Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Vermögenseinsatz. Anwendbarkeit der Übergangsregelung aus Anlass der COVID-19-Pandemie

 

Leitsatz (amtlich)

Die Covid-19-Ausnahmeregelung in § 141 Abs 2 SGB XII gilt ausnahmslos für alle (Erst-)Antragsteller im Rahmen des vorgegebenen Zeitfensters. Eine Beschränkung auf die unter anderem insbesondere in der Gesetzesbegründung benannten Gruppen von Kleinunternehmern, Solo-Selbstständigen oder auch Minijobber ist dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen.

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 8. September 2021 insoweit abgeändert, dass der Klägerin Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nur für den Zeitraum vom 1. September 2020 bis zum 29. Februar 2021 zu gewähren sind.

Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für den Zeitraum September 2020 bis März 2021 sowie die Notwendigkeit der Hinzuziehung einer Rechtsanwältin im Streit.

Die im Jahr 1994 geborene Klägerin bezog zuletzt Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Das zuständige Jobcenter hob die Leistungsbewilligung wegen der Aufnahme der Klägerin in den Eingangsbereich/Berufsbildungsbereich einer Werkstätte für behinderte Menschen (WfbM) zum 31. August 2020 auf (Bescheid vom 5. August 2020). Die Klägerin leidet an einer psychischen Erkrankung, bei ihr ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt (Ausweis vom 4. März 2020).

Im Hinblick darauf beantragte die Klägerin beim Beklagten am 25. September Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Sie gab in dem Zusammenhang an, mit ihrem Lebensgefährten, dem Studenten L (im folgenden L.), in einer von ihrer Mutter (Vermieterin) angemieteten Wohnung (laut Mietvertrag: Grundmiete 350,00 €, Nebenkostenvorauszahlung 300,00 €, Stellplatz 50,00 €) zu wohnen und machte Angaben zu den bei ihr und L. vorhandenen Vermögenswerten in Höhe von insgesamt rund 15.000,00 € (Bankguthaben, Geschäftsanteile, Bausparvertrag, Auto).Die Klägerin hatte als monatliches Einkommen 150,00 € Taschengeld von ihren Eltern sowie 119,00 € Ausbildungsgeld. L. erhielt seit Aufnahme des Studiums in T im September 2019 von seiner Mutter nur das Kindergeld in Höhe von 192 € monatlich.

Das Einkommen der Eltern der Klägerin betrug 90.767,00 € brutto im Jahr 2019 (Einkommensteuerbescheid 2019 vom 23. November 2020).

Mit Bescheid vom 18. Februar 2021 lehnte der Beklagte die Gewährung von Grundsicherung ab. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin und L. verfügten über Vermögen, das die maßgeblichen Freibeträge nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch wie auch nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB II und SGB XII) um 2.644,36 € (siehe im einzelnen Berechnung Bl. 166 Verwaltungsakte - VA -) übersteige.

Hiergegen erhob die Klägerin durch ihre Bevollmächtigte Widerspruch.

Mit Abhilfebescheid vom 23. März 2021 (Bl. 204 VA) bewilligte der Beklagte der Klägerin Grundsicherung ab dem 1. April 2021 unter Berücksichtigung von 264,19 € Unterkunftskosten und des Regelsatzes (Regelbedarfsstufe 2) in Höhe von 401,00 €, hieraus ergab sich unter Berücksichtigung des Einkommens aus der Taschengeldzahlung der Eltern 150,00 € ein Zahlbetrag in Höhe von 515,19 €. Der Beklagte war hierbei von einem inzwischen erfolgten (teilweisen) Verbrauch des Vermögens ausgegangen.

Auch hiergegen erhob die Klägerin durch ihre Bevollmächtigte Widerspruch und wies unter anderem darauf hin, dass die Zahlung des Taschengelds durch die Eltern zum 1. April 2021 eingestellt worden sei.

Seit 1. April 2021 erhält die Klägerin eine bedarfsdeckende, befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe eines Zahlbetrages von 930,46 € (Bescheid der DRV Baden-Württemberg vom 28. April 2021).

Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2021 (Bl. 247 VA) hob der Beklagte die Bewilligung der Grundsicherung ab dem 1. April 2021 wegen der inzwischen erfolgten Rentengewährung wieder auf und wies den Widerspruch im Übrigen zurück. Außerdem stellte der Beklagte fest, die Hinzuziehung einer Bevollmächtigten sei nicht notwendig gewesen, die Klägerin hätte die maßgeblichen Unterlagen auch ohne ihre Anwältin vorlegen können.

Dagegen hat die Klägerin durch ihre Bevollmächtigte am 21. Juni 2021 beim Sozialgericht (SG) Reutlingen Klage erhoben und sich gegen die Versagung von Leistungen für den Zeitraum September 2020 bis März 2021 sowie der Feststellung zur fehlenden Notwendigkeit der Hinzuziehung einer Bevollmächtigten gewandt. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, sie berufe sich auf die Übergangsregelung aus Anlass der Covid-19-Pandemie, nach der nicht erhebliches Vermögen für die Dauer von sechs Monaten keine Berücksichtigung finde (§ 141 Abs. 2 SGB XII). Die Anw...

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