Entscheidungsstichwort (Thema)

Bindende Entscheidung des beigeladenen Versicherungsträgers. fehlende Verurteilungsmöglichkeit. Zugunstenverfahren

 

Orientierungssatz

§ 75 Abs 5 SGG läßt eine Verurteilung des beigeladenen Versicherungsträgers zu, ohne daß dieser zuvor einen Bescheid erlassen oder ein notwendiges Vorverfahren durchgeführt hat. Hierfür fehlt es aber an einer Grundlage, wenn der Beigeladene bereits einen bindend gewordenen ablehnenden Bescheid erlassen hat oder rechtskräftig befreit worden ist. § 75 Abs 5 SGG ist nicht als eine andere Bestimmung des Gesetzes (vgl den "Soweitsatz" des § 77 SGG) anzusehen, mit der die Schranke der Bindungswirkung durchbrochen werden kann. Dies gilt auch für die Fälle, in denen der Kläger einen Anspruch auf Rücknahme des früheren Bescheides nach § 44 Abs 1 SGB 10 geltend machen kann. Denn diese Vorschrift betrifft das Verwaltungsverfahren und regelt das Recht der Behörde zur Rücknahme eines bindend gewordenen Verwaltungsaktes und die Pflicht zu einer eventuellen Neufeststellung. Dagegen kann sie prozessuale Befugnisse des Gerichts nicht erweitern. Dem stehen zudem der Ausnahmecharakter des § 75 Abs 5 SGG und die abschließenden, besonderen Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens bei widersprechenden Entscheidungen (§§ 180, 181 SGG) entgegen. Liegen deren Voraussetzungen nicht vor, so besteht für das Gericht keine Möglichkeit, einen Beigeladenen unter Aufhebung der bindend gewordenen Bescheide zur Leistung zu verurteilen.

 

Normenkette

SGG § 75 Abs 5, §§ 77, 180, 181 S 1; SGB 10 § 44 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 25.08.1987; Aktenzeichen L 7 Ar 341/84)

SG Hannover (Entscheidung vom 17.10.1984; Aktenzeichen S 3 Ar 356/83)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die beigeladene Berufsgenossenschaft (BG) verpflichtet ist, der Klägerin Kosten für die selbst durchgeführte Umschulung zur Krankenpflegehelferin zu erstatten.

Die 1941 geborene Klägerin war von 1960 bis 1962 als Fotografin und Fotolaborantin erwerbstätig. Nach einer längeren Beschäftigungspause nahm sie 1971 die Tätigkeit einer Verkäuferin auf und arbeitete ab Juli 1972 als Aushilfe in einer Kantine. Am 3. Mai 1975 erlitt sie einen Arbeitsunfall, wegen dessen Folgen sie von der Beigeladenen entschädigt wird (MdE 30 vH). Trotz der Behinderungen im Bereich des linken Sprunggelenks arbeitete die Klägerin als Kassiererin und als Verkäuferin weiter. Nach einer Versteifungsoperation des linken oberen Sprunggelenks und einer Nachoperation endete ihr Beschäftigungsverhältnis zum Jahresende 1981.

Im November 1981 beantragte die Klägerin bei der Beigeladenen berufliche Rehabilitationsmaßnahmen. Dieser Antrag wurde von der Beigeladenen nach ärztlicher Prüfung mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin sei noch in der Lage, ganztägig im Wechsel von Stehen und Gehen in den von ihr zuletzt ausgeübten Berufen tätig zu sein. Sofern die Aufnahme einer Beschäftigung als Verkäuferin wegen der Unfallfolgen nicht möglich sein sollte, wäre die Vermittlung in Bürotätigkeiten zur dauernden Wiedereingliederung anzustreben (Bescheid vom 5. März 1982, Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 1982). Hiergegen hat die Klägerin keinen Rechtsbehelf eingelegt.

In dem parallel hierzu bei der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) eingeleiteten Reha-Verfahren begehrte die Klägerin Umschulung zur Krankenpflegehelferin. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 27. Januar 1983 abgelehnt, und zwar mit der Begründung, die Klägerin sei aus gesundheitlichen Gründen für den angestrebten Beruf nicht geeignet. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 1983). Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die Klage mit Urteil vom 17. Oktober 1984 abgewiesen, weil die erstrebte Maßnahme unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten nicht zweckmäßig sei (§ 36 Nr 3 des Arbeitsförderungsgesetzes -AFG-). Dies habe die Arbeitsberaterin W.         als Zeugin bekundet. Dem stehe nicht entgegen, daß sich die Klägerin in der Zeit vom 1. April 1983 bis 31. März 1984 auf eigene Initiative zur Krankenpflegehelferin habe ausbilden lassen und nach erfolgreicher Prüfung eine Anstellung in ihrem neuen Beruf gefunden habe.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung insoweit zurückgewiesen, als die Klage auf eine Verurteilung der Beklagten gerichtet war. Im übrigen hat es die im Berufungsverfahren beigeladene BG auf den hilfsweise gestellten Antrag verurteilt, der Klägerin unter Aufhebung der Bescheide vom 5. März und 21. Juli 1982 "Berufshilfe für deren Umschulung" zu gewähren (Urteil vom 25. August 1987). Zur Begründung verwies das LSG auf § 57 AFG, der nur eine subsidiäre Zuständigkeit der BA vorsehe. Zuständiger Reha-Träger sei im vorliegenden Fall die Beigeladene, die gemäß § 547 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nach Eintritt des Arbeitsunfalles Berufshilfe zu gewähren und ihre Zuständigkeit in den rechtsverbindlich gewordenen Bescheiden auch bejaht habe. Die Rechtsverbindlichkeit dieser Bescheide stehe einer Verurteilung nicht entgegen; denn der nach § 75 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beigeladene Versicherungsträger könne gemäß § 75 Abs 5 SGG trotz Vorliegens eines bindenden Bescheides verurteilt werden, wenn der Kläger einen Anspruch auf Erteilung eines Zugunstenbescheides habe. Dies habe der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinen Urteilen vom 21. Mai 1980 (BSGE 50, 111) und 24. Mai 1984 (BSGE 57, 1) mehrfach entschieden. Dieser Rechtsprechung sei gegenüber der Auffassung des 11. Senats des BSG (Urteil vom 13. August 1981, SozR 1500 § 75 Nr 38) aus prozeßökonomischen Gründen der Vorzug zu geben (vgl auch Steinmeyer, SGb 1985, 391). Die in § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) geregelte Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsakten sei weitergehend als die in §§ 180, 181 SGG vorgesehenen Lösungsmöglichkeiten bei Kompetenzkonflikten. Der Antrag auf Zugunstenentscheidung sei in dem vor dem LSG gestellten Hilfsantrag enthalten. Die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X lägen auch vor, weil die Beigeladene die beantragten Reha-Leistungen entgegen §§ 547, 556, 567 ff RVO zu Unrecht nicht erbracht habe. Zwar hätten die in den Verwaltungsverfahren gehörten Ärzte überwiegend Zweifel an der Eignung der Klägerin für den Umschulungsberuf geäußert; wie der "Verlauf der Dinge" jedoch gezeigt habe, sei die Klägerin seit ihrer Anstellung im A.  -S.    H.       wie jede andere Pflegekraft eingesetzt und belastbar.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beigeladene, das LSG habe die Bindungswirkung (§ 77 SGG) ihrer ablehnenden Bescheide vom 5. März und 21. Juli 1982 nicht hinreichend beachtet. Diese Bindungswirkung lasse eine Verurteilung des notwendig Beigeladenen nach § 75 Abs 5 SGG auch dann nicht zu, wenn der Kläger einen Anspruch auf Erteilung eines Zugunstenbescheides geltend machen könne. Die Bedeutung des § 44 SGB X und der Grundsatz der Prozeßökonomie könnten nicht maßgeblich sein, wenn klare und eindeutige gesetzliche Regelungen bestünden (§§ 77, 141 Abs 1 iVm §§ 180, 181 SGG), die einen besonderen Weg für die Überprüfung und Aufhebung bindender bzw rechtskräftiger Entscheidungen vorschrieben. Im übrigen habe es das LSG nicht nur rechtsfehlerhaft unterlassen, die bei Reha-Maßnahmen erforderliche vorausschauende Prognose zu treffen, sondern habe sich bei seiner Entscheidung im Gegensatz zu den übereinstimmenden arbeitsmedizinischen Beurteilungen allein von dem "Verlauf der Dinge" leiten lassen.

Die Beigeladene beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. August 1987 aufzuheben, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Oktober 1984 zurückzuweisen und die gegen sie gerichtete Klage abzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Beigeladenen zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beigeladenen zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen und die Beklagte zu verurteilen, ihr Berufshilfe für die Umschulung zu gewähren.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beigeladenen ist begründet.

Das LSG hat die Beigeladene nicht nach § 75 Abs 5 SGG zur Gewährung von Berufshilfe an die Klägerin verurteilen dürfen. Zu Recht rügt die Beigeladene insoweit eine Verletzung von Vorschriften des SGG.

§ 75 Abs 5 SGG bestimmt zwar allgemein, daß ein Versicherungsträger nach Beiladung verurteilt werden kann. In Rechtsprechung und Literatur ist jedoch unumstritten, daß diese Möglichkeit nicht mehr besteht, wenn der Beigeladene bereits einen - den Streitgegenstand betreffenden - bindend gewordenen ablehnenden Bescheid erlassen hat (BSGE 50, 111, 114; BSG SozR 1500 § 75 Nr 38; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, RdNr 12 zu § 75).

Seinem Sinn und Zweck nach gibt § 75 Abs 5 SGG den Gerichten aus prozeßökonomischen Gründen die Befugnis, anstelle des nicht passiv legitimierten (nicht zuständigen) verklagten den in Wahrheit leistungspflichtigen Versicherungsträger nach Beiladung zu verurteilen, um einen neuen Rechtsstreit zu vermeiden und der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen vorzubeugen, was nur möglich ist, wenn eine entgegenstehende bindende Entscheidung noch nicht ergangen ist. Die Vorschrift soll es dem Gericht ermöglichen, in einer rechtshängigen Streitsache über einen in die Zuständigkeit eines anderen Versicherungsträgers fallenden Anspruch möglichst schnell zu einer Sachentscheidung, dh zu einer Entscheidung über den Anspruch selbst zu kommen (so schon BSG SozR § 75 SGG Nr 27). Deshalb läßt § 75 Abs 5 SGG eine Verurteilung des Beigeladenen zu, ohne daß dieser zuvor einen Bescheid erlassen oder ein notwendiges Vorverfahren durchgeführt hat (BSG aaO). Hierfür fehlt es aber an einer Grundlage, wenn der Beigeladene bereits einen bindend gewordenen ablehnenden Bescheid erlassen hat oder rechtskräftig befreit worden ist. § 75 Abs 5 SGG ist nicht als eine andere Bestimmung des Gesetzes (vgl den "Soweitsatz" des § 77 SGG) anzusehen, mit der die Schranke der Bindungswirkung durchbrochen werden kann.

Dies muß nach den aufgezeigten Grundsätzen und der Systematik des SGG auch für die Fälle gelten, in denen der Kläger einen Anspruch auf Rücknahme des früheren Bescheides nach § 44 Abs 1 SGB X geltend machen kann. Denn diese Vorschrift betrifft das Verwaltungsverfahren und regelt das Recht der Behörde zur Rücknahme eines bindend gewordenen Verwaltungsaktes und die Pflicht zu einer eventuellen Neufeststellung. Dagegen kann sie prozessuale Befugnisse des Gerichts nicht erweitern. Dem stehen zudem der Ausnahmecharakter des § 75 Abs 5 SGG (vgl Peters/Sautter/Wolff, aaO, Anm 7 Buchst c zu § 75) und die abschließenden, besonderen Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens bei widersprechenden Entscheidungen (§§ 180, 181 SGG) entgegen. Liegen deren Voraussetzungen nicht vor, so besteht für das Gericht keine Möglichkeit, einen Beigeladenen unter Aufhebung der bindend gewordenen Bescheide zur Leistung zu verurteilen.

Hier war allenfalls der Verfahrensweg nach § 181 Satz 1 SGG in Betracht zu ziehen. Diese Vorschrift bietet für diejenigen Fälle eine verfahrensrechtliche Handhabe, eine bindende (rechtskräftige) Entscheidung zu beseitigen, in denen das Gericht die Frage der Passivlegitimation anders als in der bindenden Entscheidung beantworten will (BSGE 50, 111, 115; BSG SozR 1500 § 75 Nr 38). Ein solcher Widerspruch ist hier jedoch nicht gegeben. Das LSG hat eine Verpflichtung der Beklagten nämlich verneint, weil nicht diese, sondern die Beigeladene im Falle der Klägerin zuständig sei. Diese Entscheidung steht im Einklang mit den Bescheiden der Beigeladenen vom 5. März und 21. Juli 1982, durch welche die Gewährung von beruflichen Rehabilitationsleistungen nicht wegen mangelnder Zuständigkeit der Beigeladenen, sondern wegen Fehlens einer anderen Anspruchsvoraussetzung (keine unfallbedingte Gefährdung der Erwerbsfähigkeit) verneint worden war.

Die gleiche Auffassung hat der 11. Senat in dem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 13. August 1981 zu einem identischen Sachverhalt vertreten (BSG SozR 1500 § 75 Nr 38) und im Gegensatz zu der Entscheidung des 7. Senats vom 21. Mai 1980 (BSGE 50, 111, 114) ausgeführt, dessen Auffassung widerspreche der dargestellten Systematik der §§ 75 Abs 5, 180, 181 SGG. Diese Systematik würde ferner zusätzlich gestört, wenn Ansprüche auf Erteilung von Zugunstenbescheiden im Rahmen von § 75 Abs 5 SGG ohne Rücksicht auf den Grund der früheren Ablehnung verfolgt werden könnten, also auch dann, wenn die frühere Ablehnung nicht mit einer fehlenden Zuständigkeit begründet worden sei, sondern - wie hier - auf anderen Gründen beruhte. Dies bedeute allerdings nicht, daß er - der 11. Senat - iS des § 42 SGG von der Entscheidung des 7. Senats abweiche; denn dessen Auffassung habe nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung gehört. In einem späteren Urteil vom 24. Mai 1984 (BSGE 57, 1, 7) hat der 7. Senat ausgeführt, er vermöge dem 11. Senat zumindest "in dieser Ausschließlichkeit" nicht zu folgen. Eine Anrufung des Großen Senats erübrige sich jedoch, weil beide Auffassungen im zu entscheidenden Falle zum gleichen Ergebnis führten. Der erkennende Senat konnte sich daher der Auffassung des 11. Senats anschließen, ohne von einer Entscheidung des BSG iS von § 42 SGG abzuweichen.

Damit ist das Urteil des LSG aufzuheben, soweit die Beigeladene zur Leistung und zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten verurteilt worden ist. Die mit dem Hilfsantrag gegen die Beigeladene erhobene Klage war abzuweisen. Der weitere, von der Beigeladenen gestellte Antrag auf Zurückweisung der Berufung geht ins Leere, weil das LSG die Berufung der Klägerin bereits zurückgewiesen hat. Bezüglich des ursprünglich gegen die Beklagte gerichteten Anspruches liegt keine Anschlußrevision vor; insoweit ist das Urteil des LSG in Ziffer 1 des Tenors rechtskräftig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659501

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