Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenkasse. Aufsichtsmaßnahme. Amtspflichtverletzung eines Vorstandsmitglieds. gesamtschuldnerische Haftung. schwebende Unwirksamkeit einer Vereinbarung über den Ersatz des Schadens aus einer Pflichtverletzung. ermessengerechte Auswahlentscheidung in Verpflichtungsverfügung der Aufsichtsbehörde

 

Leitsatz (amtlich)

1. Mit der Amtspflicht des hauptamtlich tätigen Vorstandsmitglieds nach § 35a Abs 3 SGB 4 ist es nicht vereinbar, wenn in einem vom Versicherungsträger selbst angestrengten gerichtlichen Verfahren die Sofortvollzuganordnung einer Maßnahme der Rechtsaufsicht bestätigt wird, der Versicherungsträger auf Betreiben des Vorstands sich aber darüber hinwegsetzt.

2. Für einen der Selbstverwaltungskörperschaft schuldhaft zugefügten Schaden haften Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane und hauptamtliche Mitglieder der Verwaltungsorgane als Gesamtschuldner (vgl BGH vom 14.2.1985 - IX ZR 145/83 = BGHZ 94, 18). Die Erwägungen zur anteiligen Mithaftung von Organmitgliedern entsprechend dem Maß des Mitverschuldens (vgl BSG vom 19.12.1974 - 8/7 RKg 3/74 = BSGE 39, 54) treffen auf die heutige Rechtslage nicht mehr zu.

3. Die Vereinbarung zwischen Vorstand und Verwaltungsrat über den Erlass einer Schadenersatzforderung des Krankenversicherungsträgers gegen den Vorstand bedarf der Genehmigung nach § 42 Abs 3 SGB 4 und ist bis dahin schwebend unwirksam.

4. Die Verpflichtungsverfügung der Aufsichtsbehörde, mit der dem Versicherungsträger aufgegeben wird, welche Person im Wege der gesamtschuldnerischen Haftung in Regress genommen werden soll, muss eine ermessengerechte Auswahlentscheidung und die hierfür maßgeblichen Gründe enthalten.

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 28. März 2006 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Rechtsstreits im Berufungsverfahren mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit einer aufsichtsrechtlichen Maßnahme der Beklagten streitig, die die Auflage an die Klägerin enthält, ihren Vorstandsvorsitzenden, den Beigeladenen, in Regress zu nehmen.

Die Klägerin mit Geschäftssitz in Schwäbisch Gmünd ist eine bundesweit tätige gesetzliche Krankenkasse. In den Jahren nach 2001 hat sie im Internet angebotene Arzneimittel, u.a. auch der in den Niederlanden ansässigen Versandapotheke 0800D.M. (D.M.), in ihrer Mitgliedszeitung als abrechnungsfähig erklärt und die Kosten für diese bezogenen Arzneimittel ihren Mitgliedern vergütet.

Die Beklagte verpflichtete mit Bescheid vom 30.04.2002 die Klägerin, es zu unterlassen, ihre Versicherten auf die Möglichkeit des Bezugs von apothekenpflichtigen Arzneimitteln, die im Wege des Versandhandels erworben werden, hinzuweisen und ihren Versicherten Kosten für apothekenpflichtige Arzneimitteln, die über den Versandhandels erworben wurden, ganz oder teilweise zu erstatten. Dies verstoße gegen §§ 43 Abs. 1, 73 Abs. 1 Arzneimittelgesetzes (AMG). Die sofortige Vollziehung des Bescheids wurde angeordnet.

Die Klägerin erhob hiergegen Klage beim Sozialgericht Ulm (SG) unter dem Aktenzeichen S 1 A 1270/02 und begehrte im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (S 1 A 1269/02 ER). Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hatte keinen Erfolg (Beschluss des SG vom 10.06.2002), die hiergegen erhobene Beschwerde zum Landessozialgericht (LSG) wurde zurückgewiesen (Beschluss des Senats vom 11.11.2002 - L 1 A 2881/02 ER-B). Im Klageverfahren wurde auf Antrag der Beteiligten das Ruhen angeordnet, da eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und eine Änderung des Arzneimittelgesetzes abgewartet werden sollte.

Mit Bescheid vom 06.06.2003 drohte die Beklagte die Verhängung eines Zwangsgelds bei weiteren Verstößen gegen die auferlegte aufsichtsrechtliche Verpflichtung an. Die hiergegen erhobene Klage (S 1 A 1504/04) wies das SG ab (Urteil vom 25.4.2004). Als Veröffentlichungen über Äußerungen des Beigeladenen, dass trotz Zwangsgeldandrohung an der Abrechnungspraxis der Klägerin zur Kostenerstattung der über D.M. bezogenen Arzneimitteln festgehalten werde, bekannt wurden, setzte die Beklagten mit Bescheid vom 13.08.2003 ein Zwangsgeld in Höhe von 1000 € fest. Die Klägerin bezahlte das Zwangsgeld unter Vorbehalt und erhob hiergegen Klage zum SG ( S 1 A 2043/03), die mit Urteil vom 25.04.2004 ebenfalls abgewiesen wurde. Das Urteil ist rechtskräftig.

Mit Urteil vom 11.11.2003 hatte zwischenzeitlich der EuGH entschieden, dass Gemeinschaftsrecht den Regelungen des deutschen AMG entgegenstehe, soweit darin ein absolutes Verbot des Versandhandels mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln oder ein Werbeverbot für solche Arzneimittel ausgesprochen sei. Zum 01.01.2004 trat eine Änderung des Arzneimittelgesetzes in Kraft, die den Versandhandel im Internet zulässt. Nach Wiederanruf des ruhenden Klageverfahrens zur aufsichtsrechtlichen Unterlassensverpflichtung erklärte...

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