0 Rechtsentwicklung

 

Rz. 1

Während in dem bis zum 31.12.1990 geltenden Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) lediglich abstrakt in § 4 Nr. 4 als eine Aufgabe des Jugendamts die Jugendgerichtshilfe nach den Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) genannt war, enthält das am 1.1.1991 in Kraft getretene SGB VIII Kinder- und Jugendhilfegesetz insoweit eine weitergehende gesetzliche Regelung. In dem in § 2 enthaltenen Katalog aller Aufgaben der Jugendhilfe ist in Abs. 3 Nr. 8 unter den "anderen Aufgaben" die Mitwirkung in Verfahren nach dem JGG (§ 52) aufgeführt. Durch den Verweis auf § 52 wird diese Aufgabe der Jugendhilfe gegenüber der früheren Rechtslage konkretisiert. In § 52 Abs. 1 wird hinsichtlich Art und Umfang der Mitwirkungspflicht wiederum auf Bestimmungen aus dem JGG verwiesen. Eine weitere Präzisierung ist durch das 1. SBG VIII-ÄndG v. 16.12.1993 (BGBl. I S. 239) erfolgt. Seitdem gilt nach Abs. 2 Satz 2 das Gebot, vorrangig regelmäßig die Möglichkeit eines Verfahrensabschlusses im Wege der Diversion gemäß § 45 JGG oder § 47 JGG zu prüfen. Durch Art. 1 Nr. 40 des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) wurden mit Wirkung zum 10.6.2021 Abs. 1 die Sätze 2 und 3 angefügt und Abs. 2 Satz 1 geändert.

1 Allgemeines

 

Rz. 2

Das erste Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich aus dem Jahre 1871 enthielt lediglich einige Sondervorschriften für Verfahren gegen junge Menschen. Im Übrigen fanden die allgemeinen Vorschriften Anwendung. Die Erkenntnis, dass auf die Straffälligkeit junger Menschen mit anderen Sanktionen und in einem besonders ausgestalteten Verfahren zu reagieren ist, hat erst etwa 50 Jahre später zu Gesetzesänderungen geführt. Im Februar 1923 ist das erste Reichsjugendgerichtsgesetz mit seinem besonderen Sanktionssystem und der Verpflichtung zur Einrichtung spezieller Jugendgerichte in Kraft getreten. Etwa zeitgleich war bereits einige Monate zuvor im Juli 1922 das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz erlassen worden. In diesem Gesetz waren der Aufbau und die Zuständigkeiten der Jugendwohlfahrtsbehörden und deren Aufgaben, darunter auch die Jugendgerichtshilfe (JGH) erstmals benannt. Seither sind das Jugendstrafrecht und die Jugendhilfe miteinander verzahnt.

2 Rechtspraxis

2.1 Zusammenwirken Jugendhilfe/Justiz

2.1.1 Mitwirkungspflicht

 

Rz. 3

Gemäß Abs. 1 hat das Jugendamt nach Maßgabe der § 38 JGG und § 50 Abs. 3 Satz 2 JGG in Verfahren nach dem JGG mitzuwirken. Die Aufzählung der in Abs. 1 genannten Vorschriften des JGG ist unvollständig. Noch weitere Normen des JGG regeln die Mitwirkung der "Jugendhilfe im Strafverfahren" (diesem Terminus wird teilweise gegenüber dem gebräuchlichen Begriff "Jugendgerichtshilfe" der Vorzug gegeben). Grundsätzlich besteht nach Abs. 1 eine Mitwirkungspflicht der Jugendgerichtshilfe, und zwar in jedem Verfahren, unabhängig von der Persönlichkeit des Täters oder der Schwere des Tatvorwurfs. Auf die Mitwirkung können weder der Täter noch seine gesetzlichen Vertreter oder sein Verteidiger verzichten. Auch die Jugendgerichtshilfe kann nicht aus pädagogischen oder anderen Gründen von der Mitwirkung gänzlich absehen. Die Jugendgerichtshilfe ist ein "Prozesshilfeorgan eigener Art". Sie entscheidet eigenständig, wann und wie sie im Einzelnen ihre Aufgaben wahrnimmt. Die Justizbehörden haben insoweit kein Weisungsrecht.

 

Rz. 4

In der Praxis sind Art und Umfang der Mitwirkung naturgemäß nicht einheitlich. Entscheidend sind die jeweiligen Besonderheiten eines Verfahrens. So ist z. B. die Mitwirkung bei Straftaten im Bagatellbereich bei Ersttätern vielerorts in Absprache mit den Justizbehörden (Staatsanwaltschaft/Gericht) auf ein Minimum, z. B. auf einen einmaligen Kontakt mit dem Jugendlichen oder Heranwachsenden und die Mitteilung, dass es einer weiteren Beteiligung und einer ausführlichen Berichterstattung nicht bedürfe, reduziert. Im Hinblick auf die vielfach hohe Arbeitsbelastung der Jugendgerichtshilfe und der Notwendigkeit der Konzentration auf "schwierige Fälle" erscheinen entsprechende Absprachen vertretbar. Verweigert indes die Jugendgerichtshilfe ihre Mitwirkung in Verfahren, in denen diese seitens der Justiz aus prozessualen Gründen für erforderlich gehalten wird, können ggf. geeignete Maßnahmen im prozessualen Bereich (s. u.) oder im Wege der Dienstaufsicht durch den Dienstvorgesetzten des Vertreters der Jugendgerichtshilfe ergriffen werden.

2.1.2 Jugendgerichtshilfe

 

Rz. 5

Nach § 2 Abs. 3 Nr. 8 i. V. m. § 52 obliegt der Jugendhilfe die Mitwirkung in Verfahren nach dem JGG. In § 38 Abs. 1 JGG ist bestimmt, dass die Jugendgerichtshilfe von den Jugendämtern im Zusammenwirken mit den Vereinigungen für Jugendhilfe ausgeübt wird.

Weder in § 52 noch im JGG ist eine gesetzliche Vorgabe enthalten, in welcher Organisationsform die Mitwirkung zu erfolgen hat. Vor diesem Hintergrund ist die Praxis unterschiedlich. Überwiegend wird die Jugendgerichtshilfe von Mitarbeitern des Jugendamts ausgeübt, die sich auf diese Aufgabe spezialisiert haben. Diese Mitarbeiter sind i. d. R. aufgrund ihrer besonderen Ausbildung und Erfahrungen mit dem Ablauf eines Ju...

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