Rz. 6

Entscheidet das Gericht im schriftlichen Verfahren, ohne dass die Voraussetzungen dafür vorliegen, etwa weil ein Beteiligter nicht wirksam zugestimmt hat, liegt darin ein wesentlicher Verfahrensmangel, der mit Berufung (§ 144 Abs. 2 Nr. 3) bzw. Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 3) gerügt werden kann. Nach h. M. handelt es sich dabei im sozialgerichtlichen Verfahren aber nicht um einen absoluten Revisionsgrund (BSGE 53 S. 83; BSG, Beschluss v. 20.8.2009, B 14 AS 41/09 B; Beschluss v. 6.10.2010, B 12 KR 58/09 B; Beschluss v. 29.11.2012, B 14 AS 90/12 B; Zeihe, SGG, § 124 Rz. 4c; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 124 Rz. 4a). In § 138 Nr. 3 VwGO und § 119 Nr. 3 FGO ist dagegen die Verletzung des rechtlichen Gehörs als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet. Dementsprechend fehlt nach der st. Rspr. des BVerwG einem Urteil, das trotz ausgebliebenen Einverständnisses ohne mündliche Verhandlung ergeht, jede materiell-rechtliche Grundlage (vgl. BVerwG, Buchholz 310, § 133 Nr. 46; BVerwG, Urteil v. 26.2.2003, 8 C 1/02, NVwZ 2003 S. 1129; BFH, Beschluss v. 3.9.2001, GrS 3/98, BFHE 196 S. 39; vgl. auch Redeker/von Oertzen, § 101 Rz. 2; Kopp/Schenke, § 101 Rz. 2; Dolderer, DVBl. 1999 S. 1019, 1024). Nach BVerwG und BFH braucht der Kläger deshalb zu seinem abgeschnittenen Vortrag und dessen Kausalität nichts weiter darzulegen (vgl. z. B. BVerwG, DÖV 2008 S. 79). Im Ergebnis kommt dem die Rspr. des BSG dadurch nahe, dass es in dem Falle, dass einem Beteiligten gegen seinen Willen sein prozessuales Recht auf mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2) ohne gesetzliche Ermächtigung genommen oder dessen Verwirklichung unmöglich gemacht wird, im Allgemeinen davon ausgeht, dass ein gleichwohl gefälltes Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht. Denn die mündliche Verhandlung sei grundsätzlich das Kernstück der Rechtsfindung; sie sei in ihrem inneren Ablauf nicht vorhersehbar und könne nicht nachträglich fiktiv rekonstruiert werden (vgl. BSG, Beschluss v. 31.3.2004, B 4 RA 126/03 B; Beschluss v. 29.11.2012, B 14 AS 90/12 B; Beschluss v. 16.12.2014, B 9 SB 56/14 B: keine ordnungsgemäße Aufrufung der Sache wegen eines technischen Defekts des Mikrofons im Sitzungssaal). Deshalb wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass die Verletzung des rechtlichen Gehörs die ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (vgl. BSG, Beschluss v. 6.10.2010, B 12 KR 58/09 B; Beschluss v. 12.3.2019, B 13 R 169/17 B; Beschluss v. 9.4.2019, B 1 KR 81/18 B). Das BVerfG hat mit Plenarbeschluss v. 30.4.2003 (1 PBvU 1/02) entschieden, dass das Rechtsstaatsprinzip i. V. m. dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs die Möglichkeit einer fachgerichtlichen Abhilfe für den Fall erfordert, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Das Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) v. 9.12.2004 (BGBl. I S. 3220) sieht zur Umsetzung dieses Plenarbeschlusses ab 1.1.2005 in § 178a (Art. 9 Nr. 3 des genannten Gesetzes) einen besonderen Rechtsbehelf vor (siehe dazu – insbesondere zur Konkurrenz zur Nichtzulassungsbeschwerde - bei § 178a; wegen der damit verbundenen Rechtskraftfragen siehe Rz. 5 zu § 141).

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