Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zurechnung des Verschuldens bei Ersatzzustellung. keine Ersetzung des Widerspruchsbescheids durch Klageerwiderung

 

Orientierungssatz

1. Wurde ein Schriftstück im Wege der Ersatzzustellung anstelle dem Beteiligten einer Ersatzperson übergeben (hier: Ehegatte) und händigt diese das Schriftstück dem Beteiligten verspätet aus, so muss sich der Beteiligte dieses Verschulden nicht als eigenes zurechnen lassen. Dies gilt jedenfalls dann, soweit der Adressat die Sendung nicht erwarten musste, Nachforschungen nicht schuldhaft unterlassen hat oder nicht mit einem Verschulden der Ersatzperson rechnen musste.

2. Der Klageabweisungsantrag einer Behörde in einem anhängigen Streitverfahren macht den Erlass eines Widerspruchsbescheids nicht entbehrlich.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 14.04.2010 geändert. Der Klägerin wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt I aus E beigeordnet.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die 1980 geborene, im Leistungsbezug bei der Beklagten stehende Klägerin beantragte im Februar 2009 unter Hinweis auf eine Einstellungszusage der Firma S GmbH die Übernahme der Kosten für den Erwerb eines Führerscheins der Klasse D. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 22.4.2009 ab. Die Erlangung des Führerscheins Klasse D werde nicht gefördert, da auf diesem Arbeitsmarktsektor ein Überhang an Fachkräften bestehe. Mit E-Mail vom 23.04.2009 legte die Klägerin hiergegen Widerspruch ein. Die Beklagte wies diesen mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2009 mit der Begründung, der Widerspruch sei nicht unter Beachtung des Schriftformerfordernisses eingelegt worden, als unzulässig zurück. Zudem erteilte sie der Klägerin den Hinweis, dass bis zum Ende der Widerspruchsfrist am 27.05.2009 der Widerspruch formgerecht eingelegt werden könne. Die Zustellung erfolgte am 28.04.2009 im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten.

Die Klägerin hat gegen den Widerspruchsbescheid am 12.06.2009 Klage beim Sozialgericht (SG) Aachen erhoben. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes datiert vom 27.08.2009. Den am 05.10.2009 gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründete die Klägerin damit, dass ihr der Widerspruchsbescheid von ihrem Ehemann erst am 03.06.2009 ausgehändigt worden sei. Ihr Ehemann habe den Widerspruchsbescheid am 28.04.2009 aus dem Briefkasten geholt, in seine Jackentasche gesteckt und das Dokument erst am 03.06.2009 wieder entdeckt, als er die Jacke wieder angezogen habe. Da ihr das Verhalten ihres Ehemann nicht zugerechnet werden könne, sei sie ohne Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist gehindert gewesen.

Des Weiteren habe sie entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten sehr wohl rechtzeitig Widerspruch eingelegt. Ihren schriftlichen Widerspruch habe sie als Brief mit eigenhändiger Unterschrift als Einschreiben mit Rückschein an die Beklagte geschickt. Der Brief sei von der Post mit dem Vermerk "nicht abgeholt" am 12.05.2009 zurück gekommen. Zum Nachweis legte die Klägerin die Kopie des schriftlichen Widerspruchs, den Nachweis über die Versendung mit Einschreiben/Rückschein und die Kopie des Briefumschlages mit den Vermerken "Abholbenachrichtigung 25.04.2009" und "nicht abgeholt 12.05.2009" vor. Somit sei der Widerspruchsbescheid vom 24.04.2009 rechtswidrig und aufzuheben. Sie habe Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung. Die im ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 22.04.2009 enthaltende Begründung für die Ablehnung der Förderung könne keinen Bestand haben. Denn trotz des dort angeführten Überhangs an Arbeitskräften sei die Stelle bei der Firma S GmbH nach wie vor unbesetzt. Es werde daher bestritten, dass damals oder heute ein Fachkräfteüberhang bestand bzw. besteht.

Das SG hat die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 14.04.2010 abgelehnt. Die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) lägen nicht vor. Die Klägerin, die es dem Ehemann überlassen habe, den Briefkasten zu leeren, müsse sich dessen Verschulden, d. h. die unterlassene Aushändigung des Widerspruchsbescheides, zurechnen lassen. Zudem liege ein Organisations- und Überwachungverschulden vor. Denn das Überlassen der Leerung des Briefkastens durch Dritte müsse gekoppelt sein an Kontrollmaßnahmen wie das Durchsehen der Post oder die Nachfrage, ob und welche Post eingegangen sei.

Die Klägerin hat rechtzeitig Beschwerde eingelegt und vorgetragen, dass die Post aus dem Briefkasten stets auf den Schreibtisch bzw. die Garderobe im Flur gelegt werde. Dies sei stets zuverlässig entweder von ihr oder von ihrem Ehemann so gehandhabt worden. Daher erübrige sich eine Nachfrage oder Überwachung, zumal die Post und jedem zugänglich sei.

II.

Die zulässige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des SG A...

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