Entscheidungsstichwort (Thema)

Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Unfallversicherungsschutz besteht fort, wenn die versicherte Tätigkeit durch betriebsfremde Verrichtungen - zB um eine Verärgerung über eine als ungerecht empfundene Maßregelung im Betrieb abzureagieren - kurzfristig unterbrochen wird; der Versicherungsschutz entfällt jedoch, wenn sich die private Verrichtung nach Beweggrund und Zweck eindeutig als betriebswidrig darstellt.

 

Orientierungssatz

Bei einer dem privaten Lebensbereich zuzurechnenden Betätigung, die nach natürlicher Betrachtungsweise nur zu einer geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit führt, entfällt der Versicherungsschutz nicht. Allerdings besteht kein Versicherungsschutz während einer in die versicherte Tätigkeit eingeschobenen privaten Verrichtung, die nicht lediglich, wie es in ihrer Natur liegt, betriebsfremd ist, sondern sich nach Beweggrund und Zweck als eindeutig betriebswidrig darstellt (hier: ein Versicherter hat aus Verärgerung über eine Anordnung des Oberkellners mit der rechten Faust auf einen Zigarettenautomaten geschlagen, ist dabei abgerutscht und mit der Hand in eine hinter dem Automaten befindliche Trennwand aus Milchglas geraten).

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Auf die Revision der Beigeladenen wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Januar 1971 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger war als Kellner im "R" in K beschäftigt. Dort zog er sich am 7. Oktober 1967 vormittags, als sich noch keine Gäste im Restaurant befanden, eine schwere Schnittverletzung des rechten Handgelenkes mit Nerven- und Sehnendurchtrennung zu. Nach der Unfallanzeige des Unternehmers vom 8. Oktober 1967 schlug der Kläger aus Verärgerung über eine Anordnung des Oberkellners mit der Faust in eine Glasscheibe. Gegenüber dem Durchgangsarzt am 7. Oktober 1967 sowie gegenüber dem Ordnungsamt der Stadt K am 3. November 1967 gab der Kläger an, er sei während der Arbeit ausgerutscht und mit der rechten Hand durch eine Glasscheibe gefallen. Demgegenüber erklärte er am 30. Januar 1968 bei der beigeladenen Ortskrankenkasse und am 5. August 1968 bei dem Versicherungsamt der Stadt K, er habe sich am Unfalltage über eine Anordnung des Oberkellners, den Radioapparat abzustellen, geärgert und, um diesem Ärger Ausdruck zu geben, mit der rechten Faust auf einen Zigarettenautomaten geschlagen; bei dem ziemlich fest geführten Schlag sei er von dem Automaten abgerutscht und in eine dahinter befindliche Trennscheibe aus Milchglas geprallt.

Durch Bescheid vom 24. Juni 1968 lehnte die Beklagte Entschädigungsansprüche ab, da der Kläger nach seiner zuletzt gegebenen Sachdarstellung einer sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr erlegen sei.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, seine Reaktion auf das Verhalten des Oberkellners stehe entgegen der Auffassung der Beklagten mit seiner versicherten Tätigkeit im Zusammenhang. Die Beigeladene ist dem Vorbringen und dem Antrag des Klägers, an ihn Entschädigungsleistungen zu gewähren, beigetreten.

Das Sozialgericht (SG) hat nach einer Augenscheinseinnahme am Unfallort und nach Vernehmung von Zeugen durch Urteil vom 14. Mai 1969 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Unfallversicherungsschutz würde entfallen, wenn der Kläger direkt in die Glasscheibe geschlagen hätte, weil es bei einem derart sorglosen und vernunftwidrigen Verhalten an dem nach § 548 Reichsversicherungsordnung (RVO) erforderlichen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit fehle. Anders wäre es nur, wenn der Kläger in seiner Verärgerung erst auf den Zigarettenautomaten geschlagen hätte und dann nur versehentlich in die Glasscheibe geraten wäre. Dies habe aufgrund der Beweisaufnahme aber nicht festgestellt werden können. Gegen die Behauptung des Klägers spreche immerhin, daß sich das Loch in der Glasscheibe etw 20 cm über dem Automaten befunden habe und der Kläger dem Zeugen M - dem Inhaber des Restaurants - gegenüber zugegeben habe, direkt in die Scheibe geschlagen zu haben. Die sich daraus ergebende Unmöglichkeit der positiven Feststellung gehe nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Klägers. Ansprüche aus einem Arbeitsunfall seien mithin mangels Feststellbarkeit eines solchen nicht gegeben.

Durch Urteil vom 6. Januar 1971 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufungen des Klägers und der Beigeladenen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Entgegen der Auffassung des SG seien die als möglich in Betracht kommenden Sachverhalte rechtlich nicht unterschiedlich zu beurteilen. Auch bei Unterstellung des vom Kläger zuletzt behaupteten Geschehensablaufes bestehe kein innerer Zusammenhang zwischen betrieblicher Tätigkeit und Unfallereignis, so daß der Entschädigungsanspruch auf jeden Fall ausgeschlossen sei, ohne daß es einer weiteren Beweisaufnahme bedürfe. Nach seinen Angaben wolle der Kläger aus Verärgerung über die Anordnung des Oberkellners, den Rundfunkempfänger abzustellen, auf einen an der Glastrennwand zur Küche stehenden Zigarettenautomaten geschlagen haben, dabei abgerutscht und in die Scheibe raten sein. Dieser Geschehensablauf sei rechtlich nicht anders zu werten, als wenn der Kläger direkt in die Scheibe geschlagen hätte. In beiden Fällen müsse in Anbetracht der Gesamtumstände sein Verhalten als derart unvernünftig und betriebsfremd gewertet werden, daß nur eine sehr unbedeutende Verbindung mit der Betriebstätigkeit bestehe, die sich im wesentlichen in einem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Arbeit erschöpfe. Es sei zwar nicht ungewöhnlich, daß sich Arbeitnehmer über Anordnungen, Weisungen oder Rügen der Betriebsleiter oder sonstigen Vorgesetzten ärgerten oder erregten. Gegenmaßnahmen bei vermeintlich ungerechtfertigter Behandlung müßten sich aber in einem mit den aus dem Beschäftigungsverhältnis gegebenen Beziehungen adäquaten Rahmen halten. Dieser Rahmen sei hier eindeutig überschritten, denn es gehe über alle mit der versicherten Tätigkeit verbundenen Belange hinaus, wenn ein Arbeitnehmer seiner - hier nicht einmal aus seiner versicherten Tätigkeit erwachsenen - Verärgerung durch tätliche Unmuthandlungen Ausdruck verleihe, und zwar in einer derart unvernünftigen und unbeherrschten Weise, daß er dadurch fremde Sachen und sich selbst beschädige. Ein solches Handeln sei so weitgehend von der versicherten Tätigkeit entfernt, daß ein innerer Zusammenhang mit ihr und den aus ihr erwachsenen Gefahren nicht mehr angenommen werden könne. Dabei komme es auch nicht darauf an, ob etwa die gläserne Trennwand eine Stärke von 3 oder 5 mm gehabt habe. Ebenso wie durch einen Schlag direkt in die Scheibe sei durch den unbeherrschten und offensichtlich außerhalb der Kontrolle liegenden heftigen Schlag auf den Zigarettenautomaten der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gelöst worden und damit aus dem Gesichtspunkt der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr ein Entschädigungsanspruch ausgeschlossen; denn auch durch den unkontrollierten heften Schlag auf den Automaten allein hätte sich der Kläger ebenso ernsthaft verletzen können wie beim Abrutschen in die Glasscheibe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beigeladene hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet:

Der Unfall sei zwar durch eine Gefahr verursacht worden, der sich der Kläger durch eigenen Entschluß ausgesetzt und die er in diesem Sinne selbst geschaffen habe. Die Rechtskonstruktion der selbstgeschaffenen Gefahr sei jedoch nach der Rechtsprechung nur mit größter Vorsicht anzuwenden; dem werde die Entscheidung des LSG nicht gerecht. Der Entschluß des Klägers sei zwar leichtsinnig, jedoch nicht in so hohem Grade vernunftwidrig gewesen, daß es gerechtfertigt sei, ihn als die rechtlich allein wesentliche Unfallursache anzusehen mit der Folge, daß demgegenüber der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Schlagen auf den an der Trennwand stehenden Automaten und der betrieblichen Tätigkeit als rechtlich unwesentlich zurücktreten könnte. Eine unfallbringende Tätigkeit sei - auch wenn der Versicherte gegen strafrechtliche Vorschriften verstoßen habe - nur dann dem Betrieb nicht zuzurechnen, wenn dabei besondere betriebsfremde Zwecke auf Absicht und Verhalten des Versicherten derart eingewirkt hätten, daß die Beziehung der unfallbringenden Tätigkeit zum Betrieb bei der Bewertung der Unfallursache als unerheblich ausgeschieden werden müsse.

Die Beigeladene beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 1968 aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Entschädigungsleistungen an den Kläger zu verurteilen.

Die Beklagte, die das angefochtene Urteil für zutreffend hält, beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

II

Die zulässige Revision der Beigeladenen hat insofern Erfolg, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen für die Entscheidung der Frage, ob der Kläger im Unfallzeitpunkt nach § 548 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat, nicht aus.

Es ist im einzelnen nicht geklärt, durch welche Verhaltensweise sich der Kläger die Schnittverletzung an der rechten Hand zugezogen hat. Aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils kann zwar die Feststellung des LSG entnommen werden, daß der Kläger sich über die Anordnung des Oberkellners, das Rundfunkgerät abzustellen, geärgert hat und seinem Unmut darüber Ausdruck verleihen wollte. Jedoch ist insbesondere offengeblieben, ob sich der Kläger durch einen - bewußt - direkt in die Glastrennwand geführten Faustschlag oder etwa dadurch verletzt hat, daß er auf den unmittelbar vor der Wand stehenden Zigarettenautomaten schlug und von dort aus mit der Hand - versehentlich - in die Glaswand "abrutschte". Das LSG hat sich der Notwendigkeit weiterer Ermittlungen zur Klärung des Sachverhalts für enthoben erachtet und von einer Beweiswürdigung abgesehen, weil nach seiner Auffassung bei beiden von ihm in Betracht gezogenen Geschehensabläufen die Entschädigungsansprüche des Klägers ausgeschlossen sind. Dieser Auffassung kann nicht uneingeschränkt beigepflichtet werden.

Das LSG hat nicht ausreichend berücksichtigt, daß nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. SozR Nr. 31 zu § 548 RVO mit weiteren Nachweisen) während einer dem privaten Lebensbereich zuzurechnenden Betätigung, die nach natürlicher Betrachtungsweise nur zu einer geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit geführt hat, der Unfallversicherungsschutz nicht entfällt. Wie der Senat (aaO) ausgeführt hat, richtet sich die Beurteilung, ob eine Unterbrechung nur geringfügig ist, zwar insbesondere nach der Zeit, die der Versicherte für die private Betätigung aufgewendet hat oder voraussichtlich hätte aufwenden müssen, und nach der Entfernung des Zieles, das der Versicherte von seinem Arbeitsplatz aus erreicht hat oder hätte erreichen wollen. Dies sind jedoch nicht die einzigen Kriterien, die zu berücksichtigen sind, maßgebend sind vielmehr stets die gesamten Umstände des Einzelfalles (vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl., S. 480 t).

Unter diesen Gesichtspunkten ist der Versicherungsschutz bei dem vom LSG nur unterstellten - nicht jedoch tatsächlich festgestellten - Geschehensablauf nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Nach der Meinung des Senats würde es den tatsächlichen Verhältnissen im Arbeitsleben nicht gerecht, den Versicherungsschutz ausnahmslos in den Fällen als unterbrochen anzusehen, in denen ein Arbeitnehmer seine versicherte Tätigkeit ganz kurzfristig unterbricht, um seine Verärgerung über eine als ungerecht empfundene Maßregelung im Betrieb "abzureagieren" - etwa dadurch, daß er mit der Faust auf seinen Arbeitstisch oder einen anderen Betriebsgegenstand schlägt. Es ist offengeblieben, ob diesen Fallgestaltungen die Verhaltensweise des Klägers vergleichbar war. Deshalb läßt sich entgegen der Auffassung des LSG die Frage, ob der Kläger unter Versicherungsschutz gestanden hat, noch nicht abschließend beurteilen. Bei der rechtlichen Wertung des im einzelnen noch festzustellenden Sachverhalts wird das LSG darüber hinaus zu berücksichtigen haben, daß auch während einer nach Zeitaufwand und räumlicher Beziehung zum Arbeitsplatz nur geringfügigen Unterbrechung der Versicherungsschutz gleichwohl entfällt, wenn die in die versicherte Tätigkeit eingeschobene private Verrichtung nicht lediglich - wie es in ihrer Natur liegt - betriebsfremd ist, sondern sich nach Beweggrund und Zweck als eindeutig betriebswidrig darstellt (vgl. Urt. des erkennenden Senats in SozR Nr. 31 zu § 548 RVO). Nach der Lage des Falles dürfte sich bei der für die rechtliche Beurteilung maßgebenden Frage, welcher der vom LSG in Betracht gezogenen Geschehensabläufe zu dem Unfall geführt hat, u.a. die Prüfung anbieten, ob sich das Loch in der gläsernen Trennwand tatsächlich etwa 20 cm oberhalb des Niveaus des Zigarettenautomaten befunden hat; es erscheint nicht ausgeschlossen, daß aus einem solchen Umstand - gegebenenfalls mit Hilfe eines technischen Sachverständigen - Schlüsse auf die Verhaltensweise des Klägers gezogen werden können, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, ob er sich die Verletzung durch ein eindeutig betriebswidriges Verhalten oder sogar durch eine - den Versicherungsschutz ebenfalls ausschließende - sogenannte selbstgeschaffene Gefahr (vgl. u.a. SozR Nr. 77 zu § 542 RVO aF) zugezogen hat.

Auf die Revision der Beigeladenen war demnach das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669472

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