Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfall auf der Rückkehr von der Familienwohnung zur Unterkunft

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Versicherter, der auf der Rückkehr von seiner Familie und seiner Familienwohnung - in Hamburg - zu seiner Unterkunft - in Werne (Lippe) -, die früher seine Familienwohnung war, verunglückt, steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 7. November 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin war in zweiter Ehe mit dem Diplomingenieur ... (K.) verheiratet, der als Betriebschemiker bei der Firma in Werne (Lippe) beschäftigt war. Sie begehrt von der Beklagten Witwenrente, weil K. auf der Rückkehr von einem Wochenendbesuch am 4. Februar 1962 gegen 22.30 Uhr einem tödlichen Verkehrsunfall erlegen ist.

K. war polizeilich nur in Werne gemeldet, wo er eine auf dem Werksgelände gelegene, mit eigenen Möbeln eingerichtete Betriebswohnung von drei Zimmern innehatte. Bis zum März 1960 hatte auch die Klägerin dort gewohnt, dann verzog sie mit dem 1943 geborenen Bernd B, ihrem Sohn aus erster Ehe, nach Hamburg, wo sie eine neue Arbeitsstelle antrat. Seit August 1961 bewohnte sie in Hamburg-B. ein mit eigenen Möbeln ausgestattetes Einfamilienreihenhaus auf Grund eines Nutzungsvertrags zwischen den Eheleuten K. und einer Wohnungsbaugesellschaft; das Haus wurde nach dem Tod des K. Eigentum der Klägerin. Die Klägerin und ihr Sohn waren mit Hauptwohnsitz in Werne, mit Nebenwohnsitz in Hamburg gemeldet. K. pflegte alle 14 Tage seine Ehefrau und seinen Stiefsohn in Hamburg übers Wochenende zu besuchen, so auch an den Tagen vom 2. bis zum 4. Februar 1962. Nachdem er am Abend des 4. Februar 1962 wieder in Werne eingetroffen war, wurde er dort auf dem Weg vom Bahnhof zum Werksgeländer von einem Kraftwagen angefahren und getötet. Bei den Ermittlungen der Beklagten erklärte u. a. Frau K, die gleichfalls eine Dienstwohnung auf dem Werksgelände bewohnte, sie habe einmal ein Gespräch der Eheleute K. mitangehört, in dessen Verlauf K. es mit der Begründung, seine Wohnung sei da, wo er seine berufliche Arbeit habe, abgelehnt habe, einen Küchenschrank von Werne nach Hamburg bringen zu lassen. Ferner hatte Frau K erklärt, K. sei etwa alle 14 Tage nach Hamburg gefahren; in der Woche dazwischen sei dann meist die Klägerin nach Werne gekommen und habe übers Wochenende die notwendigen Haushaltsarbeiten erledigt.

Mit Bescheid vom 14. Juni 1962 lehnte die Beklagte die Entschädigungsansprüche der Klägerin mit der Begründung ab, als Familienwohnung im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF müsse die von K. seit 1959 innegehabte Werkswohnung gelten. Die unfallbringende Reise von Werne nach Hamburg und zurück habe daher nicht von der Unterkunft zur Familienwohnung, sondern von der einen Familienwohnung zur anderen geführt.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat durch Urteil vom 7. März 1963 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenbezüge aus Anlaß des Unfalltodes des K. zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 7. November 1963 die Berufung zurückgewiesen. Der Begriff der ständigen Familienwohnung sei nicht eng auszulegen. Spätestens seit August 1961 sei das Reihenhaus in Hamburg-B. zum Mittelpunkt der Lebensverhältnisse für K. und seine Familie geworden. Die Auffassung der Beklagten, K. habe zwei Familienwohnungen gehabt, nämlich die vollmöblierte Betriebswohnung in Werne, wo ihn die Klägerin bisweilen übers Wochenende besuchte, und die neue Wohnung in Hamburg, treffe nicht zu. K. habe das Reihenhaus in der Absicht gemietet, es demnächst käuflich zu erwerben, um in absehbarer Zeit in Hamburg eine neue Heimat zu finden. Unter diesen Umständen sei der von der Beklagten unter Bezugnahme auf das LSG Baden-Württemberg (Breith. 1963, 311) vertretenen Auffassung nicht zu folgen, die Fürsorge der Ehefrau sei ein wesentliches Merkmal für die Bestimmung des ständigen Familienwohnsitzes, die Klägerin habe jedoch von Hamburg aus ihren nur alle 14 Tage zu Besuch kommenden Ehemann nicht betreuen können. Das Merkmal der persönlichen Fürsorge werde zweitrangig, wenn wegen der räumlichen Entfernung zwischen Arbeitsstätte und Familienwohnung eine laufende tatsächliche Betreuung erschwert und die Ehefrau, um den gemeinsamen Erwerb eines Hauses nebst Einrichtung zu ermöglichen, selbst berufstätig sei. Nach der Lebenserfahrung könne seit August 1961 nur noch das Reihenhaus in Hamburg-B. als ständige Familienwohnung des K., die Betriebswohnung in Werne aber nur noch als seine Unterkunft angesehen werden. Der Versicherungsschutz sei auch nicht entfallen, weil K. ohne betriebliche Notwendigkeit seine Wohnung nach Hamburg verlegt und damit die große Entfernung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung selbst geschaffen hätte. § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF erfordere nicht, daß diese Entfernung durch die Aufnahme der Arbeit verursacht sein müsse. Die polizeiliche Meldung des K. nur in Werne sei versicherungsrechtlich unerheblich, desgleichen der Umstand, daß die dortige Unterkunft in einer vollmöblierten Dreizimmerwohnung bestanden habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 27. November 1963 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20. und 24. Dezember 1963 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 27. Februar 1964 verlängerten Frist wie folgt begründet: Das LSG habe den Begriff Familienwohnung verkannt. K. habe nicht zwei ständige Familienwohnungen gleichzeitig besitzen können, zwischen denen er sich einen versicherungsgeschützten Heimweg von der Arbeitsstätte aussuchen durfte. Unbeachtet gelassen habe das LSG die Bekundung der Frau K, daß K. geäußert habe, er werde den Küchenschrank nicht nach Hamburg bringen lassen, da seine Wohnung sich lediglich am Ort der Arbeitsstätte befinde. Hiermit überein stimme die - vom LSG gleichfalls außer acht gelassene - Angabe der Klägerin, die Eheleute hätten die Wochenenden jeweils abwechselnd mal in Hamburg und mal in Werne verbracht. Für K. habe sich der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse offensichtlich in der Betriebswohnung in Werne befunden. Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

In bezug auf das Verfahren des LSG rügt die Revision Verstöße gegen § 128 Abs. 1 SGG. Gegen die auf dieser Vorschrift beruhende Pflicht, bei der Entscheidung das Gesamtergebnis des Verfahrens zu berücksichtigen, habe das LSG dadurch verstoßen, daß es die in den Verwaltungsakten enthaltenen Äußerungen der Zeugin K und der Klägerin unbeachtet gelassen habe. Diese Rügen sind unbegründet.

Die Angaben der Frau K über das von ihr mitangehörte Gespräch der Eheleute K. geben keinen Aufschluß darüber, wann dieses Gespräch stattgefunden hat, lassen also nicht erkennen, ob K. die fragliche Äußerung in der Zeit nach August 1961, auf die es dem LSG entscheidend ankam, getan hat; im übrigen hat auch die Beklagte diese Bekundung der Frau K offenbar für so belanglos gehalten, daß sie selbst hierauf in beiden Tatsacheninstanzen nicht hingewiesen hat. Unter diesen Umständen durfte das LSG davon absehen, in den Gründen des angefochtenen Urteils sich mit dieser Einzelheit aus den von der Beklagten angestellten Ermittlungen besonders auseinanderzusetzen.

Hinsichtlich der Frage, wie oft die Klägerin übers Wochenende ihren Ehemann in Werne besuchte, hat das LSG festgestellt, dies sei "bisweilen" der Fall gewesen; damit hat das LSG erkennbar zum Ausdruck gebracht, diese Besuche seien in größeren Zeitabständen erfolgt als die Wochenendfahrten des K., der alle 14 Tage seine Familie in Hamburg besucht hatte. Die Revision macht hiergegen geltend, die Klägerin habe nach dem - vom LSG nicht beachteten - Ermittlungsbericht vom 26. April 1962 erklärt, daß sie und ihr Ehemann die Wochenenden jeweils abwechselnd einmal in Hamburg und einmal in Werne verbracht hätten. Bei diesem Vorbringen übersieht die Revision indessen, daß die Klägerin bei jener ersten Darstellung nicht verblieben ist, sondern bei ihrer Anhörung in der Verhandlung vor dem SG am 21. Februar 1963 erklärt hat, sie sei nur sehr unregelmäßig nach Werne gefahren, es sei oft vorgekommen, daß K. mehrere Wochenenden hintereinander zu ihr nach Hamburg gekommen sei. Das LSG hat die Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung nicht überschritten, indem es diesen - im einzelnen von der Klägerin näher erläuterten - Angaben gefolgt ist, zumal da diese spätere Darstellung sich mit den Auskünften deckte, welche die Zeugen F. und K. bei den von der Beklagten angestellten Ermittlungen gegeben hatten.

Die hiernach für die Entscheidung über die Revision bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) rechtfertigen die Anwendung des § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF. Als ständige Familienwohnung im Sinne dieser Vorschrift ist - wie das LSG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. zuletzt SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 43 Nr. 48 mit weiteren Nachweisen) angenommen hat - diejenige Wohnung anzusehen, die für längere Zeit den "Mittelpunkt der Lebensverhältnisse" des Beschäftigten bildet. Für K. befand sich zur Zeit des Unfalls dieser Mittelpunkt nicht mehr am Ort seiner Arbeitsstätte, sondern in dem von den Eheleuten gemeinsam genutzten Eigenheim in Hamburg-B. . Hierfür sprechen insbesondere die vom LSG festgestellten Umstände, daß K. beabsichtigte, demnächst dieses Eigenheim käuflich zu erwerben, um in absehbarer Zeit ganz nach Hamburg übersiedeln zu können, und daß seine Fahrten nach Hamburg häufiger stattfanden als die Gegenbesuche der Klägerin in Werne. Die Auffassung der Beklagten, für K. habe sowohl die Dienstwohnung in Werne als auch das Eigenheim in Hamburg eine Familienwohnung bedeutet, ist unter diesen Umständen nicht vertretbar; es bedarf daher keiner Prüfung der Frage, wie ein Fall, in dem jemand wirklich zwei gleichrangige Familienwohnungen besitzt, versicherungsrechtlich zu beurteilen wäre.

Das LSG hat zutreffend angenommen, daß seit der Einrichtung des Eigenheimes die bis dahin als Familienwohnung dienende Werkswohnung nur noch als "Unterkunft" des K. zu betrachten war. Der Umstand, daß dieser Funktionswandel der Werkswohnung durch betriebsfremde Anlässe herbeigeführt wurde, steht der Bejahung des Versicherungsschutzes nicht entgegen. Wie nämlich der erkennende Senat bereits entschieden hat, sind die Voraussetzungen des Versicherungsschutzes nach § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF auch erfüllt, wenn die ursprünglich am Ort der Arbeitsstätte vorhandene Familienwohnung später aus Gründen, die mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängen, nach auswärts verlegt worden ist (vgl. BSG 2178, 81).

Die Revision war hiernach zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375266

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