Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufschiebende Wirkung der Klage gegen Erstattungsbescheid zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende

 

Leitsatz (amtlich)

Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Bescheide, die eine Erstattung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Gegenstand haben, kommt aufschiebende Wirkung zu.

 

Orientierungssatz

1. § 39 SGB 2 ist eng auszulegen. Er erfasst nicht Rechtsbehelfe gegen Erstattungsforderungen, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Gegenstand haben.

2. Es ist rechtssystematisch nicht zu begründen, dass gerade im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende der gesetzliche Rechtsschutz gravierend eingeschränkt werden soll.

3. Der Leistungserbringer kann bei vorhandenem öffentlichem Interesse die sofortige Vollziehung des Erstattungsbescheides anordnen. Dieses ist in gravierenden Fällen des Leistungsmissbrauchs immer zu bejahen.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 1. März 2006 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

 

Gründe

Die am 6. März 2006 durch die Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg (SG) vom 1. März 2006 eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt hat (§ 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG), ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 SGG). Der Senat sieht das erforderliche Rechtsschutzinteresse für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens als gegeben an (zweifelnd LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.3.2006, L 9 AS 127/06 ER, Juris). Dies folgt schon daraus, dass die Antragsgegnerin, auch wenn sie die sofortige Vollziehung ihres Bescheides anordnen könnte, eine günstigere Rechtsposition hätte, falls der Klage keine aufschiebende Wirkung beizumessen wäre. Denn eine solche Anordnung setzt immer ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung voraus, welches über jenes hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.7.1973, 1 BvR 23, 155/73, BVerfGE 35, S. 268 ff., 284 f. m.w.N.).

Sie ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klage der Antragstellerin gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 17. August 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2006 aufschiebende Wirkung hat, soweit es - allein streitgegenständlich - um die Erstattung von Leistungen geht.

Nach § 86a Abs.1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage (grundsätzlich) aufschiebende Wirkung. Diese ist nicht nach § 86a Abs. 2 SGG entfallen. Die in § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 5 SGG geregelten Tatbestände sind nicht einschlägig. Insbesondere greift nicht § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II. Nach letztgenannter Vorschrift haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der 1. über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet oder 2. den Übergang eines Anspruchs bewirkt, keine aufschiebende Wirkung.

Bei einem Verwaltungsakt, der die Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen gemäß § 50 SGB - Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren zum Gegenstand hat, handelt es sich jedoch um keinen solchen, der über Leistungen entscheidet. Dazu gehören lediglich Verwaltungsakte, die über die Bewilligung von Leistungen entscheiden, sowie - spiegelbildlich dazu - solche, die diese Bewilligung wieder aufheben (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen m.w.N.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.1.2006, L 3 ER 128/05 AS, Juris; Conradis in LPK-SGB II, § 39 SGB 2 RdNr. 7; Kossens in Jahn, § 39 SGB 2 RdNr. 3; Pilz in Gagel, § 39 SGB II RdNr. 9; Berlit, Vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz im Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeitsuchende - ein Überblick, info also 2005, S. 3 ff., 5; Grieger, Vorläufiger Rechtsschutz in Angelegenheiten der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch Verwaltungs- und Sozialgerichte, ZFSH/SGB 2004, S. 579 ff., 580). Ein Erstattungsbescheid stellt hingegen ein aliud dar (ebenso - unter Hinweis auf die Zweistufigkeit der Rückabwicklung - LSG Niedersachsen-Bremen a.a.O.).

Der Gegenansicht (Hengelhaupt in Hauck/Noftz, § 39 SGB 2 RdNr. 44 f.; Seegmüller in Estelmann, § 39 SGB 2 RdNr. 6; Eicher in Eicher/Spellbrink ≪wenngleich kritisch≫, § 39 SGB II RdNr. 3 und 12; ebenso wohl Gröschel-Gundermann in Linhart/Adolph, § 39 SGB 2 RdNr. 2 und im Ergebnis - jedoch ohne Begründung - auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 31.8.2005, L 7 B 389/05 AS ER und LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.5.2005, L 9 B 12/05 AS ER - Juris) ist zwar zuzugestehen, dass der Wortlaut des § 39 Nr. 1 SGB II auslegungsfähig ist. Die Norm schließt eine dahingehende Auslegung, dass jede Entscheidung gemeint sei, die einen wie auch immer gearteten Einfluss auf Leistungen nach dem SGB II hat, jedenfalls nicht eindeutig aus. Allerdings ...

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