Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei einem Überfall auf dem Weg nach oder von der Arbeitsstätte

 

Orientierungssatz

1. Der Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit ist von vornherein grundsätzlich gegeben, sofern der - ohne erhebliche Umwege oder Unterbrechungen zurückgelegte - Weg nach oder von der Arbeitsstätte den Beschäftigten an die Stelle geführt hat, wo im fraglichen Zeitpunkt eine zur Gewalttat entschlossene Person seiner habhaft werden kann. Allerdings verliert dieser Zusammenhang an Bedeutung, wenn die Beweggründe des Angreifers sich aus einer persönlichen Verfeindung mit dem Angegriffenen oder ähnlichen dem privaten Bereich der Beteiligten zuzurechnenden Umständen erklären.

2. Sind dem persönlichen Bereich des Überfallenen zuzurechnende Tatmotive nicht feststellbar, verliert der durch das Zurücklegen des Weges nach dem Ort der Tätigkeit begründete ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Überfall nicht seine Bedeutung als wesentliche Bedingung des Überfalls.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 01.03.1978; Aktenzeichen L 3 U 1217/77)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 21.10.1977; Aktenzeichen S 3/4 U 246/76)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. März 1978 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 21. Oktober 1977 hinsichtlich des Sterbegeldes, der Überbrückungshilfe und Überführungskosten als unzulässig verworfen wird.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der im Jahre 1927 geborene Ehemann der Klägerin arbeitete regelmäßig seit vielen Jahren in der Nachtschicht, die um 21.45 Uhr begann. Um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen, stellte er seinen Personenkraftwagen üblicherweise auf dem Gelände einer Tankstelle ab und ging von dort regelmäßig zu Fuß zu seiner Arbeitsstätte. Auf diesem Wege wurde der Ehemann der Klägerin am 29. Januar 1975, als zum letzten Mal in der Abteilung des Ehemannes der Klägerin Nachtschicht gearbeitet wurde, von einer unbekannten, maskierten Person von hinten angefallen. An den Folgen der dabei erlittenen Verletzungen starb er noch an demselben Tage.

Die Beklagte lehnte Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Das Tatmotiv könne nicht festgestellt werden. Es wäre jedoch nach kriminalpolizeilichen Ermittlungen ein betrieblicher Beweggrund auszuschließen. Angesichts des Vorlebens des Ehemannes der Klägerin sei es möglich, daß der Überfall aus Rache wegen persönlicher Beziehungen erfolgt sei. Das Nichtvorliegen solcher Beziehungen sei eine anspruchsbegründende Tatsache, deren Nichterweislichkeit zu Lasten der Klägerin gehe. Nach den am Tatort getroffenen Feststellungen könne zudem nicht angenommen werden, daß der Überfall durch besondere Verhältnisse bei der Zurücklegung des Weges zur Arbeit entscheidend begünstigt worden wäre.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 21. Oktober 1977 die Beklagte verurteilt, "Leistungen für die Hinterbliebenen" an die Klägerin zu erbringen. Es hat zur Begründung ausgeführt: Entgegen der Auffassung der Beklagten sei nicht erwiesen, daß der Ehemann der Klägerin aus Eifersucht, Haß oder Wut infolge von Frauenbekanntschaften, Glücksspiel oder anderen ähnlichen Anlässen überfallen worden sei. Andere Möglichkeiten seien wahrscheinlicher. So könne sich der Täter in der Person des Opfers geirrt oder den Ehemann der Klägerin überfallen haben, weil er von ihm bei einem versuchten Einbruch in ein dem Tatort nahegelegenes Getränkelager, in das schon häufiger eingebrochen worden sei, überrascht wurde.

Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 1. März 1978 zurückgewiesen und ua ausgeführt: Die Klägerin begehre nicht nur Hinterbliebenenrente, sondern als Leistungen an Hinterbliebene aus der gesetzlichen Unfallversicherung auch das Sterbegeld und evtl entstandene Kosten der Überführung des Verstorbenen an den Ort der Bestattung und die dreimonatige Überbrückungshilfe. Das SG habe die Berufung nicht zugelassen. Ungeachtet dessen sei jedoch auch bezüglich dieser Leistungen die Berufung statthaft. Zwar stehe im vorliegenden Falle lediglich der ursächliche Zusammenhang zwischen einem Unfallereignis und einer versicherten Tätigkeit zur Entscheidung, nicht jedoch dem Wortlaut des § 150 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entsprechend der ursächliche Zusammenhang des Todes mit einem Arbeitsunfall. Der Senat habe jedoch wiederholt entschieden, daß beide Fälle gleich zu behandeln seien. Die somit insgesamt zulässige Berufung sei jedoch unbegründet. Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Gewalttat und der versicherten Tätigkeit bedürfe es in aller Regel nicht eines betriebsbezogenen Tatmotivs. Dieser Zusammenhang sei vielmehr von vornherein gegeben, sofern der Weg zur Arbeitsstätte zum Zweck der Arbeitsaufnahme den Beschäftigten an die Stelle geführt habe, wo eine zur Gewalttat entschlossene Person seiner habhaft werden kann. Dieser Zusammenhang verliere jedoch an Bedeutung, wenn die Beweggründe des Angreifers sich aus einer persönlichen Verfeindung mit dem Angegriffenen erklärten. Da nach den getroffenen Feststellungen weder der Täter noch das Tatmotiv zu ermitteln seien, trage die Beklagte die objektive Beweislast für das Vorliegen eines rechtsvernichtenden, nicht betriebsbedingten, also persönlichen Tatmotivs. Aber selbst dann, wenn die Folgen der Beweislosigkeit nicht nach diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis zu beurteilen wären, sei ihr Anspruch begründet. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei der ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit auch bei einem aus rein persönlichen Gründen unternommenen Angriff gegeben, wenn die besonderen Umstände, unter denen die versicherte Tätigkeit ausgeübt bzw der versicherte Weg zurückgelegt werde, den Unfall erst ermöglicht oder in entscheidender Weise begünstigt hätten. Dies sei hier jedoch der Fall. Dies ergebe sich insbesondere daraus, daß sich der Täter aufgrund der örtlichen Gegebenheiten nach der Tat sofort und unerkannt in Sicherheit hätte bringen können.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie trägt vor: Das LSG habe zu Unrecht angenommen, sie trage die objektive Beweislast dafür, daß der Überfall wesentlich allein auf dem privaten Bereich des Ehemannes der Klägerin zuzurechnenden Gründen beruhe. Die vom LSG in seine Beweiswürdigung einbezogenen möglichen Umstände gegen derartige Gründe für den Überfall seien nicht überzeugend. Die Verhältnisse des Ortes, an dem der Überfall stattgefunden habe, seien für das Verbrechen denkbar ungünstig gewesen.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG und des Urteils des SG die Klage abzuweisen,

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Entgegen der Auffassung des LSG ist die Berufung allerdings unzulässig, soweit sie das Sterbegeld, die Überbrückungshilfe und Überführungskosten betrifft (s BSGE 6, 120 - Großer Senat; BSG SozR 1500 § 144 Nr 2 und 4). Die Zurückweisung der Berufung der Beklagten als unzulässig und nicht als unbegründet bedeutet für die Beklagte als Revisionsklägerin keine reformatio in peius.

Das LSG hat jedoch hinsichtlich der Hinterbliebenenrente die Berufung der Beklagten zu Recht als unbegründet zurückgewiesen.

Wie der erkennende Senat wiederholt entschieden hat, kommt es bei der Frage, ob ein Überfall auf dem Wege nach oder von der Arbeitsstätte als Arbeitsunfall anzusehen ist, ua auf die Beweggründe des Angreifers an (vgl ua BSGE 6, 164, 167; 10, 56, 60; 13, 290, 291; 17, 75, 77; 26, 45; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl, S. 484 w ff. und Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 60, 68 - jeweils mit weiteren Nachweisen auf Rechtsprechung und Schrifttum). Das bedeutet jedoch nicht, wie der Senat ebenfalls wiederholt dargelegt und das LSG auch beachtet hat, daß es eines betriebsbezogenen Tatmotivs bedürfe, damit der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit hergestellt werde (vgl BSGE Bd 17 aaO; Brackmann aaO S. 484 x). Dieser Zusammenhang ist vielmehr von vornherein grundsätzlich gegeben, sofern der - ohne erhebliche Umwege oder Unterbrechungen zurückgelegte - Weg nach oder von der Arbeitsstätte den Beschäftigten an die Stelle geführt hat, wo im fraglichen Zeitpunkt eine zur Gewalttat entschlossene Person seiner habhaft werden kann. Allerdings verliert dieser Zusammenhang an Bedeutung, wenn die Beweggründe des Angreifers sich aus einer persönlichen Verfeindung mit dem Angegriffenen oder ähnlichen dem privaten Bereich der Beteiligten zuzurechnenden Umständen erklären. In einem solchen Fall bedeutet die Zurücklegung des Weges nach oder von der Arbeitsstätte oft nur eine von vielfachen beliebigen Gelegenheiten für den Angreifer, die verfeindete Person zu überfallen, die ihm ebensogut zu anderer Zeit und an anderer Stelle erreichbar gewesen wäre; mit dieser Erwägung rechtfertigt sich in solchen Fällen die Ablehnung des Versicherungsschutzes, da hier die betriebsfremden Beziehungen zwischen Täter und Angegriffenem vorherrschen und den Zusammenhang des Überfalls mit dem Zurücklegen des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit als rechtlich unwesentlich zurückdrängen (s BSGE Bd 17 aaO; RVA EuM 20, 88; Brackmann aaO). Sind dem persönlichen Bereich des Überfallenen zuzurechnende Tatmotive jedoch nicht feststellbar, verliert der durch das Zurücklegen des Weges nach dem Ort der Tätigkeit begründete ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Überfall somit nicht seine Bedeutung als wesentliche Bedingung des Überfalls.

Das LSG ist aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu der Überzeugung gelangt, daß dem privaten Bereich des Ehemannes der Klägerin zuzurechnende Tatmotive nicht festzustellen sind. Die Beklagte hält die Beweiswürdigung des LSG insoweit zum Teil zwar nicht für zutreffend, ohne aber die tatsächlichen Feststellungen und das Beweisergebnis des LSG mit substantiierten Verfahrensrügen anzugreifen.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird außerdem durch die weitere Begründung getragen, daß der Überfall entscheidend durch die besonderen Verhältnisse beim Zurücklegen des Weges begünstigt worden ist (vgl BSGE 17, 75, 77; Brackmann aaO S. 484 y). Die tatsächlichen Feststellungen des LSG zu den besonderen Verhältnissen beim Zurücklegen des Weges des Ehemannes der Klägerin nach dem Ort seiner Tätigkeit am Tage des Überfalles und die darauf beruhende Beweiswürdigung des LSG hält die Beklagte zwar nicht für zutreffend. Sie greift sie jedoch nicht mit substantiierten Verfahrensrügen an, sondern hält lediglich die Auffassung des Berufungsgerichts insoweit für unzutreffend. Der Senat ist deshalb an die tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden. Soweit das LSG die im Zeitpunkt des Überfalles bestehende Dunkelheit, die Lichtverhältnisse am Ort des Überfalles und die Gegend, in welcher der Überfall stattgefunden hat, als besondere Verhältnisse bei der Zurücklegung des Weges gewertet hat, die auch beim Vorliegen eines dem privaten Lebensbereich des Ehemannes der Klägerin zuzurechnenden Tatmotivs den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Überfall begründen würden, ist diese Rechtsauffassung nicht zu beanstanden (vgl BSGE 17, 75, 77; RVA EuM 22, 100). Auf die Frage, wer die objektive Beweislast für den Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall trägt, kommt es demnach in diesem Fall nicht an.

Die Revision ist daher mit der aus dem Urteilstenor ersichtlichen Maßgabe zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656692

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