Leitsatz (amtlich)

1. Für die Frage, ob eine Leistung aus der Sozialversicherung als eine Leistung der Rentenversicherung im Sinne des G 131 § 74 anzusehen ist, kommt es auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Gewährung der Leistung an.

2. Die Satzung der früheren Versicherungsanstalt Berlin ist nicht revisibel, soweit ein Gericht aus ihr entnimmt, daß die Gewährung eines Heilverfahrens keine Leistung der Rentenversicherung gewesen sei.

 

Normenkette

G131 § 74 Fassung: 1953-09-01; SGG § 162 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. Januar 1956 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger gehört zu den unter Art. 131 Grundgesetz (GG) fallenden Personen. Am 23. Dezember 1952 beantragte er bei der Landesversicherungsanstalt (LVA.) Berlin, ihm nach § 74 des Gesetzes zu Art. 131 GG die Beiträge zur Rentenversicherung für die Zeit von 1946 bis 1951 zu erstatten. Die LVA. lehnte den Antrag mit Bescheid vom 26. Januar 1954 ab: Die Beitragserstattung setze voraus, daß aus der Rentenversicherung keine Leistungen gewährt worden seien. Die Ehefrau des Klägers habe ein Heilverfahren erhalten; dies sei eine solche Leistung. Die Widerspruchsstelle der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA.) wies am 28. April 1954 den Widerspruch des Klägers zurück. Das Sozialgericht (SG.) Berlin hob durch Urteil vom 3. März 1955 die ablehnenden Bescheide auf und verurteilte die Beklagte, "dem Kläger die in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis 31. März 1951 entrichteten Beiträge zur Rentenversicherung - hinsichtlich der Pflichtbeiträge lediglich die Arbeitnehmeranteile - zurückzugewähren." Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG.) Berlin durch Urteil vom 20. Januar 1956 zurück und ließ die Revision zu: Das Heilverfahren der Ehefrau des Klägers sei keine Leistung aus der Rentenversicherung im Sinne des § 74 des Gesetzes zu Art. 131 GG. Wenn, wie beim Kläger, eine "Vollversicherung" zur Versicherungsanstalt Berlin (VAB.) bestanden habe, seien die gewährten Leistungen nachträglich in solche zur Krankenversicherung und in solche zur Rentenversicherung aufzuteilen, da § 8 Abs. 2 der Fünften Durchführungsverordnung zum Gesetz zu Art. 131 GG vom 21. April 1952 (BGBl. I S. 250) auch die Beiträge entsprechend aufgeteilt habe. Nach der Satzung der VAB. habe ein Heilverfahren nur in der "Krankenversicherung", nicht in der "Rentenversicherung" gewährt werden können. Aus den der Rentenversicherung zuzurechnenden Beitragsteilen des Klägers sei daher keine Leistung bewilligt worden.

Gegen dieses Urteil legte die Beklagte form- und fristgerecht Revision ein und beantragte, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen: Das LSG. habe § 74 des Gesetzes zur Art. 131 GG verletzt. Nach dieser Vorschrift beurteile sich die Frage, ob eine Leistung aus der Rentenversicherung gewährt worden sei, allein nach den reichsgesetzlichen Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Es sei nämlich allgemein anerkannt, daß die Gerichte das jeweils geltende Recht zu berücksichtigen hätten. Nach §§ 25 AVG, 1252 Nr. 2 RVO sei das Heilverfahren der Ehefrau des Klägers als eine Leistung der Rentenversicherung anzusehen. Heilverfahren - auch solche für nicht versicherte Ehefrauen und Kinder von Versicherten - seien typische Leistungen der Rentenversicherung; in der Krankenversicherung könne Familienangehörigen ein Heilverfahren nicht gewährt werden. Daß das Heilverfahren der Ehefrau des Klägers eine freiwillige "Kannaufwendung" gewesen sei, sei unbeachtlich, da § 74 des Gesetzes zu Art. 131 GG ganz allgemein von "Leistungen" spreche, also nicht nur Heilverfahren im Auge habe, die Regelleistungen oder Mehrleistungen im Sinne der §§ 1250, 1251 RVO seien. Im übrigen sei es auch abwegig, anzunehmen, daß die Satzung der VAB. Heilverfahren nur für Krankenversicherte, nicht aber für Rentenversicherte zugelassen habe. Die VAB. habe als einheitlicher Versicherungsträger - von einem Teil der freiwillig Versicherten abgesehen - nicht zwischen Leistungen der Krankenversicherung und Leistungen der Rentenversicherung unterschieden. Die Unterscheidung in ihrer Satzung zwischen "Renten" (7. Abschn.) und "Leistungen für Versicherte und ihre Familienangehörigen mit Ausnahme von Renten" (6. Abschn.) habe den Charakter der Einheitsversicherung nicht berührt.

Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen: Das Urteil des LSG. beruhe nicht auf der Anwendung revisiblen Rechts, im übrigen seien die Ausführungen des LSG. durchaus zutreffend.

II.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zu Art. 131 GG sind einem Beamten zur Wiederverwendung die von ihm in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis 31. März 1951 zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichteten Beiträge zu erstatten, sofern "Leistungen" nicht gewährt worden sind. "Leistungen" im Sinne dieser Vorschrift sind nur Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung, nicht auch solche aus der gesetzlichen Kranken-, Unfall- oder Arbeitslosenversicherung. Dies folgt daraus, daß der Erstattungsanspruch ausdrücklich auf die Beiträge zur gesetzlichen Renten versicherung beschränkt ist. Hat daher, wie im vorliegenden Fall, ein Beamter den Erstattungsanspruch geltend gemacht, für dessen nichtversicherte Ehefrau eine Leistung der Sozialversicherung bewilligt worden ist, dann ist zu prüfen, ob diese Leistung der Rentenversicherung oder der Kranken-, Unfall- oder Arbeitslosenversicherung zuzurechnen ist. Diese Prüfung muß auch bei einer Leistung der VAB. vorgenommen werden, obwohl sie für alle Zweige der Sozialversicherung zuständig gewesen ist. § 74 des Gesetzes zu Art. 131 GG und die Durchführungsverordnungen zu diesem Gesetz enthalten für die Leistungen der VAB. keine Ausnahmeregelung dahin, daß jede Leistung dieses Versicherungsträgers den Erstattungsanspruch ausschließt. Vielmehr ist aus § 8 Abs. 2 der Fünften Durchführungsverordnung vom 21. April 1952 (BGBl. I S. 250), wonach für die Beitragserstattung die zur einheitlichen Sozialversicherung des Landes Berlin entrichteten Beiträge in Höhe von 60% als Beiträge zur Rentenversicherung gelten, zu entnehmen, daß bei der Anwendung des § 74 des Gesetzes zu Art. 131 GG die Leistungen der VAB. in solche der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung aufzuteilen sind. Das LSG. hat daher mit Recht geprüft, ob das Heilverfahren, das die VAB. der Ehefrau des Klägers im Jahre 1949 bewilligt hat, der Renten- oder der Krankenversicherung zuzurechnen ist. Hierbei ist es zutreffend davon ausgegangen, daß für die Beurteilung dieser Frage das im Zeitpunkt der Bewilligung des Heilverfahrens in Berlin geltende Recht - die Satzung der VAB. - maßgebend ist. Es ist zwar richtig, wie die Beklagte ausführt, daß in Berlin seit dem 1. April 1952 nicht mehr die Satzung der VAB., sondern grundsätzlich die RVO sowie das AVG gelten (§§ 1,54 des Berliner Rentenversicherungsüberleitungsgesetzes vom 10.7.1952, GVOBl. S. 588) und daß ein neues Gesetz dann berücksichtigt werden muß, wenn es nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfaßt (vgl. Urteil des 1. Senats des BSG. vom 9.2.1956 - 1 RA 5/55). Im vorliegenden Fall wird jedoch das Rechtsverhältnis, um dessen Beurteilung es sich handelt, von dem in Berlin seit dem 1. April 1952 geltenden Recht nicht erfaßt. Der Kläger erstrebt mit seinem Antrag auf Beitragserstattung eine Leistung, die ihre tatsächliche und rechtliche Grundlage teilweise in bereits vergangenen Verhältnissen hat. Soweit dies der Fall ist - also hinsichtlich der Versicherungspflicht, der Versicherungsberechtigung, der Beiträge und der Leistungen - muß auf die Verhältnisse eingegangen werden, die zu jener Zeit bestanden haben (ebenso Zschacke in NJW. 1956 S. 729 ff. unter II; Rosenberg , Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 6. Aufl., S. 23; Urteil des RG. vom 15.6.1929, RGZ. Bd. 125, S. 58 ff., 61). Anders wäre es nur, wenn § 74 des Gesetzes zu Art. 131 GG oder die Durchführungsbestimmungen zu diesem Gesetz hierfür Sonderbestimmungen enthielten. Das trifft aber nicht zu; in § 8 Abs. 2 der Fünften Durchführungsverordnung ist nur geregelt, wie die früher entrichteten Beiträge auf Kranken- und Rentenversicherung aufzuteilen sind; über die Zuweisung der früher gewährten Leistungen zur Kranken- oder Rentenversicherung ist darin nichts gesagt. Das LSG. ist deshalb berechtigt gewesen, zu prüfen, ob das Heilverfahren der Ehefrau des Klägers nach der Satzung der VAB. der Rentenversicherung zuzurechnen ist.

Die Satzung der VAB. ist nicht Bundesrecht. Ihre einzelnen Vorschriften über die "Vollversicherung", die "Krankenversicherung" und die "Rentenversicherung" stimmen auch nicht inhaltlich mit dem Recht im Bezirk eines anderen Landessozialgerichts überein. Ihre Wertung und Auslegung beruht daher nicht auf der Anwendung revisiblen Rechts, sondern auf der Anwendung irrevisiblen Rechts. Daraus folgt, daß das BSG. nicht nachprüfen kann, ob die Annahme des LSG., das Heilverfahren der Ehefrau des Klägers sei nach der Satzung der VAB. der Krankenversicherung zuzurechnen, richtig ist oder nicht (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist an diese rechtliche Beurteilung wie an eine Tatsachenfeststellung gebunden. Die Revision der Beklagten ist daher unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324511

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