (vgl. hierzu Rz. 5a bis 5c).

Ob eine Behinderung vorliegt, wird durch den zuständigen Rehabilitationsträger festgestellt. Er hat nach Feststellung der Behinderung/des Teilhabebedarfs aufgrund trägerspezifischer Leistungsvorschriften individuell über die Leistungen und sonstigen Hilfen, die zur Erreichung/Wiedererlangung der Partizipation in allen Lebensbereichen des betroffenen Menschen notwendig sind, zu entscheiden.

2.4.2 Erwerbsfähigkeit/Pflegebedürftigkeit (Abs. 1 Nr. 2)

 

Rz. 11

Während § 4 Abs. 1 Nr. 1 allgemein auf die Vermeidung, Minderung oder Beseitigung einer drohenden bzw. bereits eingetretenen Behinderung (Teilhabestörung) und auf die Vermeidung ihrer negativen Folgen abstellt, verpflichtet Nr. 2 die Rehabilitationsträger dazu, alles zu tun, um

a) die Erwerbsfähigkeit und
b) die Pflegebedürftigkeit

günstig zu beeinflussen. Dieses Aufgabenfeld der Rehabilitationsträger umfasst auch den noch einmal ausdrücklich in § 9 SGB IX, § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, § 31 SGB XI aufgeführten Grundsatz "Rehabilitation vor Rente bzw. Rehabilitation vor Pflege".

Als weiteres Ziel wird

c) die Vermeidung oder Minderung von Sozialleistungen

beschrieben.

 

Rz. 12

Zu a)

In Rechtsprechung, Literatur und Praxis versteht man unter Erwerbsfähigkeit übereinstimmend die "Fähigkeit des Versicherten, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen gesamten Erkenntnissen und körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, Erwerbseinkommen zu erzielen" (vgl. BSG, Urteil v. 19.7.1963, SozR § 1246 Nr. 27). Nach Auffassung des SG Lüneburg ist ergänzend hierzu derjenige erwerbsfähig, wer "ein kalkulierbares Maß an Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit in ein Arbeitsverhältnis unter Wettbewerbsbedingungen einbringen kann" (Beschluss v. 7.7.2015, S 33 R 226/15 ER).

Bei den Rehabilitationsträgern wird der Begriff der Erwerbsfähigkeit trägerspeziell unterschiedlich definiert. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden, weil sich die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen richtet (BSG, Urteil v. 20.7.2005, B 1 KR 39/05; vgl. auch BSG, Urteil v. 26.3.2003, B 3 KR 23/02 R).

So ist in der gesetzlichen Unfallversicherung erwerbsfähig, wer die Fähigkeit besitzt, seine Arbeitskraft wirtschaftlich zu verwerten. Erwerbsgemindert ist ein Unfallversicherter mit Blick auf § 56 SGB VII dann, wenn die Einschränkungen mehr al...

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