Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensmangel. Gesetzesverletzung. Ursächlichkeit. Befangenheit. Ablehnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die nach § 547 unwiderlegbare Vermutung für die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung gilt in nach § 202 SGG entsprechender Anwendung auch für den Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG.

2. § 547 Nr. 3 ZPO i.V.m. § 202 SGG gilt sinngemäß auch für den Fall, dass schon vor Fällung des angefochtenen Urteils der Richter abgelehnt worden und der Grund für die Besorgnis der Befangenheit entstanden ist, das Ablehnungsgesuch aber erst nach Erlass des Urteils für begründet erklärt werden konnte, weil der abgelehnte Richter das Ablehnungsgesuch unter Verstoß gegen § 47 ZPO und § 60 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegen hat.

 

Normenkette

SGG § 144 Abs. 2 Nr. 3, § 202; ZPO § 547 Nr. 3 i.d.F. des ZPO-RG, § 551 Nr. 3 a.F.; SGG § 60 Abs. 1 S. 1; ZPO § 47

 

Verfahrensgang

SG Halle (Saale) (Urteil vom 30.06.1999)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 30. Juni 1999 wird zugelassen.

 

Tatbestand

I.

In der Hauptsache ist die Verpflichtung des Klägers zu einer Zuzahlung zu medizinischen Leistungen der Rehabilitation in Höhe von 286,32 EUR (560 DM) streitig.

Im erstinstanzlichen Verfahren hat der Kläger den Vorsitzenden der zuständigen Kammer des Sozialgerichts Halle mit Eingangsdatum vom 7. Juni 1999 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. In der mündlichen Verhandlung vom 30. Juni 1999, zu der der Kläger nicht erschienen ist, hat die Kammer das Ablehnungsgesuch unter Vorsitz des abgelehnten Richters durch Beschluss als unzulässig zurückgewiesen. Sie hat sodann in derselben Besetzung nach geheimer Beratung durch noch im gleichen Termin verkündetes Urteil die Klage abgewiesen. Dem Urteil ist die Rechtsmittelbelehrung für nicht mit der Berufung anfechtbare Urteile beigefügt. Es ist dem Kläger am 22. Juli 1999 zugestellt worden.

Der Kläger hat mit am 9. August 1999 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingegangenem Schreiben gegen die Nichtzulassung der Berufung Beschwerde eingelegt. Er hat sinngemäß gerügt, der abgelehnte Richter habe seine Befugnisse überschritten. Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Die vom Kläger zugleich gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 30. Juni 1999 eingelegte Beschwerde hatte Erfolg. Der Senat hat mit Beschluss vom 30. Juni 2000 – L 1 B 1/00 RA –, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, den Beschluss des Sozialgerichts aufgehoben und das nach seiner Auffassung zulässige Ablehnungsgesuch für begründet erklärt. Er hat das die Besorgnis der Befangenheit begründende Verhalten des abgelehnten Richters in dessen Behandlung des Ablehnungsgesuchs gesehen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet, weil der Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG vorliegt. Im ersten Rechtszug hat der zuvor wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnte Vorsitzende der Kammer unter Verletzung seiner Wartepflicht nach § 60 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 47 Zivilprozessordnung (ZPO) an der Fällung des Urteils mitgewirkt. Nach Auffassung des Senats ist im vorliegenden Fall unwiderlegbar zu vermuten, dass das Urteil des Sozialgerichts auf diesem Verfahrensmangel beruht, weil darüber hinaus ein unbedingter („absoluter”) Verfahrensmangel vorliegt, der als solcher von Amts wegen zu berücksichtigen ist.

Die Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensmangels setzt zwar nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG voraus, dass die Entscheidung des Sozialgerichts auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Dies gilt an sich auch für einen Verstoß gegen § 47 ZPO. Nach § 547 ZPO in der Fassung des am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Zivilprozessreformgesetzes (ZPO-RG) vom 27.7.2001 (BGBl. I S. 1887), der § 551 in der zuvor geltenden Fassung der ZPO entspricht, ist aber in den dort aufgezählten Fällen eines unbedingten Verfahrensmangels die Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen. Diese Regelung ist nach§ 202 SGG entsprechend anzuwenden. Das ist in Rechtsprechung und Literatur nicht umstritten (vgl. statt aller BSG v. 5.7.1978 – 1 RJ 4/78 – SozR 1750 § 551 Nr. 7; v. 10.9.1998 – B 7 AL 36/98 R –, Langtext in juris; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 60 Rdnr. 14).

Die nach § 547 ZPO unwiderlegbare Vermutung für die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung gilt in nach § 202 SGG entsprechender Anwendung nach Auffassung des Senats auch für den Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG (so auch Bley in SGB-SozVers-GesKomm, SGG, § 144, Stand Dezember 1994, Erl. 16; Bernsdorff in Hennig, § 144, Stand April 1996, Rdnr. 66; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 3. Aufl. 1996, Rdnr. 449). Im Zivilprozessrecht gilt die durch § 547 ZPO geschaffene unwiderlegbare Vermutung für die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung zwar nach herrschender Meinung nur für die sachliche Begründetheit einer bereits aus anderen Gründen zulässigen Revision (BG...

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