Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. Gleichstellung. Dauerhaftigkeit der Einschränkung des Gehvermögens. zeitweise Anfälle. Parkinson-Erkrankung. Stress durch Zeitnot beim Parkscheinkauf

 

Orientierungssatz

1. Die für das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) zu ermittelnde Einschränkung des Gehvermögens muss nach § 46 Abs 1 Nr 11 Abschn 2 Nr 1 S 1 StVOVwV dauernd bestehen.

2. Eine in diesem Sinn dauernde Gehbehinderung liegt bei wechselhaftem Verlauf einer Gesundheitsstörung oder ihrer Auswirkungen auf das Gehvermögen nicht vor, wenn es (hier wegen einer Parkinson-Erkrankung) nur zeitweise auf das Schwerste eingeschränkt, zeitweise aber auch besser ist (vgl BSG vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 = SozR 3-3870 § 4 Nr 11 und vom 29.1.1992 - 9a RVs 4/90 = Behindertenrecht 1992, 91).

3. Das Merkzeichen aG soll nicht das Auftreten von Bewegungsstörungen (hier durch Stress infolge Zeitnot in der Phase des Erwerbs eines Parkscheins) verhindern, sondern nur die unausweichlich zurückzulegende Wegstrecke verkürzen (vgl BSG vom 29.1.1992 - 9a RVs 4/90 = Behindertenrecht 1992, 91).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 16.03.2016; Aktenzeichen B 9 SB 1/15 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 20. Juni 2012 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ gegeben sind.

Bei dem 1954 geborenen Kläger bestanden bereits seit Ende der 80er Jahre linksseitige Bewegungsstörungen. Ende 1993 wurde erstmals der Verdacht auf Vorliegen eines Parkinson-Syndroms gestellt. Mit Bescheid vom 30. Mai 1997 wurde bei dem Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 seit Januar 1997 wegen der Funktionsbeeinträchtigungen

Parkinson'sche Krankheit

Bluthochdruck

sowie das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen “G„ und “B„ festgestellt. In der Folgezeit von dem Kläger gestellte Anträge auf Feststellung eines höheren GdB und insbesondere der Voraussetzungen des Merkzeichens “aG„ blieben erfolglos.

Im März 2010 beantragte der Kläger erneut die Feststellung eines höheren GdB sowie der Voraussetzungen der Merkzeichen “aG„, “H„, “RF„ sowie “B„. Dem fügte er Atteste und Arztbriefe des behandelnden Neurologen Prof. Dr. W... bei und wies ergänzend darauf hin, dass er Parkvorgänge oft nicht ordnungsgemäß erledigen könne, weil er die Wege zwischen Auto und Parkscheinautomat meist nicht rechtzeitig bewältigen könne. Bereits auf dem Rückweg vom Parkautomat müsse er häufiger erleben, dass ein Strafzettel erteilt werde. Durch diese Stressphase komme es meist zu einer völligen Blockade, sodass er sich nicht mehr bewegen und sogar auch nicht sprechen könne. Sehr häufig könne er auch die Distanz zwischen Auto und Parkscheinautomat ohnehin nicht bewältigen.

Der Beklagte zog ein im Juni 2009 von dem MDKN erstattetes Pflegegutachten über den Kläger bei, erkannte mit Bescheid vom 3. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2010 ab dem 25. März 2010 einen GdB von 100 und das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens “H„ an. Die Voraussetzungen der Merkzeichen “aG„ und “RF„ seien jedoch nicht gegeben.

Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Braunschweig erhoben und die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens “aG„ weiter verfolgt. Er hat sein vorprozessuales Vorbringen dahin ergänzt, dass er in der off-Phase überhaupt nicht in der Lage sei, sich fortzubewegen. Hilfsmittel seien dann untauglich. Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von dem Neurologen Prof. Dr. W... eingeholt, dem dieser noch eine ergänzende Stellungnahme nachgereicht hat. Sodann hat es ein Gutachten von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Wa... eingeholt. Dieser hat in dem unter dem 2. Dezember 2011 erstatteten Gutachten zusammenfassend ausgeführt, in über 70 v.H. des Tages sei der Kläger motorisch hochgradig eingeschränkt. Er könne sich deshalb außerhalb des Fahrzeugs nur mit großer Anstrengung bewegen. Bereits Wegstrecken von 30 m bedeuteten auch mit Unterbrechung für ihn eine erhebliche Anstrengung. Die Schwere der dadurch bedingten Ausfälle sei den Funktionseinschränkungen eines Oberschenkelamputierten in etwa gleichzusetzen. Diese Einschränkung bestehe seit der Antragstellung im März 2010.

Der Beklagte hat dem versorgungsärztliche Stellungnahmen von Dr. T... und Dr. R... entgegengehalten. Der Kläger hat ergänzend einen Arztbrief von dem Neurophysiologen Dr. Sch... vorgelegt.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 20. Juni 2012 unter Abänderung der angefochtenen Bescheide bei dem Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens “aG„ ab dem 25. März 2010 festgestellt. Aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen sei er der ausdrücklich genannten Personengruppe gleichzustellen, weil er sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in den off-Phasen nur mit ...

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