Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Polkörperdiagnostik keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

1. Die Polkörperdiagnostik ist keine von der Krankenkasse geschuldete Leistung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung.

2. Die Nichtaufnahme der Polkörperdiagnostik als eine Kassenleistung verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 12.09.2015; Aktenzeichen B 1 KR 15/14 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.11.2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Erstattung ihrer Aufwendungen für Polkörperdiagnostik.

Die 1978 geborene Klägerin trägt als so genannte Konduktorin die Erbanlage für eine Muskeldystrophie des Typs Duchenne/Becker; eine entsprechende Veränderung des Dystrophin-Gens wurde bei ihr festgestellt. Eine Konduktorin (Überträgerin) kann die Eigenschaft an die folgenden Generationen weitergeben bzw. übertragen. Die Muskeldystrophie des Typs Duchenne ist eine genetisch determinierte Synthesestörung des Muskelstrukturproteins Dystrophin, das bei dieser Krankheitsform nicht gebildet wird. Der Dystrophinmangel führt mit der Zeit zum Untergang von Muskelfasern und Ersatz durch Fett- oder Bindegewebe. Die Duchenne-Muskeldystrophie beginnt im Kleinkindalter mit einer Schwäche der Becken- und Oberschenkelmuskulatur, schreitet rasch voran und endet, meist im jungen Erwachsenenalter, immer tödlich, sobald die Herz- und Atemmuskulatur abgebaut wird.

Die Klägerin ist verheiratet. Ihr Ehemann leidet an einer Fertilitätsstörung.

Die Klägerin beantragte Ende des Jahres 2010 die Kostenübernahme für die künstliche Befruchtungsmaßnahme der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) sowie für eine Polkörperdiagnostik. Die Polkörperdiagnostik ermöglicht im Rahmen einer künstlichen Befruchtung eine genetische Untersuchung der entnommenen Eizelle. Diese Untersuchung erfolgt an der Eizelle vor Abschluss der Befruchtung. Vor der Verschmelzung des mütterlichen und väterlichen Vorkernes werden die Polkörper entnommen und humangenetisch untersucht. Die Polkörper sind Abschnürungen aus der Eizelle und enthalten ein Spiegelbild des Erbgutes der Eizelle.

Mit Schreiben vom 15.12.2010, das keine Rechtsmittelbelehrung enthielt, teilte die Beklagte mit, dass sie sich "an der geplanten Kinderwunschbehandlung beteiligen kann", lehnte aber die Kostenübernahme für die Polkörperuntersuchung ab. Bei der Polkörperuntersuchung handele es sich um eine so genannte Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) und damit eine Maßnahme außerhalb der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 09.02.2011 Widerspruch, mit dem sie geltend machte, die Durchführung der Polkörperdiagnostik sei wünschenswerter und besser als ein ggf. später durchzuführender Schwangerschaftsabbruch wegen der Übertragung ihrer vererblichen Erkrankung. Die Entscheidung der Beklagten sei daher rechtsethisch und kostenmäßig nicht verständlich.

Die Beklagte hörte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) an. Dieser führte mit Gutachten vom 22.03.2011 aus, dass die Polkörperdiagnostik - anders als die Präimplantationsdiagnostik - erlaubt sei, aber nicht zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre. Als Alternative stehe die vorgeburtliche Diagnostik durch Chorionzottenbiopsie oder Fruchtwasseruntersuchung zur Verfügung.

Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.05.2011 zurück. Bei der beantragten Untersuchungsmethode handele es sich um eine neue unkonventionelle Untersuchungsmethode, für welche die erforderliche Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht vorliege. Das Bayrische Landessozialgericht (LSG) habe mit Urteil vom 07.08.2008 (L 4 KR 259/07) den Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Polkörperdiagnostik abgelehnt, weil es sich bei der Untersuchung nicht um eine medizinische Maßnahme zur Herbeiführung einer Schwangerschaft in dem Sinne handele, dass sie dem einzelnen Zeugungsakt entspreche und mittelbar der Befruchtung diene.

Hiergegen hat die Klägerin am 08.06.2011 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben.

Zwischenzeitlich ließ die Klägerin die Polkörperdiagnostik durchführen. Hierfür sind nach der Aufstellung der Klägerin im Rahmen des ersten Behandlungszyklus Kosten in Höhe von 7.100,97 Euro, im Rahmen des zweiten Behandlungszyklus von 3.062,16 Euro und damit insgesamt von 10.163,13 EUR entstanden; wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 41 bis 67 und 79 bis 85 der Gerichtsakte verwiesen. Der zweite Behandlungszyklus führte zu einer Schwangerschaft der Klägerin; am 22.11.2012 befand sich die Klägerin in der 21. Schwangerschaftswoche. Die Klägerin und ihr Ehemann ließen sich vor Durchführung der künstlichen Befruchtungsmaßnahme durch einen Arzt nach Maßgabe des § 27a Abs. 1 Nr. 5 Fünftes B...

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