Rz. 108

Abs. 3 enthält die bereits vom BVerfG entwickelte außergewöhnliche Härte, bei deren Vorliegen im Einzelfall keine Leistungsminderung erfolgen darf. Nach dem Urteil des BVerfG war die Vorgabe in § 31a Abs. 1 Satz 1 a. F., den Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung zwingend zu mindern, unzumutbar. Die Regelung stellte in der beurteilten Fassung nicht sicher, dass Leistungsminderungen ausnahmsweise unterbleiben können, wenn sie außergewöhnliche Härten bewirken, insbesondere weil sie in der Gesamtbetrachtung untragbar erscheinen. Eine solche Ausnahmekonstellation liegt nicht schon allein deshalb vor, weil sich die Betroffenen schlicht weigern, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken, und damit wissentlich die Vorenthaltung staatlicher Leistungen in Kauf nehmen. Vielmehr muss der Gesetzgeber der Ausnahmesituation Rechnung tragen, in der es Menschen zwar an sich möglich war, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheint, die Nichterfüllung mit Leistungsminderungen zu belegen, insbesondere weil nach Einschätzung des Jobcenters auch im Rahmen eines vom Gesetzgeber einräumbaren Beurteilungsspielraums die Ziele des SGB II nur erreicht werden können, indem eine Leistungsminderung unterbleibt. Zwar sieht es das BVerfG als dem Gesetzgeber unbenommen an, mit einer klaren Minderungsregelung auch die klare Botschaft zu verbinden, dass Mitwirkungspflichten auch durchgesetzt werden. Er muss jedoch erkennbaren Ausnahmekonstellationen Rechnung tragen. Dazu hatte der Gesetzgeber nach den Urteilsgründen mehrere Möglichkeiten, die Zumutbarkeit einer Leistungsminderung im konkreten Einzelfall zu sichern. So konnte er die Leistungsminderung in das Ermessen der zuständigen Behörde stellen, das Jobcenter also dann von ihr absehen kann, wenn die Leistungsminderung erkennbar ungeeignet ist. Dem Gesetzgeber sind Ermessensregelungen im Zusammenhang mit Leistungsminderungen nach §§ 31 bis 31b a. F. demnach auch nicht fremd gewesen, wie § 31a Abs. 1 Satz 6 a. F. und § 31b Abs. 1 Satz 4 a. F. ebenso wie § 66 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB I verdeutlichen. Er konnte die Zumutbarkeit der Leistungsminderung im Einzelfall aber auch durch eine Härtefallregelung sicherstellen, die es der Behörde ermöglicht, von einer unzumutbaren Leistungsminderung abzusehen (BVerfG, Urteil v. 5.11.2019, 1 BvL 7/16, Rz. 184, 185). Nachdem schon in der Übergangszeit bis zur Neuregelung mit Wirkung zum 1.1.2023 das Instrument der Härteregelung anzuwenden war (durch Weisung an die Jobcenter in Abstimmung mit dem BMAS), wurde auch im Bürgergeld-Gesetz die außergewöhnliche Härte dafür gewählt, bei Unzumutbarkeit von der Leistungsminderung abzusehen.

 

Rz. 109

Eine für den Betroffenen entstehende Härte ist ein unbestimmter, gerichtlich voll überprüfbarer Rechtsbegriff. Sie allein genügt nach Abs. 3 aber nicht von dem zwingenden Absehen von der Feststellung der Leistungsminderung, hinzukommen muss die Außergewöhnlichkeit der Härte. Aus der Verwaltungspraxis und der Instanzrechtsprechung zur Umsetzung der Rechtsprechung des BVerfG liegen noch keine ausreichenden Erfahrungen vor, auf die sich betroffene Bürger oder auch das Jobcenter zuverlässig berufen könnten. Das dürfte an den Auswirkungen der Corona-Pandemie ebenso liegen wie an dem bis zum 31.12.2022 andauernden Sanktionsmoratorium. Abs. 3 stellt auf den Einzelfall und darauf ab, dass die Folgen der Leistungsminderung zur außergewöhnlichen Härte führen, also nicht der Minderungstatbestand selbst.

 

Rz. 110

Anders als im Übergangszeitraum nach der Entscheidung des BVerfG v. 5.11.2019 ist die Rechtsfolge des Abs. 3 zwingend. Insofern kommt es allein auf die Prüfung und Feststellung oder Verneinung der außergewöhnlichen Härte an.

 

Rz. 111

Das BVerfG hat Auslegungshilfen zur außergewöhnlichen Härte im Urteil selbst gegeben. Minderungen müssen unterbleiben, wenn sie nach Einschätzung des Jobcenters von vornherein offensichtlich ungeeignet dazu oder gar kontraproduktiv sind, ihr Ziel zu erreichen. Dazu weist das BVerfG darauf hin, dass insbesondere bei Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen und oft erheblichen psychischen Problemen im Einzelfall erkennbar sein kann, dass Leistungsminderungen die gewünschten Durchsetzungs- und Integrationseffekte nicht erreichen, nicht mehr erreichen oder nicht zu diesem Zeitpunkt erreichen. Umgekehrt liegt eine Ausnahmekonstellation nicht schon allein deshalb vor, weil sich die Betroffenen schlicht weigern, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken und damit wissentlich die Vorenthaltung staatlicher Leistungen in Kauf nehmen.

 

Rz. 112

Vor diesem Hintergrund muss sich das Jobcenter der außergewöhnlichen Härte vorsichtig nähern. Sie bezieht sich auf die Folgen der Leistungsminderung, die festzustellen wäre. Der außergewöhnlichen Härte kann aber auch eine atypische Ausgangslage zugrunde liegen. Bei dieser ist zu berücksichtigen, dass sich di...

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