Leitsatz (amtlich)

Eine in die betriebliche Tätigkeit eingeschobene private Verrichtung unterbricht den Versicherungsschutz nicht, wenn sie insbesondere wegen ihres zeitlichen und räumlichen Umfangs als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund tritt.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 21. April 1965, die Urteile des Sozialgerichts Dortmund vom 24. Mai 1966 und des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 1967 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 28. Oktober 1964 Entschädigungsleistungen zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten aller Rechtszüge zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger begehrt Entschädigung wegen eines am 28. Oktober 1964 erlittenen Unfalls. An diesem Tage war der Kläger als Schaffner auf dem Triebwagen eines Straßenbahnzuges der Linie 19 beschäftigt, der zwischen D-W und D-D verkehrte. Sein Dienst hatte um 5,38 Uhr begonnen und hätte um 13,28 Uhr geendet. Als der Straßenbahnzug gegen 7,45 Uhr zwei Haltestellen vor der Endstation an der W Straße hielt und die dort befindliche Verkehrsampel in Fahrtrichtung der Straßenbahn auf "Rot" stand, verließ der Kläger den Triebwagen und ging um diesen vorne herum, um sich aus einem Zigarettenautomaten auf der anderen Straßenseite Zigaretten zu besorgen; die Entfernung zwischen dem Straßenbahnzug und dem Zigarettenautomaten betrug etwa 5 bis 6 m. Beim Überschreiten der Gleise der Gegenrichtung blieb der Kläger mit einem Fuß in einer Schiene hängen und stürzte; dabei zog er sich einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels zu. Er wurde deswegen bis zum 22. Januar 1965 stationär behandelt.

Durch Bescheid vom 21. April 1965 lehnte die Beklagte einen Entschädigungsanspruch des Klägers ab, weil das Zigarettenholen eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit sei, bei der kein Versicherungsschutz bestehe, es sei denn, daß die Zigaretten wegen besonderer Umstände notwendig seien, um die Fähigkeit zur Arbeit aufrecht zu erhalten. Solche besonderen Umstände, die das Rauchen für den Kläger unbedingt erforderlich gemacht hätten, seien am Unfalltage nicht vorhanden gewesen. Der Kläger habe sich erst zwei Stunden im Dienst befunden, der normal und ohne besondere Arbeitsbelastung verlaufen sei. Versicherungsschutz habe auch nicht bestanden, weil die Unterbrechung der Betriebstätigkeit nur von sehr kurzer Dauer gewesen sei. Denn neben der Dauer sei zu berücksichtigen, daß der Kläger den Straßenbahnwagen entgegen einem betrieblichen Verbot verlassen und damit den Interessen des Betriebes entgegen gehandelt habe. Die Unterbrechung der Betriebstätigkeit sei daher als betriebsfremdes Verhalten anzusehen und so wesentlich, daß sie auch zur Unterbrechung des Versicherungsschutzes geführt habe.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts (SG) Dortmund vom 24. Mai 1966; Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 1967). Das LSG hat u.a. ausgeführt: Das Rauchen und das Besorgen von Zigaretten seien in der Regel eine private, dem persönlichen Bereich zuzurechnende Tätigkeit, die aber je nach Lage des Einzelfalles beim Nachweis besonderer Umstände auch mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängen könne. Mit dem Nikotingenuß dürfe der Beschädigte nicht nur einer lieben Gewohnheit huldigen wollen, sondern das Rauchen müsse für ihn in der jeweiligen Situation eine Notwendigkeit bedeuten, die in ihrer Unabweisbarkeit etwa der Stillung des Hungergefühls gleichkomme. Dabei könne die Betriebsbezogenheit des Rauchens und damit des Zigarettenbesorgens unabhängig von den Belastungen und Einwirkungen des Arbeitsmilieus allein aus der Person des Beschäftigten folgen, wenn er sich aus irgendwelchen Gründen außergewöhnlich abgespannt fühle und einen für die zu leistende Arbeit nachteiligen Leistungsabfall zu überwinden suche.

Beim Kläger hätten keine dieser Umstände vorgelegen, die das Besorgen von Zigaretten als wesentlich betriebsbedingt erscheinen ließen. Er sei im Zeitpunkt des Unfalls erst zwei Stunden im Dienst gewesen. Die Betriebsverhältnisse hätten beim Kläger keine besondere Abgespanntheit hervorgerufen, die eine unabweisbare Notwendigkeit zum Rauchen begründet hätten. Das Rauchbedürfnis des Klägers folge zwanglos daraus, daß er ein starker Raucher sei (30 Zigaretten pro Tag). Er habe schon vor dem Unfall versucht, Zigaretten von seinen Arbeitskollegen zu bekommen, da er schon bei Dienstbeginn keine Zigaretten gehabt hatte. Individuelle Bedürfnisse, die unabhängig von der Betriebstätigkeit bestehen und deren Befriedigung etwa zur gleichen Zeit wünschenswert oder sogar notwendig seien, auch wenn keine Arbeit geleistet werde, seien nicht wesentlich betriebsbedingt. Sie seien rechtlich nicht anders zu beurteilen wie die Verrichtungen, die erforderlich seien, um sich allgemein arbeitsfähig zu machen oder zu erhalten.

Da das Besorgen der Zigaretten nicht wesentlich mit der Betriebstätigkeit des Klägers verknüpft gewesen sei, habe sich der Unfall während einer örtlich, zeitlich und der Zweckbestimmung nach von der Betriebstätigkeit abgrenzbaren Verrichtung ereignet. Es habe sich auch um eine rechtlich wesentliche Unterbrechung des Betriebsweges gehandelt, bei welcher der Versicherungsschutz entfalle. Nach der bestehenden betrieblichen Anordnung habe sich der Kläger nicht von dem Straßenbahnwagen entfernen dürfen. Zwar schließe das Nichteinhalten eines betrieblichen Verbots den Versicherungsschutz allein nicht aus. Jedoch werde die Unterbrechung der Betriebstätigkeit ihrer Zweckbestimmung nach jedenfalls dann wesentlich, wenn sie gegen ein betriebliches Verbot verstoße.

Dagegen wendet sich der Kläger mit der - zugelassenen - Revision. Er trägt vor, daß eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit dann als eine nur geringfügige, den Versicherungsschutz nicht ausschließende Unterbrechung angesehen werde, wenn der Versicherte den örtlichen Bereich der Straße nicht verlasse, auf dem sich das Fahrzeug der betrieblichen Bestimmung nach fortbewege. Es komme danach gar nicht darauf an, ob er habe Tabakwaren besorgen oder sonstige private Einkäufe habe tätigen wollen. Belanglos sei, ob er den Straßenbahnwagen habe verlassen dürfen, weil verbotswidriges Handeln den Versicherungsschutz nicht ausschließe. Von einem betriebsfremden Handeln, durch das der Versicherungsschutz entfallen könne, könne nicht die Rede sein. Dazu müsse ein Verhalten an den Tag gelegt werden, das nach Beweggrund und Zweck eindeutig jedem betrieblichen Interesse zuwiderlaufe. Eine solche betriebswidrige Betätigung könne in dem Besorgen von Zigaretten nicht gesehen werden. Der Rauchgenuß habe auf die weitere Betriebstätigkeit einwirken sollen, und die beabsichtigte Unterbrechung sei zeitlich und räumlich so geringfügig gewesen, daß sie - obwohl privaten Interessen dienend - nicht als rechtsvernichtend angesehen werden könne. Sein Verhalten sei auch nicht so sorglos und vernunftwidrig gewesen, daß nicht mehr die betriebliche Tätigkeit, sondern die selbst geschaffene Gefahr als die rechtlich wesentliche Ursache für den Unfall anzusehen sei. Er habe die Rotphase an der Straßenkreuzung für seine Besorgung ausnutzen wollen; für ihn habe dabei "Grün" bestanden. Der Unfall sei auch nicht einem völlig verkehrswidrigem Verhalten, sondern dem Umstand zuzuschreiben, daß er an einer Schiene hängen geblieben sei.

Der Kläger beantragt,

die angefochtene Entscheidung, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 24. Mai 1966 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. April 1965 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Entschädigungsleistungen wegen des Unfalls vom 28. Oktober 1964 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils und trägt ergänzend vor, daß der Gang des Klägers zum Zigarettenautomaten besonders gefährlich gewesen sei, weil jeden Augenblick damit gerechnet werden mußte, daß die Ampel auf "Grün" umspringen und der Straßenbahnzug abfahren würde. Das Verhalten des Klägers sei aber auch deshalb unverständlich und betriebsfremd oder gar betriebsfeindlich, weil er beim Aufenthalt an der nur zwei Haltestellen weiter gelegenen Endstation sich Zigaretten hätte holen können.

II

Die form- und fristgerecht eingelegt Revision des Klägers ist begründet.

Der Kläger stand bei dem Unfall am 28. Oktober 1964 unter Versicherungsschutz.

Bei der Beurteilung der Streitsache ist davon auszugehen, daß der Kläger weder auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von der Arbeitsstätte (§ 550 Abs. 1 Satz 1 RVO) noch auf einem Betriebsweg (§ 548 Abs. 1 Satz 1 RVO) verunglückt ist. Es kann offen bleiben, wie der Begriff der Betriebsstätte bei einem Straßenbahnschaffner auszulegen ist. Wesentlich ist hier, daß der Kläger seine betriebliche Tätigkeit als Straßenbahnschaffner unterbrochen hat, um sich Zigaretten zu holen. Ob diese Besorgung noch mit der versicherten Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang gestanden hat (BSG 12, 254; SozR Nr. 15 zu § 550 RVO), braucht hier jedoch nicht entschieden zu werden. Denn selbst wenn es sich bei dem Gang zum Zigarettenautomaten um eine dem privaten und daher unversicherten Lebensbereich des Klägers zuzurechnende Betätigung gehandelt hätte, war währenddessen der Versicherungsschutz nicht unterbrochen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (unveröffentlichte Urteile vom 28. Oktober 1966 - 2 RU 234/63 -, 14. Dezember 1967 - 2 RU 190/65 -, 14. Dezember 1967 - 2 RU 220/66 -, 31. Oktober 1969 - 2 RU 311/68 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 7. Auflg. S. 480 t) entfällt der Versicherungsschutz nicht, wenn eine private Besorgung nach natürlicher Betrachtungsweise nur zu einer geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit führt. Ob eine Unterbrechung geringfügig ist, richtet sich insbesondere nach der Zeit, die der Versicherte für die private Besorgung aufgewandt hat oder voraussichtlich hätte aufwenden müssen und nach der räumlichen Entfernung des Ziels, welches der Versicherte von seinem Arbeitsplatz aus hätte erreichen wollen.

Der vorliegende Sachverhalt ist dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger während einer Rotphase der Verkehrsampel für die Fahrtrichtung der Straßenbahn den Triebwagen, in dem er als Schaffner tätig war, verlassen hat, um aus einem 5 bis 6 m entfernten Zigarettenautomaten auf der anderen Straßenseite Zigaretten zu holen, er aber schon beim Überqueren der Gleise der Gegenrichtung mit dem Fuß in einer Schiene hängen blieb und stürzte. Für den gesamten Weg hin und zurück zum Zigarettenautomaten und für das Bedienen des Automaten hätte der Kläger weit weniger als eine Minute benötigt. Die betriebliche Tätigkeit ist hier durch das Besorgen der Zigaretten in zeitlich und räumlich so geringem Umfang unterbrochen worden, daß die private Verrichtung als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund tritt und nicht zu einer Unterbrechung des Versicherungsschutzes geführt hat.

Die nur einige Sekunden dauernde eingeschobene private Verrichtung hat auch nicht deshalb zur Unterbrechung des Versicherungsschutzes geführt, weil sich der Kläger nach den betrieblichen Anweisungen nicht von seinem Straßenbahnzug entfernen durfte. Die Handlung des Klägers war zwar, wie es in der Natur einer eingeschobenen privaten Verrichtung liegt, betriebsfremd; jedoch führt das allein nicht zu einer Unterbrechung des Versicherungsschutzes. Eine andere Auffassung ließe sich rechtfertigen, wenn der Versicherte mit der seinen privaten Interessen dienenden Verrichtung ein Verhalten an den Tag legt, das nach Beweggrund und Zweck eine eindeutig betriebswidrige Betätigung darstellt. So hat der erkennende Senat den Versicherungsschutz bei einem Baggerführer als unterbrochen angesehen, der tödlich verunglückte, als er entgegen seinem Auftrag, den Transport eines Raupenbaggers auf einem Tieflader zu einem anderen Ort zu begleiten und den Bagger dort abzuladen, während der Fahrt sich entschloß, den Transport zu verlassen, um aus rein privaten Gründen mit einer ihm günstig erscheinenden anderen Fahrgelegenheit nach Hause zurückzukehren, und dabei vom Tieflader fiel (Urt. vom 31. März 1965 - 2 RU 200/64 - in BG 1965, 273). Demgegenüber war das Verhalten des Klägers nicht in dieser Weise betriebswidrig. Der Straßenbahnzug stand an der Kreuzung, weil die Verkehrsampel in seiner Fahrtrichtung "Rot" zeigte. Es ist nichts dafür dargetan, daß der Kläger zu diesem Zeitpunkt etwa als Schaffner zu tun hatte, stattdessen aber Zigaretten holen wollte oder die Weiterfahrt des Straßenbahnzuges durch sein Aussteigen - wäre nicht der Unfall eingetreten - verzögert wurde.

Schließlich war der Versicherungsschutz auch nicht deshalb unterbrochen, weil der Kläger sich - wie die Revision meint - bei der beabsichtigten Besorgung von Zigaretten durch ein in hohem Maße vernunftwidriges Verhalten in eine Gefahr begeben hat, der er erlegen ist (vgl. u.a. SozR Nr. 77 zu § 542 RVO aF). Da die Verkehrsampel in der Fahrtrichtung des Straßenbahnzuges "Rot" zeigte, war der Kläger beim Überqueren der Straße durch den sich in derselben Fahrtrichtung bewegenden Verkehr nicht gefährdet. Sein Verhalten mag zwar im Hinblick auf den zu erwartenden Phasenwechsel der Ampel unachtsam oder gar leichtsinnig gewesen sein, es ist aber nicht als in hohem Maße sorglos oder vernunftwidrig zu bezeichnen. Abgesehen davon war die rechtlich wesentliche Ursache für den Unfall nicht die durch das Überqueren der Straße herbeigeführte Gefahr. Der Versicherungsschutz war somit im Zeitpunkt des Unfalls nicht unterbrochen.

Der Kläger hat daher wegen der Folgen des durch den Arbeitsunfall vom 28. Oktober 1964 verursachten Oberschenkelbruches rechts einen Anspruch gegen die Beklagte auf Entschädigungsleistungen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669899

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