Entscheidungsstichwort (Thema)

JAV-Feststellung nach § 577 RVO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Feststellung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) nach billigem Ermessen (§ 577 RVO) wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß zu dem Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall (§ 571 Abs 1 S 1 RVO) auch ein Durchschnitts-JAV als landwirtschaftlicher Unternehmer zu rechnen ist.

2. § 577 RVO umschreibt den Rechtsbegriff des nach § 571 RVO berechneten in erheblichem Maße unbilligen JAV durch den Vergleich mit Fähigkeiten, Ausbildung, Lebensstellung und Erwerbstätigkeit des Verletzten zur Zeit des Unfalls. Zugleich werden mit diesen Kontrollbegriffen die Grenzen des vom Versicherungsträger bei der Feststellung des JAV nach § 577 RVO auszuübenden billigen Ermessens festgelegt.

3. Die Gerichte können zwar die Entscheidung des Versicherungsträgers, ob der nach § 571 Abs 1 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, in vollem Umfang nachprüfen; das Gewaltenteilungsprinzip verbietet es den Gerichten jedoch, ihr Ermessen an die Stelle des vom Versicherungsträger auszuübenden billigen Ermessens zu setzen.

 

Orientierungssatz

Es ist dem Ermessen des Unfallversicherungsträgers überlassen, wie er die in erheblichem Maße unbillige Berechnung des JAV nach § 571 RVO gemäß § 577 S 1 RVO korrigiert. Die Korrektur des in erheblichem Maße unbilligen JAV geschieht schon durch eine wesentliche Verringerung der Unbilligkeit auf ein unerhebliches Maß.

 

Normenkette

RVO § 571 Abs 1 S 1, § 577 Fassung: 1963-04-30, § 780 Abs 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 26.03.1980; Aktenzeichen L 3 U 605/79)

SG Kassel (Entscheidung vom 22.03.1979; Aktenzeichen S 3 U 42/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Hinterbliebenenrenten der Kläger nach ihrem am 21. September 1976 bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückten Ehemann und Vater Konrad Lange (L.).

Der 1948 geborene L. hatte nach einer Fleischerlehre und seinem Wehrdienst von 1969 bis 1972 als LKW-Fahrer gearbeitet. Sodann war er bis 1973 als Fleischergeselle und anschließend bis 1974 wieder als LKW-Fahrer beschäftigt. Von 1974 bis 1976 war er Pächter des väterlichen landwirtschaftlichen Betriebes. Diesen Betrieb wollte er zum 1. Oktober 1976 wegen ungenügender Erträge vollständig aufgeben. Deshalb arbeitete er ab 2. August 1976 zunächst eine Woche aushilfsweise und sodann ohne zeitliche Begrenzung als LKW-Fahrer in dem Betrieb, in dem er schließlich tödlich verunglückte.

Durch Bescheid vom 26. Oktober 1976 stellte die Beklagte die Hinterbliebenenrenten der Kläger nach einem Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 11.534,58 DM fest. Dem Widerspruch, mit dem die Kläger die Berücksichtigung eines Nebenerwerbs aus Hausschlachtungen mit 1.360,-- DM sowie den Ansatz des Entgelts eines LKW-Fahrers für das gesamte Jahr vor dem Arbeitsunfall mit 23.317,79 DM begehrten, half die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1978 nur teilweise ab.

Die auf Berücksichtigung eines JAV von 23.317,79 DM im Wege der Billigkeit gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Kassel durch Urteil vom 22. März 1979 abgewiesen, nachdem die Beklagte den JAV unter Berücksichtigung des vollen durchschnittlichen JAV eines Landwirts auf 13.929,40 DM angehoben hatte. Auf die Berufung der Kläger hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 26. März 1980 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte in Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, den Klägern die Hinterbliebenenrenten nach einem JAV von 23.317,79 DM zu gewähren. Es hat ausgeführt, der von der Beklagten festgestellte JAV sei in erheblichem Maße unbillig, weil L. in der zur Zeit des tödlichen Unfalls ausgeübten Beschäftigung als LKW-Fahrer einen JAV von 23.317,79 DM und damit einen wesentlich höheren Betrag erreicht hätte, als die Beklagte mit dem Gesamtbetrag aller tatsächlichen Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen im Jahre vor dem Arbeitsunfall berücksichtigt habe. Nach § 577 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei in diesem Falle der JAV nach billigem Ermessen festzustellen. Daraus folge jedoch kein Ermessen der Beklagten. Es gebe nämlich nur einen "billigen" JAV, nämlich den eines in gleicher Stellung während des letzten Jahres vor dem Arbeitsunfall beschäftigten LKW-Fahrers. Selbst wenn man aber aus dem Wortlaut der genannten Bestimmung ein Ermessen der Beklagten entnehmen wolle, sei deren Verurteilung gerechtfertigt, weil hier nur die Entscheidung als ermessensfehlerfrei in Betracht komme, zu der die Beklagte verurteilt werde.

Mit der vom Senat auf Beschwerde zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine doppelte Verletzung des § 577 RVO. Sie macht geltend, die Vorschrift könne auf einen Durchschnitts-JAV nach § 780 RVO, um den es sich für den größten Teil des letzten Jahres vor dem tödlichen Unfall gehandelt habe, nicht angewendet werden. Die Verurteilung aus § 577 RVO bedeute aber auch einen Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz, weil das LSG sein Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens gesetzt habe.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom

26. März 1980 aufzuheben und die Berufung gegen das

Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 22. März 1979

zurückzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben ist. Soweit die Beklagte jedoch darüber hinaus die Zurückweisung der Berufung der Kläger gegen das Urteil des SG erreichen will, ist die Revision nicht begründet. Die Beklagte ist in Abänderung des Urteils des SG und der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, den Klägern unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats einen neuen Bescheid über die Höhe des ihren Hinterbliebenenrenten zugrundezulegenden JAV zu erteilen.

Rechtsgrundlage des von den Klägern verfolgten Anspruchs ist § 577 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I S. 241). Danach ist der nach §§ 571 bis 576 berechnete JAV im Rahmen des § 575 nach billigem Ermessen festzustellen, wenn er in erheblichem Maße unbillig ist. Bei dieser Feststellung ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen.

Der Auffassung der Beklagten, daß diese Vorschrift hier schon deshalb nicht anzuwenden sei, weil L. während des dem Unfall vorangegangenen Jahres im wesentlichen - nämlich bis auf knapp zwei Monate - landwirtschaftlicher Unternehmer gewesen sei, vermag der Senat nicht zu folgen. Zutreffend verweist die Beklagte zwar darauf, daß der sozialpolitische Ausschuß des Bundestages in seinem in der BT-Drucks IV/938 - neu - enthaltenen Bericht die Anregung, für den Durchschnitts-JAV nach § 780 RVO die Nichtgeltung der §§ 571 bis 572 und 574 bis 579 festzulegen, dahin beantwortet habe, es erscheine nicht erforderlich, eine solche Bestimmung zu schaffen, da sie selbstverständlich sei; lediglich in den Fällen der §§ 574 und 578 RVO seien besondere Bestimmungen (§§ 785 und 786) erforderlich. Diese Stellungnahme zielt indes auf den Unfall eines landwirtschaftlichen Unternehmers im landwirtschaftlichen Betrieb. Hier handelt es sich dagegen um den Unfall eines abhängig beschäftigten LKW-Fahrers in einem Kiesfuhrunternehmen. Diese Beschäftigung unterlag, wie die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden auch zutreffend vorausgesetzt hat, der Bestimmung des JAV nach § 571 RVO, nicht aber der Regelung des JAV nach § 780 RVO. Daß der nach § 571 RVO berechnete JAV dann gemäß § 577 RVO nach billigem Ermessen im Rahmen des § 575 RVO festzustellen ist, wenn er in erheblichem Maße unbillig ist, steht nach dem Wortlaut des § 577 RVO außer Zweifel. Dies muß mithin auch dann gelten, wenn zu dem nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO festzustellenden Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall ein Durchschnitts-JAV als landwirtschaftlicher Unternehmer iS von § 780 RVO gehört. Eine andere Rechtsauffassung kann weder dem Gesetz noch dem von der Beklagten zitierten Bericht des Sozialpolitischen Ausschusses entnommen werden.

Die Voraussetzung des § 577 RVO, daß der nach § 571 RVO berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" ist, eröffnet dem Versicherungsträger kein Ermessen; dieser hat hierzu auch keinen - beschränkt nachprüfbaren - Beurteilungsspielraum (BSGE 7, 269, 272; SozR Nr 1 zu § 577 RVO). Die Anwendung des § 577 Satz 1 RVO unterliegt insoweit vielmehr in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung. Bei dieser Prüfung "ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls" zu berücksichtigen. Ist dies rechtlicher Maßstab für die Festsetzung des JAV nach billigem Ermessen, so muß danach auch die Frage entschieden werden, ob der nach § 571 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (vgl BSG in SozR Nrn 1 und 2 zu § 577 RVO).

Nach den von der Revision nicht angegriffenen und somit nach § 163 SGG für den Senat bindenden Feststellungen des LSG war L. zur Zeit des Arbeitsunfalls als LKW-Fahrer beschäftigt. Diese Beschäftigung übte er bereits seit dem 2. August 1976 in einer Stellung aus, die schon nach einer Woche Aushilfe den Charakter der ständigen Beschäftigung angenommen hatte. Neben der Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls sind nach § 577 RVO die Fähigkeiten, die Ausbildung und die Lebensstellung des L. zu berücksichtigen. Damit soll erreicht werden, daß der Verletzte und seine Hinterbliebenen durch den Unfall nicht in dem erreichten Lebensstandard beeinträchtigt werden. Das folgt schon aus den Grundsätzen der Berechnung des JAV in § 571 RVO und wird durch die Korrekturmöglichkeit nach § 577 RVO noch verstärkt zum Ausdruck gebracht. § 571 Abs 1 Satz 1 RVO sieht die Addition aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall als JAV vor. Damit wird im Regelfall der zur Zeit des Unfalls erreichte Lebensstandard des Verletzten erfaßt. Für die Ausnahmefälle, in denen diese Addition deshalb zu unbefriedigenden Ergebnissen führt, weil in das maßgebliche Jahr vor dem Arbeitsunfall Zeiten ohne Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen fallen, schreibt Satz 2 des § 571 Abs 1 RVO den Einsatz der vor ihrem Beginn feststellbaren Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des Verletzten auch für die entgelt- und einkommenslosen Zeiten vor. Und schließlich erklärt § 571 Abs 1 Satz 3 RVO für den Fall, daß der Verletzte "früher nicht tätig gewesen" ist, die Tätigkeit für maßgebend, die er zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübt hat. Dies zeigt deutlich, daß der Gesetzgeber mit dem JAV das Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen des letzten Jahres vor dem Arbeitsunfall unter Ausschluß von Bezugslücken als die den Lebensstandard des Verletzten bestimmende Größe zu erfassen sucht. Auch die Anpassungsregelung des § 573 RVO mit ihrem Schutz des durch Ausbildung angestrebten und ohne den Unfall wahrscheinlich erreichten Lebensstandards läßt diese Funktion des JAV erkennen. Erhebliche Unbilligkeiten können sich insoweit aber auch dann noch ergeben, wenn der Verletzte im letzten Jahr vor dem Unfall zwar nicht Zeiten ohne Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, wohl aber Zeiten aufzuweisen hat, in denen sein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen in erheblichem Maße hinter dem Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zurückgeblieben ist, das bei ihm zur Zeit des Arbeitsunfalls aus seiner Erwerbstätigkeit anfiel oder unter Berücksichtigung seiner Beschäftigung oder Tätigkeit, seiner Fähigkeiten, seiner Ausbildung und seiner Lebensstellung zu erwarten war. Dafür sieht § 577 Satz 1 RVO eine Korrektur nach billigem Ermessen vor. Auch für den Fall, daß der Verletzte in der maßgeblichen Zeit nicht gegen Entgelt beschäftigt war, berücksichtigt § 577 Satz 2 RVO eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit. In jedem Fall soll somit die Arbeitsentgelts- oder Einkommenssituation des Verletzten zur Zeit des Unfalls in der Gestalt eines nach § 571 Abs 1 RVO erforderlichenfalls aufgefüllten oder gemäß § 577 RVO nach billigem Ermessen bereinigten JAV Maßstab der Unfallentschädigung sein und dem Verletzten im wesentlichen den vor dem Unfall erreichten Lebensstandard sichern.

Diese Betrachtungsweise entspricht der Stellung des Verletzten im System der gesetzlichen Unfallversicherung. Schon die grundsätzlich abstrakte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), bei der nur im Rahmen des § 581 Abs 2 RVO besondere berufliche Nachteile berücksichtigt werden, sucht mit der geminderten Erwerbsfähigkeit des Verletzten seine Position im allgemeinen Erwerbsleben zu erfassen, in dem sie die Minderung der körperlichen Leistungsfähigkeit als personenbezogenen Faktor der Unfallrente am allgemeinen Erwerbsleben und nicht an der letzten Tätigkeit mißt. Dem entspricht der JAV als der dafür maßgebliche wirtschaftliche Faktor. Auch insoweit wird nicht grundsätzlich auf die letzte Beschäftigung oder Tätigkeit sondern darauf abgestellt, welche Beträge der Verletzte im letzten Jahr vor dem Unfall insgesamt an Entgelt oder Einkommen durch Arbeit erworben hat. Minderungen des Arbeitseinkommens oder Arbeitsentgelts, die sich aus einer vom Verletzten auf Dauer akzeptierten Senkung seines Lebensstandards ergeben, werden dabei nicht ausgeglichen. Abgesehen davon muß aber der Lebensstandard in Gestalt des JAV erfaßt werden, auf den aus der zur Zeit des Unfalls ausgeübten Beschäftigung oder Tätigkeit sowie aus Fähigkeiten, Ausbildung und Lebensstellung des Verletzten zu schließen ist.

Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich, daß L. seine als Fleischerlehrling erworbenen Fähigkeiten in der Zeit bis zu seinem Tode nur für etwa ein Jahr als Fleischergeselle genutzt hat. Im übrigen hat er sich in der Zeit seines Arbeitslebens neben der letzten Beschäftigung als LKW-Fahrer, die nur knapp zwei Monate dauerte, etwa vier Jahre (von 1969 bis 1972 und von 1973 bis 1974) als LKW-Fahrer und nur zwei Jahre (von 1974 bis 1976) als Pächter des väterlichen landwirtschaftlichen Betriebes hauptberuflich betätigt. In der Zeit von der Wiederaufnahme der Beschäftigung als LKW-Fahrer im August 1976 bis zu seinem Tode hatte L. zwar den väterlichen landwirtschaftlichen Betrieb noch nicht zurückgegeben, die vollschichtige Beschäftigung als LKW-Fahrer in dieser Zeit berechtigte das LSG zu dem Schluß, daß er die landwirtschaftliche Tätigkeit nur noch nebenher und in Richtung auf deren vollständige Einstellung ausgeübt hat. Zum Schwerpunkt des Berufslebens des L. war mithin, wie das LSG zutreffend erkannt hat, die auch zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübte Tätigkeit des LKW-Fahrers geworden. Seine Fähigkeiten und seine Ausbildung stehen dem Schluß nicht entgegen, daß ihm die Lebensstellung als LKW-Fahrer angemessen und erfolgversprechend erschien. Dabei kann auch nicht außer acht gelassen werden, daß er als landwirtschaftlicher Unternehmer nicht ein fremdes, sondern - familiär beeinflußt - das väterliche Unternehmen bewirtschaftet hat.

Bei Berücksichtigung dieser Umstände erweist sich der nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO berechnete JAV deshalb in erheblichem Maße als unbillig, weil er um rund 40 vH hinter dem JAV zurückbleibt, den L. als LKW-Fahrer im letzten Jahr vor dem Unfall erzielt hätte, wenn er nicht nur in den letzten beiden Monaten vor dem Unfall sondern auch in den übrigen zehn vorangegangenen Monaten als LKW-Fahrer in der zuletzt innegehabten Stellung tätig gewesen wäre. Aus dem Verhalten des L. ist nämlich zu erkennen, daß er sich mit dem Lebensstandard als Pächter des elterlichen landwirtschaftlichen Betriebes nicht abzufinden vermochte und sich deshalb unter gleichzeitiger Wiederaufnahme seiner wesentlich ertragreicheren Beschäftigung als LKW-Fahrer bemühte das Pachtverhältnis zu beenden. Dabei war ihm die Rückkehr zu dem zuvor erreichten Lebensstandard eines LKW-Fahrers in abhängiger Beschäftigung knapp zwei Monate vor seinem Tode bereits gelungen. Unter diesen Umständen muß die Beklagte gemäß § 577 RVO einen für die Hinterbliebenenrenten der Kläger maßgeblichen JAV des L. im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen feststellen.

Der Auffassung des LSG, daß § 577 Satz 1 RVO der Beklagten keinen Ermessensspielraum eröffne, vermag der Senat nicht zuzustimmen. Der Wortlaut der Vorschrift ergibt nur, daß bei Unbilligkeit des nach § 571 RVO berechneten JAV in erheblichem Maße der JAV in den Grenzen des gesetzlichen Mindest- und Höchst-JAV nach billigem Ermessen festgestellt werden muß. Das Ermessen des Unfallversicherungsträgers schließt also die Ablehnung der anderweitigen Feststellung des JAV trotz Unbilligkeit in erheblichem Maße nicht ein. Dagegen ist es dem Ermessen des Unfallversicherungsträgers überlassen, wie er die in erheblichem Maße unbillige Berechnung des JAV nach § 571 RVO gemäß § 577 Satz 1 RVO korrigiert. Das LSG irrt, wenn es meint, es gebe nur einen "billigen" JAV. Abgesehen davon, daß das Gesetz in § 577 RVO den Begriff des "billigen JAV" nicht verwendet, will es nur den in erheblichem Maße unbilligen JAV korrigiert wissen. Das aber geschieht schon durch eine wesentliche Verringerung der Unbilligkeit auf ein unerhebliches Maß (zum in erheblichem Maße unbilligen JAV vgl BSG SozR 2200 § 571 Nrn 1, 10, 19; § 577 Nr 4). Grundsätzlich liegt jede JAV-Feststellung nach § 577 RVO, welche das sich nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO ergebende in erheblichem Maße unbillige Ergebnis vermeidet, in dem dem Versicherungsträger vom Gesetz eingeräumten billigen Ermessen. Dieses ist allerdings weiter dadurch eingeschränkt, daß der Versicherungsträger sowohl die Fähigkeiten wie die Ausbildung, die Lebensstellung des Verletzten als auch seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls bei Vornahme der JAV-Korrektur nach § 577 RVO zu berücksichtigen hat. Entsprechendes gilt in dem hier nicht gegebenen Fall einer Beschäftigung ohne Entgelt; hier ist eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit als Ausgangspunkt der Entscheidung nach billigem Ermessen vorgeschrieben. Endlich ist der Versicherungsträger in seiner Ermessensausübung auch durch das Gebot der Gleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte eingeschränkt. In diesen Grenzen steht es ihm jedoch frei, wie er das in erheblichem Maße unbillige Ergebnis der JAV-Feststellung nach § 571 Abs 1 RVO gemäß § 577 RVO korrigieren will. Er kann dabei durchaus auf bestehende tarifliche Regelungen zurückgreifen und ist deshalb - entgegen der Auffassung des LSG - nicht gehalten, von dem JAV auszugehen, der sich nach einer Bescheinigung des letzten Arbeitgebers bei durchgehender Beschäftigung im gesamten Jahr vor dem Unfall ergeben hätte. Zumindest unter diesen Möglichkeiten muß dem Träger der Unfallversicherung in Ausübung des ihm gesetzlich eingeräumten Ermessens die Wahl bleiben; aber auch eine anderweitige Korrektur des nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO errechneten in erheblichem Maße unbilligen JAV steht dem Unfallversicherungsträger frei, sofern er sich dabei innerhalb der vorstehend aufgezeigten Grenzen bewegt und sein Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise gebraucht (vgl § 54 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661177

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