Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Glaubhaftmachung von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund zur Bewilligung von einstweiligem Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Der Erlass einer Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG setzt voraus, dass eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, sodass ihm das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann und ihm aufgrund glaubhaft gemachter Tatsachen ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Handlung zusteht.

2. Macht der Antragsteller Leistungen für Pflegebedürftige in einer vollstationären Einrichtung nach § 43 Abs. 2 Nr. 1 SGB 11 geltend, ist er aus dem bisherigen Pflegeheim ausgezogen und nicht in der Lage, nachvollziehbar mitzuteilen, wo er sich seitdem aufhält, so ist ihm mangels Glaubhaftmachung sowohl eines Anordnungsanspruchs als auch eines Anordnungsgrundes einstweiliger Rechtsschutz zu versagen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 05.01.2017; Aktenzeichen B 3 P 1/17 S)

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 10. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 10. Oktober 2016 mit dem Antrag (sinngemäß),

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 10. Oktober 2016 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihm rückwirkend ab 1. Juli 2016 Leistungen der stationären Pflege zu erbringen,

ist unbegründet.

Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Kassel ist nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat es zu Recht abgelehnt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig Leistungen der stationären Pflege rückwirkend ab 1. Juli 2016 zu gewähren. Die Voraussetzungen hierfür sind nicht erfüllt.

Das Sozialgericht Kassel hat zunächst zutreffend entschieden, dass der vorliegend streitgegenständliche Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 11. August 2016 bereits aufgrund doppelter Rechtshängigkeit unzulässig war, da der Antragsteller bereits zuvor am 13. Juli 2016 in derselben Angelegenheit einen entsprechenden Antrag gestellt hatte und hierüber am 11. August 2016 noch keine Sachentscheidung vorlag.

Das Sozialgericht hat im Übrigen auch der Sache nach den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgewiesen.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung in Form der vorliegend allein in Betracht kommenden Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) setzt voraus, dass eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, d.h. dass dem Antragsteller ohne eine entsprechende Regelung schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, sodass ihm das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann (Anordnungsgrund) und ihm aufgrund der glaubhaft gemachten Tatsachen bei Prüfung der Rechtslage ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Handlung bzw. Unterlassung zusteht (Anordnungsanspruch). Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 11. Auflage 2014, § 86b, Rn. 16b f.). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr verhalten sich beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschlüsse vom 21. Dezember 2009, L 4 KA 77/09 B ER - juris - und vom 21. März 2013, L 1 KR 32/13 B ER; Keller, a.a.O., § 86b Rn. 27 ff. m.w.N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen solchen verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, hat das Gericht im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Entscheidend ist, ob es bei einer Interessenabwägung na...

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