2.2.1 Grundsatz der freien Widerruflichkeit

 

Rz. 7

Wie in allen Fällen des Verwaltungshandelns durch VA kann die Behörde jeden VA erlassen oder unterlassen und demzufolge jedenfalls belastende VA auch jederzeit widerrufen und zurücknehmen. Diese rechtliche Befugnis wird in § 46 auf den Widerruf als eine Ermessensentscheidung beschränkt, zugleich aber auch für den Bereich der gebundenen Entscheidungen ausgeschlossen, wenn ein VA gleichen materiellen Inhalts erneut erlassen werden müsste. Es träte sonst ein rechtswidriger Zustand ein, der den sofortigen Erlass eines gleichlautenden VA zur Folge hätte. Die Behörde wird insoweit in ihrer Handlungsfreiheit auf die Grundsätze der Recht- und Gesetzmäßigkeit ihres Verwaltungshandelns eingeschränkt. Damit ist der Anwendungsbereich der Vorschrift letztlich auf die seltenen Fälle eines schon ursprünglich nur als Ermessensentscheidung möglichen VA mit belastendem Inhalt beschränkt. Als solche kommen ablehnende, versagende oder entziehende Entscheidungen nach § 66 SGB I wegen fehlender Mitwirkung in Betracht. Auch Bescheide nach § 28e Abs. 5 SGB IV über Vorschüsse auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag vor Fälligkeit nach § 23 SGB IV gegenüber dem Arbeitgeber können darunter fallen. Auch bei medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen wäre ein Widerruf denkbar, etwa wenn die im Ermessen des Leistungsträgers liegende Auswahl der Heilklinik den Betroffenen belastet (und deshalb insoweit ein nicht begünstigender VA vorliegt; vgl. Federl, Mitteilungen der LVA Oberfranken und Mittelfranken, 1981 S. 363, 391).

 

Rz. 8

War und ist der belastende VA rechtmäßig, kann die Behörde diesen nach ihrem Ermessen für die Zukunft widerrufen. Im Ergebnis kann die Behörde damit ihre schon ursprünglich nur als Ermessensentscheidung mögliche Entscheidung beseitigen oder durch teilweisen Widerruf relativieren, also ihr Ermessen und damit zusammen die Zweckmäßigkeit der Entscheidung neu zugunsten des Betroffenen ausüben.

 

Rz. 9

Widerrufen wird mit VA der nach Abs. 2 zuständigen Behörde. Gegenstand des Widerrufs ist der die Belastung aussprechende VA. Dabei kann der Widerruf aufgrund einer Anregung des Betroffenen (verfahrensrechtlicher Antrag) oder von Amts wegen herbeigeführt werden. Der Widerruf kann sowohl den gesamten VA erfassen als auch auf einen Teil der inhaltlichen Regelung des ursprünglichen VA begrenzt sein (Änderungswiderruf), womit dann der andere Teil weiterhin wirksam (§ 39 Abs. 1) bleibt. Bei einem Widerruf wird eine mit dem Widerruf verbundene neue Regelung durch einen nicht begünstigenden VA kaum in Betracht kommen, weil dies bei einer entsprechenden Pflicht schon den Widerruf unzulässig machen würde. Eine mit dem vollständigen Widerruf verbundene andere mögliche Regelung stellt einen neuen belastenden VA dar, der Rechtsbehelfe eröffnet.

2.2.2 Ausschluss der Widerruflichkeit

 

Rz. 10

Die Widerruflichkeit ist ausgeschlossen, wenn ein VA gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste. Das ist insbesondere im Bereich der gebundenen Entscheidungen der Fall, also z. B. bei Beitrags- oder Rückforderungsbescheiden nach § 50 oder speziellen Vorschriften, wie bei Vorschusszahlungen gemäß § 42 SGB I oder bei rechtmäßig abgelehnten Leistungsanträgen. Die Verpflichtung der Behörde zur Geltendmachung und Durchsetzung der Ansprüche bzw. Ablehnung unberechtigter Leistungsansprüche zugunsten der Versichertengemeinschaft, die sie treuhänderisch wahrzunehmen hat, folgt aus § 76 SGB IV, dem Haushaltsrecht und dem Vorbehalt des Gesetzes auch für die Leistungsgewährung (§ 31 SGB I).

 

Rz. 11

Der Widerruf ist auch dann ausgeschlossen, wenn er aus anderen Gründen unzulässig ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Widerruf ausdrücklich gesetzlich ausgeschlossen ist, wie bei Befreiungsbescheiden in der Krankenversicherung nach § 8 Abs. 2 Satz 3 SGB V, oder sich sinngemäß ergibt, wie bei ausgesprochenen Befreiungen in der Rentenversicherung nach § 6 SGB VI, für die ein Verzicht nicht vorgesehen ist. (Bei Änderung der Verhältnisse erledigt sich in der Rentenversicherung die Befreiung, so dass es eines Widerrufs des Befreiungsbescheides nicht bedarf, weil die Wirkung der Befreiung begrenzt ist; vgl. Komm. zu § 6 SGB VI und BSG, Urteil v. 7.12.2000, B 12 KR 11/00 R). Der Widerruf ist auch dann ausgeschlossen, wenn mit dem VA Rechte oder Ansprüche Dritter untrennbar verbunden sind. Verwaltungsanordnungen ohne Rechtssatzcharakter wie Erlasse und andere verwaltungsinterne Anweisungen hindern den Widerruf nicht (Schütze, in v. Wulffen, SGB X, , § 46 Rz. 8).

2.2.3 Zeitliche Wirkung des Widerrufs

 

Rz. 12

Der Widerruf eines rechtmäßigen VA ist trotz der belastenden Wirkung nur mit Wirkung für die Zukunft möglich (str., wie hier Schütze, in: v. Wulffen, SGB X, § 46 Rz. 6). Bis zur Bekanntgabe der Widerrufsentscheidung ist daher der Ursprungsbescheid wirksam und bleibt dies auch für die zurückliegende Zeit. Der Widerruf kann auch erst mit Wirkung zu einem künftigen Zeitpunkt nach Bekanntgabe ausgesprochen werden. Aus dem Widerruf folgt, dass damit der ursprüngliche VA seine Wirkung verliert (§ 39 Abs. 2). Die Regelung des § 49 Abs. 4 VwV...

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