Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsweg. Abbruch des Urlaubs. kürzeste/direkte Wegstrecke. Unfallrisiko

 

Orientierungssatz

1. Hinsichtlich der grundsätzlichen freien Wahl des Verkehrsmittels und der Wegstrecke bestehen für Betriebswege und Geschäftsreisen einerseits sowie für Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit andererseits keine wesentlichen Unterschiede, die eine unterschiedliche versicherungsrechtliche Beurteilung erfordern könnten.

2. Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes eines Verletzten, der auf Veranlassung des Unternehmers seinen Urlaub abgebrochen und für die Fahrt zu der angesetzten geschäftlichen Besprechung nicht die kürzere Strecke über die Autobahn, sondern eine landschaftlich schönere Strecke über Bundesstraßen gewählt hat.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 16.09.1982; Aktenzeichen L 6 U 146/81)

SG Hannover (Entscheidung vom 15.05.1981; Aktenzeichen S 20 U 189/79)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger bei seinem Unfall am 7. Oktober 1977 in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war. Sozialgericht (SG; Urteil vom 15. Mai 1981) und Landessozialgericht (LSG; Urteil vom 16. September 1982) haben dies angenommen.

Der Kläger war als Baustellenleiter beschäftigt. Nach seinem Urlaub, welchen er in P. am Chiemsee verbrachte, sollte er seine Arbeit am 12. Oktober 1977 wieder im Raume Oldenburg i.O. aufnehmen. Am Unfalltage wurde er telefonisch aufgefordert, nachmittags und abends an einer Kundenvorbesprechung bzw einer Baustellenleiterbesprechung in Karlsruhe teilzunehmen und den Urlaub abzubrechen. Dieser Aufforderung kam er nach. Gegen 14.30 Uhr erlitt er in der Gemeinde Oberlauterbach einen schweren Unfall.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 8. Mai 1978 die Gewährung von Leistungen ab, weil der Kläger nicht die unmittelbare und verkehrsgünstigere Autobahnverbindung, sondern eine erheblich - um 18 vH - längere Fahrstrecke gewählt habe, welche die doppelte Fahrzeit beansprucht haben würde. Diesen Weg habe der Kläger angesichts des schönen Wetters wegen der landschaftlichen Reize der Strecke gewählt.

Das SG hat die Beklagte verurteilt, die gesetzlich zustehenden Leistungen zu gewähren. In den Gründen des Urteils vom 15. Mai 1981 ist ausgeführt, der Kläger habe die Autobahn im Hinblick auf die erwarteten Baustellen und sonstigen Hindernisse gemieden. Es wäre unbillig, Versicherungsschutz zu verneinen, weil der Kläger, der sich nach seiner Meinung noch bis zum Abend des Unfalltages im Urlaub befunden habe, sich für die landschaftlich reizvollere und interessantere Strecke entschieden habe. Der Kläger habe einen Wegeunfall iS des § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erlitten. Nach der Auffassung des LSG befand der Kläger sich im Unfallzeitpunkt als Baustellenleiter auf einem Betriebsweg. Daher seien die Regelungen des § 550 Abs 1 RVO nicht uneingeschränkt anzuwenden. Bei einer Dienstreise seien die Ausgestaltung der Fahrt und die Wahl der Wegstrecke sowie die Motive hierfür für die Beantwortung der Frage nach dem Bestehen von Versicherungsschutz unerheblich. Es genüge, daß der Kläger die Strecke in der Absicht ausgesucht habe, den Ort der Tätigkeit zu erreichen. Die Berücksichtigung der landschaftlichen Lage der Strecke könne allenfalls zur Annahme einer gemischten Tätigkeit führen; die privaten Beweggründe seien jedoch hinter die beruflichen Gründe zurückgetreten.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Revision auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Meinung war die Dienstreise des Klägers keine gemischte Tätigkeit. Das LSG hätte aufklären müssen, welche Beweggründe den Kläger veranlaßt hatten, die erheblich längere Strecke auszuwählen. Es hätte sich dann ergeben, daß hierfür Beweggründe maßgeblich gewesen seien, welche in der Privatsphäre des Klägers gelegen hätten. Daher hätte das LSG Versicherungsschutz verneinen müssen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. September 1982 sowie das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 15. Mai 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Nach seiner Überzeugung hat das LSG zutreffend berücksichtigt, daß für die Zurücklegung der Strecke aus dem Urlaub nach Karlsruhe der vorzeitige Arbeitsbeginn maßgebend gewesen sei. Zudem könne es für ihn nicht nachteilig sein, daß er sich auf anderen Straßen als auf Autobahnen sicherer fühle.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG- einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Kläger erlitt am 7. Oktober 1977 einen Arbeitsunfall.

Der erkennende Senat teilt die Auffassung des LSG und der Beteiligten, daß der Versicherungsschutz des Klägers nicht aus § 550 RVO, sondern vielmehr aus § 548 Abs 1 RVO iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO herzuleiten ist. Der Kläger befand sich nicht auf einem Weg nach dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 RVO, sondern auf einer Geschäftsreise. Betriebswege und Geschäftsreisen (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 481q, 481s) werden im Unterschied zu den Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit in unmittelbarem Betriebsinteresse unternommen; sie gehen der versicherten Tätigkeit nicht lediglich voran bzw schließen sich ihr nicht lediglich an. Sie gehören vielmehr zu den in § 548 RVO aufgeführten versicherten Tätigkeiten; sie sind auch versicherungsrechtlich Teil der versicherten Tätigkeit (s ua BSGE 47, 254, 256; 51, 257, 258/259 und die Urteile des Senats vom 26. April 1973 - 2 RU 12/71 -, 11. Februar 1981 - 2 RU 87/79 - und vom 31. August 1983 - 2 RU 31/82 -; ferner Brackmann aa0 S 481q mwN; Gitter in Sozialgesetzbuch - Sozialversicherung - Gesamtkommentar, § 548 Anm 26; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 65; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 085 S 1). Der Kläger hatte aus dringenden betrieblichen Gründen nach Aufforderung seines Arbeitgebers seinen Urlaub abgebrochen und war zu einer erforderlichen Besprechung - außerhalb der gewöhnlichen Arbeitszeit - unterwegs. Die Reise vom Urlaubsort nach Karlsruhe stand somit in unmittelbarem betrieblichen Interesse.

Dem Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 RVO im Unfallzeitpunkt steht nicht entgegen, daß der Kläger für die Fahrt vom Urlaubsort nach Karlsruhe nicht die kürzeste Wegstrecke gewählt hat. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung zum Versicherungsschutz auf Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 RVO) entschieden, daß der Versicherte in der Wahl des Verkehrsmittels und in der Wahl des Weges grundsätzlich frei ist (vgl ua BSGE 4, 219, 222; BSG SozR Nr 21 zu § 543 RVO aF; BSG SozR 2200 § 550 Nr 51, 52). Die zum Versicherungsschutz nach § 550 RVO entwickelten Grundsätze sind zwar nicht uneingeschränkt für den Versicherungsschutz auf Geschäftsreisen übertragbar (s BSGE 50, 100, 102); hinsichtlich der grundsätzlich freien Wahl des Verkehrsmittels und der Wegstrecke bestehen jedoch für Betriebswege und Geschäftsreisen einerseits sowie für Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit andererseits keine wesentlichen Unterschiede, die eine unterschiedliche versicherungsrechtliche Beurteilung erfordern könnten. Ob versicherungsrechtlich etwas anderes zu gelten hätte, wenn der Versicherte die Geschäftsreise mit einem anderen Verkehrsmittel oder auf einem anderen Weg als vom Unternehmen vorgeschrieben oder vorgesehen zurücklegt, kann dahinstehen, da dies hier nicht der Fall ist. Der Kläger hat mit Beginn der Fahrt zur Kunden- und Baustellenleiterbesprechung seine versicherte Tätigkeit unter Verzicht auf die Fortsetzung seines genehmigten Urlaubs aufgenommen. Es sind aus den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß nur die Fahrt auf der Autobahn dem Unternehmen gedient und die Benutzung der Bundesstraßen dem Interesse des Unternehmens an der Reise des Klägers zur angesetzten Besprechung widersprochen hätte. Es bestanden auch keinerlei betriebliche Interessen, worauf es die Revision ua abstellt, an einer möglichst schnellen Zurücklegung des Weges. Davon hat der Kläger auch ausgehen können. Die Wahl des weiteren Weges stellt nach den zu § 550 RVO entwickelten und wegen der insoweit versicherungsrechtlich gleichen Interessenlage auch für Betriebswege und Geschäftsreisen zu § 548 RVO entsprechend anwendbaren Grundsätzen den Versicherungsschutz nur in Frage, wenn für diese Wahl andere Gründe maßgebend waren als die Absicht, den Ort der Tätigkeit zu erreichen und die dadurch bedingte Verlängerung unter Berücksichtigung aller Umstände als erheblich anzusehen ist. Die Fahrt des Klägers auf den Bundesstraßen hatte das Erreichen des Ortes der dienstlichen Besprechung zum Ziel. Der Kläger hatte nach seinen unwiderlegten Angaben die Fahrt über Bundesstraßen gewählt, um den starken Reiseverkehr auf der Autobahn, insbesondere im Raum München, zu umgehen. Ob diese Erwägung des Klägers objektiv zutreffend war, kann dahinstehen. Entscheidend ist, daß der Kläger von seinem Standpunkt aus im Hinblick auf den Wochenendverkehr der laufenden bzw bevorstehenden Herbstferien in zwei Bundesländern und die auch nach den Ermittlungen der Beklagten vorhandenen Baustellen nach objektiven Gesichtspunkten der Auffassung sein konnte, auf der Autobahn könnte ein starker Autoverkehr herrschen, den er auf den entsprechenden Bundesstraßen umgehen könne. Dabei kommt hinzu, daß die von der Beklagten insoweit für richtig erachtete abweichende Beurteilung der Verkehrslage auf der sich über mehr als sechseinhalb Monate erstreckende Einholung von vielfachen Auskünften sowie gutachtlichen Stellungnahmen sowie von ihr zugrunde gelegten Durchschnittsgeschwindigkeiten beruht und davon ausgeht, der Kläger hätte innerhalb seiner kurzen Entschließungsphase von sich aus zu denselben Ergebnissen kommen müssen. Gleiches gilt für die von der Beklagten eingeholten Unfallstatistiken. Es kann dahinstehen, ob sie vor allem im Hinblick auf das Gesamtverkehrsaufkommen und die auch auf verschiedenen Autobahnabschnitten und Bundesstraßenstrecken unterschiedlichen statistischen Unfallrisiken die von ihr gezogenen Schlußfolgerungen rechtfertigen. Versicherungsrechtlich entscheidend ist, daß dem Versicherten nicht die Fahrt auf Autobahnen aufgezwungen werden kann, worauf eine Entscheidung allein nach dem Unfallrisiko hinausliefe. Die Beklagte stützt den angefochtenen Bescheid ausschließlich und die Revision wesentlich auf die Aussage des Klägers bei seiner Vernehmung durch ihren Ermittlungsbeamten, er habe auch die landschaftlich schönere Strecke auf den Bundesstraßen ausnutzen wollen. Das LSG hat offengelassen, ob dies für den Kläger maßgebend gewesen ist. Der Senat hat deshalb zugunsten der Beklagten davon auszugehen, daß der Kläger den Weg auch gewählt hat, um "die landschaftlich reizvolle

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663679

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