Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss wegen Unterbringung in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Haftunterbrechung wegen stationärer Behandlung im Krankenhaus. Rückausnahme. Prognoseentscheidung. keine Zusammenrechnung der Aufenthaltszeiten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Während einer Haftunterbrechung iS von § 455 Abs 4 StPO liegt kein Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung iS von § 7 Abs 4 S 2 SGB II vor.

2. Befindet sich eine SGB II-Leistungen begehrende Person während der Haftunterbrechung nach § 455 Abs 4 StPO in einem Krankenhaus (§ 107 SGB V), ist bei der wegen § 7 Abs 4 S 3 Nr 1 SGB II (Rückausnahme zum Leistungsausschluss) zu prognostizierenden Dauer dieses Aufenthalts allein auf die voraussichtliche Dauer der Unterbringung im Krankenhaus abzustellen. Die vorhergehende oder nachfolgende Verbüßung der Freiheitsstrafe kann nicht berücksichtigt werden.

3. Die Rückausnahme des § 7 Abs 4 S 3 Nr 1 SGB II will nach ihrem Regelungszweck zur klaren Abgrenzung der Existenzsicherungssysteme des SGB II und des SGB XII einen Wechsel aus dem Leistungssystem des SGB II in das des SGB XII bei einer nur absehbar kurzzeitigen Krankenhausunterbringung vermeiden. In den Blick zu nehmen ist deshalb bei der am Zeitpunkt der Aufnahme der SGB II-Leistungen begehrenden Person in das Krankenhaus auszurichtenden Prognoseentscheidung auch, ob die betreffende Person sich schon vor dieser Aufnahme im Leistungssystem des SGB XII befand, ob sich also die Frage der Vermeidung eines Wechsels zwischen den existenzsichernden Leistungssystemen überhaupt stellt (Anschluss an BSG, Urteil vom 12.11.2015 - B 14 AS 6/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 45).

 

Tenor

Die Berufung wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wird: Der Bescheid des Beklagten vom 9. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Februar 2012 wird abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für die Zeiten der Strafunterbrechungen vom 18. November bis zum 7. Dezember 2011 sowie vom 8. bis zum 14. Dezember 2011 zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist noch streitig, ob der Kläger für den Zeitraum vom 18. November bis 14. Dezember 2011 Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) hat.

Der 1964 geborene Kläger stand laufend bis 31. Oktober 2010 bei der Rechtsvorgängerin des Beklagten, der ARGE SGB II Halle GmbH (nachfolgend einheitlich: Beklagter), im Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Einen Folgeantrag stellte er nicht. Vom 4. bis 30. Dezember 2010 und ab 16. März 2011 befand er sich in Haft und bezog während dieser Zeiten keine Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII). In den Monaten November und Dezember 2011 verfügte der Kläger weder über Einkommen noch über nennenswertes Vermögen.

Am 8. September 2011 bestellte das Amtsgericht Halle (Saale) die Berufsbetreuerin Z.-K. (nachfolgend: Betreuerin) zur Betreuerin des Klägers mit dem Aufgabenkreis Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten und Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten.

Mit Schreiben vom 30. September 2011, zugegangen am 5. Oktober 2011, teilte die Betreuerin dem Beklagten mit, dass der Kläger am 18. Oktober 2011 entlassen werde, sie dessen Hilfebedürftigkeit anzeige und um Zusendung des Antragsformulars bitte. Dieses versandte der Beklagte mit Schreiben vom 7. Oktober 2011 an die Betreuerin. Nachdem kein Rücklauf der Unterlagen zu verzeichnen war, versagte er mit Bescheid vom 21. Oktober 2011 die Leistungen ab 18. Oktober 2011 auf Grundlage der §§ 60 und 61 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) ganz. Mit Schreiben 29. Oktober 2011 informierte die Betreuerin den Beklagten, dass die Haft des Klägers um weitere sechs Monate verlängert worden sei.

Am 15. November 2011 musste sich der Kläger in stationäre Behandlung begeben. Mit am selben Tag zugegangenem Schreiben an die Justizvollzugsanstalt (JVA) H. vom 18. November 2011 teilte die Staatsanwaltschaft (StA) Halle mit, dass der Vollzug der Freiheitsstrafe und Gesamtfreiheitsstrafen gem. § 455 Abs. 4 der Strafprozessordnung (StPO) mit Eingang des Schreibens für die Dauer der stationären Behandlung unterbrochen sei. Wegen des weiteren Inhalts des Schreibens wird auf Bl. 12 der Gerichtsakten verwiesen.

Am 21. November 2011 teilte die Betreuerin dem Beklagten mit: Der Kläger sei am 18. November 2011 aufgrund eines akuten gesundheitlichen Zustands aus der JVA H. in das Universitätsklinikum H. gebracht worden und befinde sich dort zur weiteren Diagnostik. Durch die StA Halle sei eine Haftunterbrechung veranlasst worden, sodass der Kläger nicht mehr über die JVA krankenversichert sei. Sie zeige dahe...

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