1 Allgemeines

 

Rz. 1

Der Rechtsstreit ist aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, wenn nicht vorher das Einverständnis der Beteiligten in eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil wirksam erklärt ist (§ 124 Abs. 2) oder die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach Aktenlage (§ 124 Abs. 3, § 126), durch Gerichtsbescheid (§ 105) oder Beschluss (§ 153 Abs. 4, §§ 158, 169) erfüllt sind.

§ 124 genügt den Anforderungen des Art. 103 GG und des Art. 6 Abs. 1 MRK. Die Vorschrift entspricht weitgehend § 101 VwGO.

2 Rechtspraxis

2.1 Grundsatz der Mündlichkeit, § 124 Abs. 1

2.1.1 Bedeutung

 

Rz. 2

Der Grundsatz der Mündlichkeit bedeutet, dass jeder Kläger in einem Hauptsacheverfahren Anspruch darauf hat, dass seine Streitsache in wenigstens einer mündlichen Verhandlung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht erörtert wird.

 

Rz. 3

Die mündliche Verhandlung, die der Entscheidung i. d. R. (§ 124 Abs. 1) vorauszugehen hat, steht im Mittelpunkt unserer "Kultur einer im Sprechen über das Recht nachdenklichen Rechtsprechung" (vgl. Kirchhof, "Recht sprechen, nicht verschweigen", FAZ v. 18.9.1997). Sie ist gleichsam das "Kernstück" des Verfahrens, um dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und den Streitstoff erschöpfend zu erörtern (BSGE 44 S. 292, 293; BSG, SozR 3-1500 § 160 Nr. 33; BSG, Beschluss v. 8.9.2015, B 1 KR 134/14 B). Zu diesem Zweck kann der Vorsitzende u. a. das persönliche Erscheinen des Klägers anordnen (§ 111 Abs. 1 Satz 1). Die Anordnung des persönlichen Erscheinens steht aber grundsätzlich im Ermessen des Vorsitzenden und hat nach der Rechtsprechung des BSG (Beschluss v. 2.2.2010, B 4 AS 48/10 B; v. 21.1.2008, B 2 U 311/07) nicht die Funktion, das rechtliche Gehör zu wahren, und die Ermöglichung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung durch die Gewährung eines Reisekostenvorschusses an mittellose Personen kommt auch ohne Anordnung des persönlichen Erscheinens in Betracht (vgl. § 191 i. V. m.§ 3 JVEG; vgl. dazu und zu den damit verbundenen streitigen Fragen LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 21.3.2007, L 7 SO 258/07 NZB; VGH Baden-Württemberg, DÖV 2010 S. 48; Bay. VGH, Beschluss v. 14.5.2012, 13a ZB 12.30122). Wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag, etwa wegen Unbeholfenheit oder Sprachunkenntnis des Klägers, keine umfassende Sachverhaltsaufklärung gewährleistet, kann nach der Rechtsprechung des BSG die Anordnung des persönlichen Erscheinens geboten sein, um Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben (BSG, Urteil v. 15.7.1992, 9a RV 3/91). Das gilt nach BVerfG (NJW 1992 S. 293) insbesondere dann, wenn ein Erscheinen auf eigene Kosten sich als praktisch undurchführbar erweist, wenn also das Kostenrisiko den Zugang zum Gericht versperrt. Hieran wird deutlich, welcher Stellenwert der mündlichen Verhandlung im sozialgerichtlichen Verfahren zugedacht ist (zur besonderen Bedeutung des Sachvortrags innerhalb der mündlichen Verhandlung vgl. BSG, SozR 3- 1500 § 112 Nr. 3; kritisch dazu Legde, SGb 2012 S. 112). Dazu, dass eine mündliche Verhandlung nur Sinn hat, wenn auch ein möglichst konkretes Rechtsgespräch geführt wird, vgl. Redeker, NJW 2002 S. 192.

 

Rz. 4

Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung zu äußern. Eine Mindest- oder Regeldauer der mündlichen Verhandlung ist nicht vorgeschrieben; diese hat sich vielmehr an den Umständen des Einzelfalles zu orientieren (vgl. BSG, Beschluss v. 13.11.2017, B 13 R 17/17 BH). Die Möglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung setzt die ordnungsgemäße Benachrichtigung über den Termin zur mündlichen Verhandlung voraus, die bei anwaltlich vertretenen Beteiligten eine an den Bevollmächtigten gerichtete Mitteilung der Terminbestimmung erfordert. Diese muss zwar nach § 63 Abs. 1 Satz 2 nicht (mehr) zugestellt werden; es genügt schon die Bekanntgabe, etwa durch einfachen Brief oder durch Einwurfeinschreiben. Es liegt jedoch weiterhin vorrangig in der Verantwortung des Gerichts, den Anspruch auf rechtliches Gehör sicherzustellen (vgl. BSG, Beschluss v. 12.3.2019, B 13 R 160/17 B). Wird ein Beteiligter nicht zu dem Termin geladen oder nennt seine Ladung eine falsche Terminstunde und wird aufgrund dessen in seiner Abwesenheit verhandelt und entschieden, liegt ein Verfahrensfehler wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs i. S. d. § 62 i. V. m. Art. 103 Abs. 1 GG vor (vgl. BSG, Beschluss v. 16.12.2009, B 6 KA 37/09 R; Beschluss v. 7.10.2009, B 11 Al 95/09 B).

 

Rz. 4a

Ein erheblicher Grund für die Terminsverlegung eröffnet nicht nur die Möglichkeit, sondern begründet die Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (BSG, NJW 1992 S. 1190; BSG, SozR 3-1750 § 227 Nr. 1; BSG, Beschluss v. 30.10.2001, B 4 RA 49/01 R; BSG, Beschluss v. 26.6.2007, B 2 U 55/07 B; BVerwG, NJW 1995 S. 1441). Kommt der Vorsitzende seiner Verpflichtung zur Bescheidung eines Terminsaufhebungs- bzw. -verlegungsantrags bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung nicht nach, leidet das Verfahren wegen der Versagung rechtlichen Gehörs an ein...

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