Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallrente. MdE-Bemessung. unbillige Härte

 

Orientierungssatz

§ 581 Abs 2 RVO stellt nicht darauf ab, daß der Versicherte einen bestimmten Beruf erlernt oder ausgeübt hat. Durch diese Vorschrift werden mithin nicht die Angehörigen einer bestimmten Gruppe, etwa der gelernten Arbeiter, der Berufsmusiker oder Zirkusartisten schlechthin begünstigt, sondern lediglich unbillige Härten vermieden, die sich aus einer Nichtberücksichtigung von bestimmten Umständen in der Person des einzelnen Versicherten ergeben können. Eine allgemeine Regel, wann die vom Gesetz als bedeutsam angesehenen besonderen Umstände vorliegen, läßt sich jedoch nicht aufstellen. § 581 Abs 2 RVO ist sonach nicht Ausdruck eines über seinen Wortlaut hinausgreifenden, zunächst von der Rechtsprechung entwickelten und dann vom Gesetzgeber aufgegriffenen Grundsatzes, der eine Berücksichtigung gruppenspezifischer Merkmale gebietet oder zuläßt, sondern im Gegenteil nur eine besondere Ausprägung des Prinzips, daß bei der Bemessung des Grades der MdE darauf abzustellen ist, wie sich die Unfallfolgen im Einzelfall auf die Fähigkeit des Versicherten ausgewirkt haben, auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens einen angemessenen Verdienst zu erzielen (vgl BSG 1970-06-26 2 RU 108/67 = SozR Nr 9 zu RVO § 581; BSG 1965-08-25 2 RU 52/64 = BSGE 23, 253).

 

Normenkette

RVO § 581 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 28.04.1972)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 07.09.1971)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 28. April 1972 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 7. September 1971 wird, soweit durch dieses Urteil über den Bescheid der Beklagten vom 20. Juni 1968 entschieden worden ist, als unzulässig verworfen. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die 1947 geborene Klägerin erlitt am 6. Januar 1968 einen Arbeitsunfall. Die Beklagte gewährte ihr deswegen mit Bescheid vom 20. Juni 1968 eine vorläufige Verletztenrente in Höhe von 40 v.H. der Vollrente. In diesem Bescheid sind die Unfallfolgen wie folgt beschrieben:

"Die rechte Hand ist durch Totalverlust des Mittel- und Ringfingers, völligen Verlust des Kleinfingers mit einem Teil des 6. Mittelhandbereiches sowie Verlust des Zeigefingers im Mittelglied stark verkrüppelt. Im Bereich der Absetzungsstellen finden sich ausgedehnte teilweise schmerzhafte Narbenbildungen. Die Funktion der re. Hand ist stark behindert; es können lediglich leichte Greifbewegungen zwischen Daumen und Zeigefingerstumpf ausgeführt werden".

Hiergegen hat die Klägerin am 8. Juli 1968 Klage erhoben mit dem Ziele, ihr mit Wirkung vom 29. April 1968 Rente in Höhe von 50 v.H. der Vollrente zu gewähren. Die Klage, die auch auf den Bescheid vom 20. November 1969 erstreckt wurde, mit dem die Beklagte die vorläufige Rente in eine Dauerrente umwandelte, hatte keinen Erfolg (Urteil vom 7. September 1971). Bei der Festsetzung der Dauerrente sind der Vomhundertsatz der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und der erste Satz der Beschreibung der Unfallfolgen unverändert geblieben. Die weiteren Sätze dieser Bezeichnung lauten jedoch wie folgt:

"Die Narbenbezirke sind fest geschlossen und angeblich druckempfindlich. Die grobe Kraft der rechten Hand ist stark herabgesetzt".

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland am 28. April 1972 unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts (SG) und Änderung der Bescheide der Beklagten dies verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente in Höhe von 50 v.H. der Vollrente zu gewähren. Es hat im wesentlichen ausgeführt:

Nach den Bekundungen der angehörten Sachverständigen sei die MdE mit 40 v.H. zu bewerten. Dem könne jedoch nicht gefolgt werden. Das LSG habe sich durch Augenschein davon überzeugt, daß der Teilverlust des fünften Mittelbandbereichs in der Gegend des Kleinfingers doch recht erheblich sei und daß sich eine weite Narbe von dem verbliebenen Zeigefingerstumpf bis zum tiefsten Punkt des verstümmelten Mittelhandbereichs hinziehe. Die Verletzung der Klägerin sei einem Verlust von fünf Fingern, dem allgemein eine Erwerbsminderung um 50 v.H. zugeschrieben werde, nicht gleichwertig; es erscheine jedoch grundsätzlich eine MdE von 45 v.H. als angemessen. Zur Annahme einer darüber hinausgehenden MdE von insgesamt 50 v.H. habe sich das LSG durch die Erwägung bestimmen lassen, daß die Erwerbsfähigkeit der Klägerin infolge bestimmter persönlicher Umstände über das gewöhnliche Maß hinaus gemindert sei. Bei der Klägerin wirkten sich nämlich zusätzlich erwerbsmindernd ihr Berufsbild als Hilfsarbeiterin, ihre Jugend und die Tatsache aus, daß sie eine Frau sei. Eine Berücksichtigung dieser Umstände stehe nicht im Widerspruch zum Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung. Es handele sich hier um Merkmale, die nicht allein der Klägerin, sondern einer großen Gruppe von Versicherten eigen seien. Die Zulässigkeit einer solchen Berücksichtigung von Gruppenmerkmalen ergebe sich aus § 581 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO); durch diese Vorschrift werde nur kodifiziert, was bereits vor der Reform der gesetzlichen Unfallversicherung rechtens gewesen sei. In ihrer Eigenschaft als Hilfsarbeiterin sei die Klägerin deswegen besonders betroffen, weil Hilfsarbeiter auch heute noch in hohem Maße Tätigkeiten ausübten, die vollwertig nur von dem verrichtet werden könnten, der zwei unversehrte oder doch nahezu unversehrte Hände besitze. Der Hilfsarbeiter werde durch eine Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit ähnlich schwer betroffen wie z.B. ein Geistesarbeiter, der infolge eines Unfalls an Konzentrationsschwäche leide und deswegen - wie Violin-, Klavier- und Orgelvirtuosen bei Fingerverlust - unter Umständen eine Rente nach einem höheren Vomhundertsatz erhalte. Weite Gebiete des Erwerbslebens, die normalerweise für Hilfsarbeiter in Frage kämen, wie z.B. die Arbeit an Fließbändern oder Arbeiten als Reinemachefrau, seien der Klägerin verschlossen. Die Jugend der Klägerin müsse deswegen berücksichtigt werden, weil Beschäftigungsmöglichkeiten für Hilfsarbeiter mit fortschreitendem Alter infolge Nachlassens der körperlichen Leistungsfähigkeit immer geringer würden. Erleide ein älterer Hilfsarbeiter eine Verletzung, wie sie die Klägerin davongetragen habe, so werde normalerweise seine absolute Erwerbsfähigkeit in geringerem Maße beeinträchtigt als die eines Hilfsarbeiters in einem Alter, das höchste körperliche Beanspruchung gestatte. Der Umstand, daß die Klägerin eine Frau sei, müsse deswegen berücksichtigt werden, weil - anders als bei Männern - das allgemeine Wohlbefinden und insbesondere auch die seelische Gesundheit einer Frau in hohem Maße von ihrem äußeren Erscheinungsbild beeinflußt werde. Auch fielen in einer von Männern beherrschten Welt bei der Einstellung und beruflichen Förderung von Frauen äußere Vorzüge entscheidend ins Gewicht. Die Klägerin werde sich nicht immer von der Vorstellung frei machen können, sie erfreue sich wegen ihres Körperschadens geringerer allgemeiner und beruflicher Wertschätzung; sie werde deswegen im Verkehr mit Arbeitgebern und Kollegen Hemmungen ausgesetzt sein.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und ausgeführt:

Das angefochtene Urteil stehe im Widerspruch zum Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung. Die Berücksichtigung der Merkmale der Berufsstellung als Hilfsarbeiterin, der Jugend und der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht sei nicht zulässig. Durch einen Unfall werde im Gegenteil der ältere Mensch stärker betroffen als der junge. Das gelte auch für Frauen. Es treffe auch nicht zu, daß diese Eigenschaften die Klägerin in ihrer Erwerbsfähigkeit in erhöhtem Maße beeinträchtigten. Die Klägerin sei jetzt als Bürohilfskraft (Angestellte) in einem Betriebsbüro eingesetzt. Das LSG habe im übrigen nicht die MdE um 5 v.H. ändern dürfen; auch hätte es die Berufung hinsichtlich der vorläufigen Rente als unzulässig verwerfen müssen.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise

Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz.

Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.

Sie ist der Ansicht, daß das LSG bei der Schätzung des Grades der MdE die Grenzen seines richterlichen Ermessens nicht überschritten habe.

II

Die Revision ist begründet.

Zunächst hat das LSG verkannt, daß die Berufung durch die Vorschrift des § 145 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen ist, soweit sie die durch Bescheid vom 20. Juni 1968 bewilligte vorläufige Rente betrifft. Denn die Vorschrift des § 145 Nr. 3 SGG stellt gegenüber § 145 Nr. 4 SGG einen selbständigen Berufungsausschlußgrund dar, so daß die in Nr. 4 genannten Sonderfälle nicht zum Zuge kommen (vgl. auch Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit, 3. Aufl., Anm. 5 a Abs. 2 zu § 145 SGG - S. III/31). Da Ausnahmegründe i.S. des § 150 SGG nicht ersichtlich und auch nicht behauptet worden sind, würde dieser Mangel insoweit zur Aufhebung des Berufungsurteils und Verwerfung der Berufung auch dann führen, wenn er im Revisionsverfahren nicht gerügt worden wäre (BSG 2, 225, 227 f; 245, 253 f). Hier ist der Mangel jedoch auch gerügt worden. Im übrigen hat das LSG der Berufung zu Unrecht in der Sache stattgegeben.

Bei der Abschätzung der MdE ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin wegen ihres Berufsbildes als Hilfsarbeiterin, wegen ihrer Jugend und wegen ihres Geschlechts durch die Verletzung in besonderem Maße in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt werde. Diese Überlegungen sind nicht frei von Rechtsirrtum.

Das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung wird, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, vom Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung beherrscht. Dieser Grundsatz besagt, daß die in Form einer Rente zu gewährende Entschädigung nicht den tatsächlichen Minderverdienst ausgleichen soll, sondern nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten zu bemessen ist (BSG 21, 63 [67]). Damit ist eine allgemeine Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit unvereinbar (BSG 23, 253 [255]). Es kann daher bei der Bemessung der MdE grundsätzlich nicht darauf abgestellt werden, ob der Verletzte wegen der Unfallfolgen seinen bisherigen Beruf nicht mehr oder nur noch unter erschwerten Bedingungen auszuüben vermag (BSG 23, 253). Wohl aber können besondere Kenntnisse und Fähigkeiten des Verletzten u.U. zu einer Erhöhung der MdE führen (vgl. BSG 4, 147 [149]; 21, 63 [67]). Dahingehende besondere Kenntnisse und Fähigkeiten (Erfahrungen) hat das LSG hier jedoch nicht festgestellt, vielmehr solche ausdrücklich verneint (Urteil S. 3). Im übrigen kann aber bei der MdE-Bemessung nicht darauf abgestellt werden, daß der Verletzte einer Gruppe angehöre, bei deren Mitgliedern eine Verletzung bestimmter Art sich generell - d.h. ohne Nachweis im Einzelfall - nachteiliger als bei anderen Versicherten auswirken könne.

Eine andere Beurteilung läßt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt des vom LSG herangezogenen § 581 Abs. 2 RVO rechtfertigen. Keiner der Umstände, die nach Ansicht des LSG hier eine höhere Einschätzung der MdE der Klägerin gebieten sollen, läßt sich den Merkmalen zuordnen, deren Berücksichtigung § 581 Abs. 2 RVO vorschreibt. Weder die Tatsache, daß die Klägerin Hilfsarbeiterin war, noch auch ihre Jugend, noch auch ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht läßt sich in eine sinnvolle Beziehung zu besonderen beruflichen Kenntnissen und Erfahrungen bringen, wie sie in § 581 Abs. 2 RVO vorausgesetzt werden. Das hat auch das LSG nicht verkannt: es meint jedoch, daraus, daß § 581 Abs. 2 RVO im wesentlichen nur ausdrücklich normiert, was bereits vor dem 1. Juli 1963 rechtens war (BSG 23, 253 [255]; 28, 227 [229]), folgern zu können, daß allgemein eine Berücksichtigung von Gruppenmerkmalen nicht im Widerspruch zum Prinzip der abstrakten Schadensbemessung stehe. Dem kann nicht gefolgt werden.

§ 581 Abs. 2 RVO stellt nicht darauf ab, daß der Versicherte einen bestimmten Beruf erlernt oder ausgeübt hat (BSG 23, 253 [254]). Durch diese Vorschrift werden mithin nicht die Angehörigen einer bestimmten Gruppe, etwa der gelernten Arbeiter, der Berufsmusiker oder Zirkusartisten schlechthin begünstigt, sondern lediglich unbillige Härten vermieden, die sich aus einer Nichtberücksichtigung von bestimmten Umständen in der Person des einzelnen Versicherten ergeben können (BSG SozR Nr. 9 zu § 581 RVO). Eine allgemeine Regel, wann die vom Gesetz als bedeutsam angesehenen besonderen Umstände vorliegen, läßt sich jedoch nicht aufstellen (BSG 4, 147 [149]; 23, 253 [255]). § 581 Abs. 2 RVO ist sonach nicht - wie das LSG angenommen hat - Ausdruck eines über seinen Wortlaut hinausgreifenden, zunächst von der Rechtsprechung entwickelten und dann vom Gesetzgeber aufgegriffenen Grundsatzes, der eine Berücksichtigung gruppenspezifischer Merkmale gebietet oder zuläßt, sondern im Gegenteil nur eine besondere Ausprägung des Prinzips, daß bei der Bemessung des Grades der MdE darauf abzustellen ist, wie sich die Unfallfolgen im Einzelfall auf die Fähigkeit des Versicherten ausgewirkt haben, auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens einen angemessenen Verdienst zu erzielen (vgl. BSG 4, 147 [149]; SozR Nr. 10 zu § 581 RVO). Damit ist es unvereinbar, wenn das LSG der bloßen Zugehörigkeit der Klägerin zu bestimmten Personengruppen - der Hilfsarbeiter, der jüngeren Erwerbstätigen, der Frauen - bereits eine die Entscheidung beeinflussende Bedeutung beigemessen hat.

Das bedeutet allerdings nicht, daß es auf Umstände, wie sie das LSG berücksichtigen zu können geglaubt hat, in keinem Falle ankommen kann. So ist es insbesondere auch bei einem Hilfsarbeiter vorstellbar, daß er bestimmte besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen erworben hat, die er infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfange nutzen kann; in einem solchen Falle kann für eine Anwendung von § 581 Abs. 2 RVO Raum sein. Dafür, daß hier ein derartiger Fall vorliegt, fehlt es jedoch - wie oben bereits erwähnt - an jedem Anhalt. Das LSG hat dazu lediglich allgemein und ohne Beziehung zu Umständen, die in dieser Streitsache zutage getreten sind, dargelegt, daß der Klägerin infolge des Unfalls "weite Gebiete" des für Hilfsarbeiter normalerweise zugänglichen Erwerbslebens verschlossen seien. Wenn das LSG in diesem Zusammenhang nur die Arbeit an Fließbändern und ähnliche Arbeiten sowie die einer Reinemachefrau erwähnt hat, so sind damit die Berufschancen einer 20-jährigen Unfallverletzten nicht als derart eingeschränkt charakterisiert, daß man bereits von einer unbilligen Härte sprechen könnte. Im übrigen sind solche und ähnliche Auswirkungen die vom Gesetz vorausgesetzten Folgen eines jeden Arbeitsunfalls und der Grund für die Gewährung von Verletztenrenten überhaupt. Es mag dem LSG zugegeben werden, daß die Klägerin durch ihre Verletzung in stärkerem Maße betroffen wird als ein Geistesarbeiter, für den eine Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit oftmals mit keinen oder nur geringfügigen Erwerbseinbußen verbunden ist. Darin liegt jedoch nur ein Ergebnis der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die dazu geführt hat, daß zwischen der Zahlung von Unfallrenten und - effektiv - geminderten Erwerbsmöglichkeiten der Versicherten häufig keine Wechselbeziehung mehr erkennbar ist (BSG 28, 230). Die vom LSG angestellte Betrachtung mündet daher in einen Angriff gegen das Prinzip der abstrakten Schadensbemessung aus, dessen Beibehaltung aber im großen und ganzen für die Rentenberechtigten einen nicht zu unterstützenden Vorteil bedeutet (vgl. BSG 28, 227 [230]).

Es ist zwar nicht auszuschließen, daß ein Verletzter, der im jugendlichen Alter von einem Arbeitsunfall betroffen wird, in stärkerem Maße in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sein kann als ein Versicherter auf der Höhe seiner Schaffenskraft und daß auf diesen Umstand bei der Bemessung des Grades der MdE Bedacht genommen werden müßte. So kann möglicherweise ein schwerer Unfall bei einem noch nicht voll ausgereiften, labilen Menschen eher als bei einem älteren zu seelischen Schädigungen führen, die seine Leistungsfähigkeit herabsetzen. Solche Schädigungen, wie etwa eine unfallbedingte affektive Abstumpfung, Gleichgültigkeit oder Verminderung der Antriebskraft (vgl. BSG in SozR Nr. 10 zu § 581 RVO) müßten jedoch in Form eines ärztlichen Befundes objektivierbar sein; im vorliegenden Falle sind sie nach den getroffenen Feststellungen nicht gegeben. In der Revisionsinstanz ist in dieser Hinsicht auch nichts vorgebracht worden. Schwer verständlich ist die vom LSG in diesem Zusammenhang angestellte Überlegung, daß die Beschäftigungsmöglichkeiten für einen Hilfsarbeiter mit fortschreitendem Alter infolge Nachlassens der körperlichen Kräfte immer geringer würden, weshalb die "absolute" Erwerbsfähigkeit eines älteren Verletzten (Hilfsarbeiters) durch einen Unfall in geringerem Maße beeinträchtigt werde als die eines Hilfsarbeiters in einem Alter, das höchste körperliche Beanspruchung gestatte. Abgesehen davon, daß bei der Bemessung der MdE von einem Vergleich zwischen der vor dem Unfall gegebenen und der danach verbliebenen Erwerbsfähigkeit auszugehen ist (vgl. BSG 21, 63 [65]), übersieht hier das LSG, daß jedenfalls - von seinem Standpunkt aus gesehen - dem älteren Hilfsarbeiter wegen der für ihn ungünstigeren Arbeitsmarktverhältnisse eher ein höheres Maß beruflicher Betroffenheit als einem jüngeren zugebilligt werden müßte, wobei noch hinzukommen mag, daß eine zumutbare berufliche Anpassung in jüngerem Lebensalter erleichtert, durch fortschreitendes Alter aber erschwert sein kann und oft sein wird (vgl. BSG in SozR Nr. 10 zu § 581 und BSG 4, 294 [299]). Unter diesen Umständen brauchte nicht erörtert zu werden, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, daß die Klägerin, wie die Revisionsklägerin vorträgt, jetzt bereits als Bürohilfskraft (Angestellte) zur Zufriedenheit des Arbeitgebers tätig sein soll.

Das zum Merkmal der "Jugend" Gesagte gilt entsprechend auch für die vom LSG vorgenommene Berücksichtigung des Geschlechts der Klägerin. Es mag Verletzungsfolgen geben, die nur eine Frau treffen können oder die jedenfalls die Erwerbsfähigkeit einer Frau in wesentlich stärkerem Maße beeinträchtigen als die eines Mannes. Von solchen Verletzungsfolgen kann hier aber nicht die Rede sein. Daß körperliche Entstellungen zu psychischen Störungen führen können, die sich nachteilig auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, steht außer Zweifel. Auch hier können jedoch nur solche Störungen in Betracht kommen, die - was hier nicht zutrifft - sich im konkreten Falle feststellen lassen und damit schon aus diesem Grunde bei der Bemessung der MdE berücksichtigt werden. Das gilt für Männer und Frauen in gleicher Weise. Wenn das LSG meinen sollte, daß schwere und auffallende Verletzungen bei Frauen stets oder doch regelmäßig zu solchen Störungen führten, während das bei Männern nur ausnahmsweise der Fall sei, so würde es sich damit auf einen - ohne entsprechende medizinische Feststellungen - nicht hinreichend gesicherten Erfahrungssatz berufen. Es erscheint schon zweifelhaft, ob dem weiblichen Geschlecht überhaupt eine durch physiologische Gründe oder durch die Erziehung bedingte erhöhte Empfindlichkeit in dem hier in Betracht kommenden Sinne zugeschrieben werden kann. Doch selbst wenn das der Fall sein sollte, würde das nur zur Folge haben können, daß die medizinischen Sachverständigen bei Frauen häufiger als bei Männern seelische Schäden oder andere Begleitschäden, die die Erwerbsfähigkeit herabsetzen, konstatieren könnten, die dann ggf. bei der Höhe der MdE berücksichtigt werden müßten.

Sonach war das angefochtene Urteil, weil es aus Rechtsgründen nicht aufrechterhalten werden konnte, aufzuheben. Einer Zurückverweisung an die Vorinstanz bedurfte es nicht, weil die getroffenen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung ausreichen. Das angefochtene Urteil läßt mit hinreichender Sicherheit erkennen, daß das LSG beim Absehen von Beruf, Alter und Geschlecht der Klägerin deren MdE mit 45 % bewerten würde. Wollte es jedoch diese Schätzung zum Inhalt seiner Entscheidung machen, so würde es um 5 % von der Abschätzung durch die Vorinstanzen abweichen; eine solche Abweichung wäre jedoch unzulässig (vgl. BSG in SozR Nr. 3 zu § 559 a RVO aF, BSGE 32, 245 246/247). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG, soweit sie nicht zu beanstanden sind, und der Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts (BSG) hätte mithin das LSG nur die Berufung der Klägerin zurückweisen können; diese Entscheidung konnte nun vom BSG getroffen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648855

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