Entscheidungsstichwort (Thema)

Abänderungsklage. Vollstreckungsgegenklage. Unterhaltstitel. Unterhalt. Freistellung. Freilassung. Einkommensgrenze. Treu und Glauben. Geschäftsgrundlage. Unterhaltsanspruch. Sozialhilfebedürftigkeit. Selbstbehalt. Unterhaltsfähigkeit. Bedürftigkeit. Leistungsfähigkeit. Einkommensverhältnisse Änderung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Wirkung eines vollstreckbaren Unterhaltsvergleichs als “sonstiger Grund” iS des § 65 Abs 1 S 1 RKG (= § 42 Abs 1 S 1 AVG, § 1265 Abs 1 S 1 RVO) entfällt nach Eintritt der Sozialhilfebedürftigkeit wegen Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung nicht nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO, wenn der Versicherte nach Treu und Glauben gehalten ist, gemäß den §§ 79 ff BSHG gegenüber dem Sozialhilfeträger die Freistellung laufender Einkünfte zu beanspruchen, um die Unterhaltsansprüche seiner früheren Ehefrau befriedigen zu können.

 

Normenkette

RKG § 65 Abs. 1 S. 1; AVG § 42 Abs. 1 S. 1; RVO § 1265 Abs. 1 S. 1; SGB VI § 243 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3; BGB § 242; BSHG §§ 79, 81 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, § 84 Abs. 1, § 85 S. 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 12.01.1993; Aktenzeichen L 18 (2) Kn 79/90)

SG Gelsenkirchen (Urteil vom 31.10.1990; Aktenzeichen S 18 Kn 34/89)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 1993 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt Geschiedenenwitwenrente für die Zeit vom 1. Mai 1988 bis 30. September 1991.

Ihre mit dem Versicherten W… G… am 14. November 1931 geschlossene Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Essen vom 12. Dezember 1963 nach § 48 Ehegesetz ohne Schuldausspruch geschieden. In einem gerichtlichen Vergleich vom gleichen Tag und vor Erlaß des Scheidungsurteils hatte sich der Versicherte, der damals bereits Rentner war, verpflichtet, der Klägerin ab 1. Dezember 1963 eine monatliche Unterhaltsrente von DM 240,-- zu zahlen und von jeder folgenden Rentenerhöhung ein Drittel als weiteren Unterhalt zu gewähren. Auf eine Änderung dieser Unterhaltsregelung für alle Fälle des § 323 Zivilprozeßordnung (ZPO), insbesondere für den Fall der Wiederverheiratung, hatte er verzichtet.

Die Klägerin hatte bereits vor der Ehescheidung gegenüber der Beklagten als Drittschuldnerin den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß des Amtsgerichts vom 4. März 1963 erwirkt, womit ua ab 1. März 1963 wegen laufender Unterhaltsansprüche die Rente des Versicherten in Höhe von DM 240,-- monatlich gepfändet und der Klägerin zur Einziehung überwiesen wurde. Mit Schriftsatz vom 14. Februar 1964 setzten die Bevollmächtigten des Versicherten die Beklagte vom Unterhaltsvergleich in Kenntnis und erklärten, sie seien der Einfachheit halber, obwohl der Pfändungs- und Überweisungsbeschluß formell nicht mehr gelte, damit einverstanden, den Unterhaltsbetrag von DM 240,-- monatlich unmittelbar an die Klägerin auszuzahlen. Der Beschluß des Amtsgerichts vom 4. März 1963 wurde nicht aufgehoben.

In der Folgezeit kam die Beklagte ihren Pflichten aus dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluß nach. Sie erhöhte die Zahlung an die Klägerin im von der Klägerin mit Nachdruck bewirkten Einverständnis des Versicherten ab März 1972 auf insgesamt DM 412,-- und ab Januar 1978 auf insgesamt DM 548,--.

Am 1. Januar 1987 wurde der Versicherte heimpflegebedürftig und deshalb von dem Beigeladenen zu Lasten des überörtlichen Sozialhilfeträgers in einem Heim untergebracht. Seine damaligen Einkünfte (Knappschaftsruhegeld monatlich DM 2.689,--, Verletzten-Rente DM 474,60) reichten nicht aus, um die Kosten der Heimpflege (täglich DM 104,20) sowie den sog Barbetrag nach den §§ 21 Abs 3, 27 Abs 3 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von DM 182,50 monatlich (ab 1. September 1987) zu decken.

Ab 1. März 1987 verringerte die Beklagte den monatlichen Zahlbetrag an die Klägerin auf DM 240,--, weil der Vermögenspfleger des Versicherten mit Schreiben vom 23. Januar 1987 dessen Einverständnis mit der Unterhaltserhöhung widerrufen und darum gebeten hatte, nur noch den Betrag der Rente, der durch den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß vom 4. März 1963 abgedeckt sei, der Klägerin zu zahlen. Ab 1. August 1987 stellte die Beklagte die Zahlungen an die Klägerin vollends ein und überwies die gesamte Rente an den Beigeladenen, weil dieser einen Erstattungsanspruch wegen der Heimunterbringung des Versicherten geltend gemacht hatte.

Der Versicherte verstarb am 26. April 1988. Die Beklagte gewährte seiner zweiten Ehefrau, die am 26. September 1991 verstarb, die ungekürzte Hinterbliebenenrente. Den Antrag der Klägerin vom 2. Mai 1988 auf Geschiedenenwitwenrente lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 26. Oktober 1988, Widerspruchsbescheid vom 7. März 1989). Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 31. Oktober 1990 abgewiesen: Wegen der Zahlungseinstellung zum 31. Juli 1987 habe der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin tatsächlich keinen Unterhalt geleistet. Eine Verpflichtung zur Unterhaltszahlung habe auch nicht aus sonstigen Gründen bestanden, denn der Unterhaltsvergleich vom 12. Dezember 1963 hätte nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO beseitigt werden können, und zwar trotz des damals erklärten Verzichts auf diese Rechte. Es verstoße gegen Treu und Glauben, den Versicherten, der durch die Erfüllung der Unterhaltsverpflichtung in erhöhtem Maße sozialhilfebedürftig werden würde, am Vergleich festzuhalten. Das Landessozialgericht (LSG) hat dagegen, nachdem die Beklagte den Rentenanspruch der Klägerin nach dem Tod der zweiten Ehefrau des Versicherten ab 1. Oktober 1991 dem Grunde nach anerkannt hatte, mit Urteil vom 12. Januar 1993 der Berufung stattgegeben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Geschiedenenwitwenrente für die Zeit vom 1. Mai 1988 bis zum 30. September 1991 zu gewähren. Nach Auffassung des LSG war trotz der Heimpflegebedürftigkeit die Fortsetzung der Unterhaltsleistung an die Klägerin zumutbar und es wäre das Beharren der Klägerin auf dem ggf angepaßten Unterhaltsvergleich nicht rechtsmißbräuchlich gewesen. Denn bei der Hilfe in besonderen Lebenslagen seien nach den §§ 79 ff BSHG auch bei dauernder Heimunterbringung Einkommensanteile freizustellen, um laufende Unterhaltsansprüche zu befriedigen.

Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Beklagte mit der Revision. Sie rügt die Verletzung des § 65 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) sowie der §§ 79 und 85 BSHG. Die Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs aus dem Unterhaltsvergleich wäre eine unzulässige Rechtsausübung, denn dessen Erfüllung gefährde die wirtschaftliche Existenz des Versicherten (Hinweis auf Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 23. Juni 1964, SozR Nr 27 zu § 1265 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫). Der Sozialhilfeträger sei auch nicht verpflichtet, die bisher der Klägerin geleisteten DM 240,-- monatlich freizustellen, denn damit sei ihr überwiegender Unterhalt nicht bestritten worden. Er hätte dies – lediglich – im Rahmen seines Ermessens tun können, § 85 Nr 3 Satz 2 BSHG.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 1993 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 31. Oktober 1990 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, ohne den nichtabänderbaren Unterhaltsvergleich hätte sie nach altem Eherecht der Ehescheidung widersprochen und damit ihren Rechtsanspruch auf die Witwenrente gesichert. Bei einer Ehescheidung nach dem 1. Juli 1977 wäre durch den gesetzlichen Versorgungsausgleich ein eigener Rentenanspruch begründet worden. Die unzulässige Rechtsausübung iS des § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) liege nicht auf ihrer Seite, sondern beim Vermögenspfleger, dem Beigeladenen und der Beklagten. Diese hätten in der kurzen Zeitspanne vor dem Tod des Versicherten durch ihr Verhalten die Auszahlung des Unterhalts wenigstens in Höhe des Sockelbetrags verhindert, ihren Rentenanspruch gefährdet und die zweite Ehefrau des Versicherten begünstigt. Der Beigeladene hätte wenigstens in Höhe von DM 240,-- die Einkünfte des Versicherten freistellen und dessen Unterhaltsverpflichtung respektieren müssen. Dies hätte zu keiner finanziellen Mehrbelastung geführt, denn die Sozialhilfeleistungen an die Klägerin hätten sich in gleichem Umfange verringert.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt, § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

1. Im Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigende Sachurteilshindernisse haben im Berufungsverfahren nicht vorgelegen. Insbesondere hat das LSG zu Recht die Rechtsnachfolger der zweiten Ehefrau des Versicherten nicht zum Rechtsstreit nach § 75 Abs 2 1. Alternative SGG notwendig beigeladen. Denn die Entscheidung in dem streitigen Rechtsverhältnis kann nicht mehr unmittelbar in die Rechtssphäre der Rechtsnachfolger eingreifen (vgl BSG vom 7. August 1991, SozR 3-1500 § 75 Nr 9 S 13 mwN). Im Falle einer notwendigen Beiladung ist diese zwar grundsätzlich auf die Rechtsnachfolger zu erstrecken (vgl BSG vom 2. November 1988, SozR 1500 § 75 Nr 73 und vom 27. Februar 1990 – 5 RJ 52/88 –, USK 90120), im vorliegenden Falle können die Interessen der Rechtsnachfolger der Witwe des Versicherten vom Ausgang des Rechtsstreits jedoch nicht mehr berührt werden. Denn die Aufteilung der Witwenrente nach der Dauer der Ehe gemäß § 69 Abs 4 Satz 1 RKG erfolgt bei nachträglicher Berücksichtigung eines weiteren Berechtigten nach § 69 Abs 4 Satz 2 RKG nur für die Zukunft, nicht jedoch für die Vergangenheit (s auch BSG vom 26. Oktober 1989 SozR 2200 § 1268 Nr 32 S 108 f).

2. Für den noch streitigen Zahlungszeitraum vom 1. Mai 1988 bis 30. September 1991 ist nach § 300 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) das vor dem 1. Januar 1992 geltende Recht anzuwenden. In dieser Zeit war eine Witwenrente an die zweite Ehefrau des Versicherten zu gewähren. Dies hat zur Folge, daß der Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente nicht auf § 65 Abs 1 Satz 2 RKG (= § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO, § 42 Abs 1 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz ≪AVG≫; s nunmehr § 243 Abs 1 und 2 SGB VI) gestützt werden kann und bei einer Anspruchsberechtigung nach § 65 Abs 1 Satz 1 RKG (= § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO, § 42 Abs 1 Satz 1 AVG; s nunmehr § 243 Abs 1 und 2 SGB VI) die Witwenrente nach § 69 Abs 4 Satz 1 RKG zwischen erster und zweiter Ehefrau nach der Dauer der Ehe aufzuteilen ist.

3. Der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente ergibt sich aus der 2. Alternative des § 65 Abs 1 Satz 1 RKG. Danach ist einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden wurde, nach dem Tode des Versicherten Rente zu gewähren, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt aus sonstigen Gründen zu leisten hatte. Ein solcher “sonstiger Grund” ist der noch vor Verkündung des Scheidungsurteils protokollierte Unterhaltsvergleich vom 12. Dezember 1963, aus dem nach § 794 Abs 1 Nr 1 ZPO die Zwangsvollstreckung stattfindet. Bereits die damalige anfängliche Unterhaltsverpflichtung von monatlich DM 240,-- liegt auch für den maßgeblichen Zeitpunkt des Todes des Versicherten über der Geringfügigkeitsgrenze, die nach der ständigen Rechtsprechung des BSG bei wenigstens 25 vH des zeitlich und örtlich maßgebenden Regelsatzes der Sozialhilfe – ohne Aufwendungen für die Unterkunft – gezogen wird. Nur dann ist es gerechtfertigt, die Unterhaltsverpflichtung des Versicherten durch die Hinterbliebenenrente zu ersetzen (vgl BSG vom 12. Mai 1982, BSGE 53, 256 = SozR 2200 § 1265 Nr 63; BSG vom 7. September 1982, SozR 2200 § 1265 Nr 65). Nach den Feststellungen des LSG betrug im Juni 1988 der maßgebliche Regelsatz der Sozialhilfe monatlich DM 405,--, der Grenzwert von DM 101,25 wird deshalb überschritten.

Dieser Unterhaltsvergleich hat iS des § 65 Abs 1 Satz 1 RKG auch zur Zeit des Todes des Versicherten noch eine Unterhaltspflicht begründet. Zwar reicht ein nur formell noch weiter gültiger Unterhaltstitel allein nicht aus, wenn dieser keine tatsächlich begründete Zahlungsverpflichtung mehr zum Gegenstand hat, weil die Wirkung des Titels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigt werden können; das gilt unabhängig davon, ob der Versicherte von diesen Rechten Gebrauch gemacht hat. Dies trifft selbst dann zu, wenn – wie hier – auf die Rechte aus § 323 ZPO verzichtet wurde. Denn die weitere Vollstreckung aus dem Titel kann gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstoßen. In diesem Fall kann der in Anspruch genommene Unterhaltsschuldner die Einrede der unzulässigen Rechtsausübung erheben. Dazu ist er vor allem dann berechtigt, wenn er seinen eigenen notwendigen Unterhalt nicht sicherstellen kann und durch die Befriedigung des Unterhaltsgläubigers erstmals oder in erhöhtem Maße sozialhilfebedürftig werden würde (BSG, Großer Senat, vom 27. Juni 1963, BSGE 20, 1 = SozR Nr 17 zu § 1265; BSG vom 23. Juni 1964, SozR Nr 27 zu § 1265 RVO; seitdem stRspr, zusammenfassend BSG vom 26. August 1987, SozR 2200 § 1265 Nr 86; speziell für einen Fall der Hilfe zum Lebensunterhalt, §§ 11 ff BSHG, BSG vom 20. Juni 1984, BSGE 57, 59, 63 f). Bei einer derartigen Fallgestaltung geht jeglicher Unterhaltstitel ins Leere, da keine Vermögenswerte zur Verfügung stehen, in die vollstreckt werden könnte (mangelnde Leistungsfähigkeit).

Jedenfalls hinsichtlich der Zahlungsverpflichtung aus dem Unterhaltsvergleich vom 12. Dezember 1963 in Höhe von monatlich DM 240,-- war der Versicherte jedoch im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor seinem Tod (dh im Zeitraum vom Beginn der Heimpflegebedürftigkeit bis zum Tode des Versicherten im April 1988) nach wie vor leistungsfähig. Denn er hatte gegenüber dem Beigeladenen einen – einklagbaren – Anspruch auf Freistellung von Einkommensanteilen nach den §§ 79 ff BSHG wenigstens in Höhe von monatlich DM 240,-- auch ungeachtet seiner Heimpflegebedürftigkeit, wie unten unter Nr 4 näher ausgeführt ist. Mit diesen Mitteln hätte er den Unterhaltsanspruch der Klägerin weiterhin befriedigen können.

Ein Verzicht auf die Rechte nach den §§ 79 ff BSHG wäre im Verhältnis zur Klägerin unbeachtlich gewesen, weil der Versicherte dann treuwidrig seine Unterhaltsunfähigkeit selbst herbeigeführt hätte und sich hätte so behandeln lassen müssen, als hätte er auf die Freistellung von Einkommensanteilen nicht verzichtet. Im Rahmen der Prüfung der Leistungsvoraussetzungen nach § 65 RKG ist unerheblich, daß weder der Beigeladene (von Amts wegen) über die Freistellung von Einkommensanteilen entschieden hat noch eine solche Freistellung vom Versicherten oder seinem Vermögenspfleger gegenüber dem Beigeladenen beantragt worden war.

4. Dem Versicherten hat ein entsprechender Anspruch gegenüber dem Sozialhilfeträger zugestanden, jedenfalls monatlich DM 240,-- zur Erfüllung der laufenden Unterhaltsverpflichtungen der Klägerin freizustellen, in den die Klägerin notfalls hätte vollstrecken können. (Dabei kann dahingestellt bleiben, ob insoweit nicht sogar ein höherer Freistellungsanspruch bestand, wenn die bis Februar 1987 erfolgte Zahlung von DM 548,--/Monat die Klägerin iS des § 85 Nr 3 Satz 2, letzter Teilsatz BSHG “überwiegend unterhalten” hätte.)

Dieser Anspruch folgt aus § 85 Nr 3 Satz 2 BSHG. Hiernach “soll” der Sozialhilfeträger dann, wenn er Hilfe zur Pflege in einem Heim gewährt, die Aufbringung der hierfür erforderlichen Mittel durch den Hilfebedürftigen auch ohne Rücksicht auf die Einkommensgrenze nach § 81 Abs 1 Nr 5 BSHG verlangen, allerdings nur “in angemessenem Umfange”. Es handelt sich dabei um denselben unbestimmten Rechtsbegriff (s Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ vom 6. April 1995, NJW 1995, 3135, 3136), der auch in § 84 Abs 1 Satz 1 BSHG die Heranziehung von Einkünften über der Einkommensgrenze begrenzt und dessen Anwendung der Überprüfung durch die Gerichte unterliegt. Dabei sind im Rahmen des § 85 Nr 3 Satz 2 BSHG die in § 84 Abs 1 Satz 2 BSHG beispielhaft genannten Angemessenheitskriterien gleichermaßen zu berücksichtigen, also ua besondere Belastungen durch unterhaltsberechtigte (vom Hilfesuchenden nicht überwiegend unterhaltene) Angehörige (vgl BVerwG vom 6. April 1995, aaO). Mit der Sollvorschrift des § 85 Nr 3 Satz 2 BSHG wird erreicht, daß dem (in der Regel alleinstehenden) Hilfeempfänger kein Vorteil dadurch erwächst, daß er erhebliche Einkommensanteile behält, obwohl sein Lebensunterhalt umfassend durch öffentliche Mittel sichergestellt ist. Bestehen dagegen Unterhaltsverpflichtungen, ist diesen – auch dann, wenn hierdurch der Berechtigte nicht iS des § 85 Nr 3 Satz 2, letzter Teilsatz BSHG “überwiegend unterhalten” wird – durch den Sozialhilfeträger Rechnung zu tragen, indem Einkommensteile in angemessenem Umfange freigestellt werden. Jedenfalls im Umfang von DM 240,--/Monat war die Freistellung zur Unterhaltsleistung angemessen, da insoweit ein Unterhaltsbedarf der Klägerin bestand und keine Umstände vorlagen, die eine Unterhaltsleistung unbillig erscheinen lassen konnten.

5. Dieser Freistellungsanspruch führt auch dazu, daß der Klägerin iS des § 65 Abs 1 Satz 1 RKG im maßgebenden Zeitraum vor dem Tode des Versicherten Unterhalt aus sonstigen Gründen zustand.

Das BSG hat bisher nicht entschieden, in welchem Verhältnis die vom Gesetzgeber in den §§ 79 ff BSHG detailliert geregelte Freistellung von Einkünften, ua auch zum Zwecke der Erfüllung laufender Unterhaltsverpflichtungen, zu dem zivilrechtlichen Grundsatz steht, daß die Unterhaltspflicht nur im Rahmen der Leistungsfähigkeit zu erfüllen ist und die Opfergrenze immer durch den sog Selbstbehalt gezogen wird, der von der Rechtsprechung der Zivilgerichte im allgemeinen etwas über dem Sozialhilfebedarf festgelegt wird (s Bundesgerichtshof ≪BGH≫, NJW 1984, 1614, 1615 und BGHZ 111, 194, 198).

Der Senat schließt sich im Grundsatz dem Urteil des BGH vom 2. Mai 1990 (BGHZ 111, 194, 198) an. Der BGH räumt dem unterhaltspflichtigen Hilfebedürftigen, dessen Einkünfte nicht ausreichen, um den sog Selbstbehalt abzudecken, beim Vorliegen besonderer Umstände im Ergebnis ein Wahlrecht ein, ob er gegenüber dem Sozialhilfeträger auf der Freistellung von Einkommensanteilen zur Befriedigung laufender Unterhaltsansprüche besteht oder darauf verzichtet. Eine solche Entscheidung ist dann, so der BGH, “unterhaltsrechtlich zu respektieren” (Der weitergehende Leitsatz wird von den Entscheidungsgründen nicht gedeckt). Im damaligen Ausgangsfall standen dem Unterhaltsverpflichteten bei seiner Entscheidung, auf die Rechte nach den §§ 79 ff BSHG zu Lasten seiner Trennungsunterhalt begehrenden Ehefrau zu verzichten, schon deshalb solche besonderen Umstände zur Seite, weil diese ihm ehewidrig die notwendige Pflege verweigert hatte.

Der vorliegende Fall ist indes dadurch gekennzeichnet, daß der Versicherte sein Wahlrecht, Einkommensanteile zur Befriedigung laufender Unterhaltsansprüche seiner früheren Ehefrau freistellen zu lassen, tatsächlich nicht ausgeübt hat und zudem auf der Grundlage der vom LSG festgestellten Tatsachen besondere Umstände (iS eines “verständigen Grundes”) für die Ausübung des Wahlrechts zu Lasten der Klägerin nicht bestanden.

Im Gegenteil wären einer solchen Ausübung überragende Gründe entgegengestanden. Es wäre eine unzulässige Rechtsausübung seitens des Versicherten gewesen, wenn er gegenüber dem Beigeladenen entgegen seinen Pflichten, seine frühere Ehefrau zu unterhalten, nur auf eine Minimierung seiner eigenen Sozialhilfebedürftigkeit bedacht gewesen wäre und darauf verzichtet hätte, Einkommensanteile nach den §§ 79 ff BSHG freistellen zu lassen.

Denn damit hätte der Versicherte seiner Verpflichtung aus dem Unterhaltsvergleich des Jahres 1963 zuwidergehandelt. An diese wäre er zwar nicht mehr gebunden gewesen, wenn die Geschäftsgrundlage jenes Unterhaltsvergleichs weggefallen gewesen wäre. Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH sind Geschäftsgrundlage die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsschluß aber bestehenden gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien oder die einer Partei erkennbaren und nicht beanstandeten Vorstellungen der anderen Partei vom Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf dieser Vorstellung aufbaut (vgl mwN BGHZ 84, 1, 8 f; BGHZ 89, 226, 231). Dabei löst nicht schon jede Störung der Geschäftsgrundlage für sich allein Rechtsfolgen aus. Angesichts der überragenden Bedeutung, die dem Grundsatz der Vertragstreue zukommt, ist beides nur dann rechtlich erheblich, wenn und soweit das Festhalten an den Bestimmungen des Vertrages unter Berücksichtigung der wirklichen oder veränderten Sachlage zu einem nicht mehr tragbaren Ergebnis führt. Dies setzt voraus, daß die Geltung des Vereinbarten für die eine Partei schlechthin unzumutbar ist und umgekehrt der anderen Partei ein Abgehen von dem Vereinbarten zugemutet werden kann (vgl BGHZ 58, 355, 363; BGHZ 84, 1, 9). In diesem Zusammenhang haben die Parteien vorrangig vor der Vertragsauflösung die Verpflichtung, den Vertrag den geänderten Verhältnissen anzupassen (vgl mwN BGHZ 89, 226, 238 f). Generell besteht die Nebenverpflichtung aus dem Vertrag, alles zu tun, was der Erfüllung des Vertrages dient und ein für die Vertragschließenden untragbares und unzumutbares Ergebnis vermeidet. Dies muß erst recht dann gelten, wenn – wie hier – bereits im Unterhaltsvergleich eine Änderung ausgeschlossen worden war und der Versicherte auf seine Rechte nach § 323 ZPO verzichtet hatte.

Hier hatte der Versicherte die Möglichkeit, den Unterhaltsvergleich wenigstens zum Teil zu erfüllen, indem er gegenüber dem Beigeladenen darauf bestand, daß nach den §§ 79 ff BSHG Rentenanteile von dessen Zugriff freigestellt werden und dadurch seine unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit erhalten bleibt. Dies war ihm auch unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles zumutbar, zumal daraus erwachsende finanzielle Nachteile nicht ersichtlich sind (s § 92 Abs 1 BSHG). Ein Verzicht auf diese Rechte würde zudem letztlich die zweite Ehefrau begünstigen und auf der anderen Seite die Klägerin in unzumutbarer Weise benachteiligen.

Neben der Zumutbarkeit des Festhaltens an der Vereinbarung für den Versicherten treten hier überdies weitere Umstände, die eine völlige Beseitigung des Unterhaltsanspruchs aus dem Vergleich für die Klägerin unzumutbar machten: Damit wären nach mehr als zwanzigjähriger Ehe erworbene und im Unterhaltsvergleich festgeschriebene, jahrzehntelang erfüllte Unterhaltszahlungen für die Klägerin eingestellt worden. Zum anderen wäre – noch schwererwiegend – der Witwenrentenanspruch der Klägerin nach § 65 Abs 1 Satz 1 RKG gefährdet worden.

Hinzu kommt, daß sich der Versicherte der Klägerin gegenüber in hohem Maße vertragswidrig verhalten hatte, hatte er doch – entgegen seiner Verpflichtung aus dem Unterhaltsvergleich – den an sie aus seiner Rente gezahlten Unterhaltsbeitrag zwischen 1977 und 1987 nicht weiter erhöht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 273

SozSi 1997, 75

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt SGB Office Professional . Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge