Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufklärung nach dem SGB 1

 

Leitsatz (amtlich)

1. Leidet der Versicherte an einer Krankheit, die eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich macht, so ist seine von ihm in Anspruch genommene Krankenkasse verpflichtet, den Weg aufzuzeigen, wie er diese Behandlung als Kassenleistung erhalten kann.

2. Verletzt die Krankenkasse die ihr in dieser Hinsicht obliegende Beratungspflicht, so steht dem Versicherten ein sozialrechtlicher Schadensersatzanspruch (Herstellungsanspruch) zu.

 

Leitsatz (redaktionell)

Neben der Pflicht zur allgemeinen Aufklärung (SGB 1 § 13) und zur individuellen Beratung und Auskunft (SGB 1 §§ 14, 15) haben die Sozialleistungsträger auch darauf hinzuwirken, daß unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben ergänzt werden (SGB 1 § 16 Abs 3); eine entsprechende Verpflichtung bestand auch schon für die Zeit vor Inkrafttreten des SGB 1.

 

Normenkette

RVO § 122 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1974-08-07, § 188 Fassung: 1969-07-27, § 368 Fassung: 1955-08-17; SGB 1 § 14 Fassung: 1975-12-11, § 16 Abs. 3 Fassung: 1975-12-11, § 13 Fassung: 1975-12-11, § 15 Fassung: 1975-12-11

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 12.08.1977; Aktenzeichen L 1 Kr 6/76)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 30.04.1976; Aktenzeichen S 4 Kr 33/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. August 1977 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten besteht darüber Streit, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Kosten einer psychotherapeutischen Behandlung der Ehefrau des Klägers zu übernehmen.

Der Kläger ist Mitglied der beklagten Krankenkasse. Seine Ehefrau befindet sich wegen einer depressiven Erkrankung seit Februar 1975 in Behandlung des zur kassenärztlichen Versorgung zugelassenen Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. in Pinneberg. Neben dieser Behandlung unterzog sie sich zeitweise einer psychotherapeutischen Gesprächstherapie, wozu sie den nichtärztlichen Psychotherapeuten Dr. F. in Hamburg in Anspruch nahm. Die für die ersten 10 Sitzungen in der Zeit vom 14. April bis 16. Juni 1975 angefallenen Kosten in Höhe von 500,- DM bezahlte der Kläger. Seinen daraufhin an die Beklagte gerichteten Antrag auf Kostenerstattung lehnte diese mit Bescheid vom 27. August 1975 ab, weil aufgrund der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (Psychotherapie-Richtlinien) sowie der Vereinbarung der Partner des Bundesmantelvertrages-Ärzte vom 14. Juni 1967 (Psychotherapie-Vereinbarung) die Bestimmung des § 122 der Reichsversicherungsordnung (RVO), die die Weiter- und Fortbehandlung durch eine nichtärztliche Heilperson regele, keine Anwendung finde und nur ein zur Ausübung tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie berechtigter Arzt - Dr. H. erfülle diese Voraussetzungen nicht - ermächtigt sei, die Behandlung an einen nichtärztlichen Psychotherapeuten zu übertragen.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren beantragte der Kläger zusätzlich, die Beklagte solle auch die inzwischen fortgeführte psychotherapeutische Behandlung übernehmen. In einem ärztlichen Attest vom 13. August 1975 bescheinigte Dr. H., daß die Ehefrau des Klägers neben einer von ihm durchgeführten medikamentösen Behandlung einer psychotherapeutischen Gesprächstherapie bedürfe. Der Widerspruch wurde jedoch zurückgewiesen: Die bisher entstandenen Aufwendungen und die noch anfallenden Kosten der psychotherapeutischen Behandlung durch Dr. F. seien nicht von der Krankenkasse zu tragen. Der Bundesmanteltarif-Ärzte regele die ärztliche Behandlung, die dem Versicherten nach § 182 RVO zustehe. Bei der Psychotherapie-Vereinbarung handele es sich um eine rechtsverbindliche Anlage des Bundesmantelvertrages. Sei - wie in diesem Falle - tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie angezeigt, so müßten die für diesen Leistungsbereich speziell ergangenen vertraglichen Regelungen zwingend beachtet werden. Dies gelte vor allem für das zunächst durchzuführende Gutachterverfahren und die tiefenpsychologische Befähigung des behandelnden Arztes (Widerspruchsbescheid vom 13. November 1975).

Klage und Berufung sind für den Kläger ohne Erfolg geblieben. Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) hat sich die zum Rechtsstreit beigeladene Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KÄV) dem Antrag der Beklagten mit der Begründung angeschlossen, die hier zur Anwendung gekommene psychotherapeutische Gesprächstherapie (sog kleine Psychotherapie) könne als kassenärztliche Leistung nicht von einem nichtärztlichen Psychotherapeuten durchgeführt werden. Im Berufungsverfahren hat der Kläger zuletzt den Antrag gestellt, die Beklagte zu verurteilen, die psychotherapeutische Behandlung seiner Ehefrau durch Dr. F. in der Zeit vom 14. April 1975 bis 4. Mai 1976 als Kassenleistung zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen: Zwar habe die Ehefrau des Klägers, wovon die Beklagte ebenfalls ausgehe, auch hinsichtlich der neurotischen Komponente ihrer Depression an einer (behandlungsbedürftigen) Krankheit gelitten. Bei der psychotherapeutischen Behandlung durch Dr. F. handele es sich aber nicht um eine gemäß § 182 Abs 1 Nr 1 RVO der Krankenkasse obliegende Maßnahme der Krankenpflege, vor allem nicht um eine ärztliche Behandlung oder ein Heilmittel. Eine (ärztlich angeordnete) Hilfeleistung iS des § 122 Abs 1 Satz 2 RVO komme nicht in Betracht, denn Dr. H. habe, wie seiner Auskunft zu entnehmen sei, die von Dr. F. eigenständig durchgeführte Gesprächstherapie weder verordnet noch geleitet noch deren Erfolg unmittelbar kontrolliert. Es lägen auch die in der Psychotherapie-Vereinbarung geregelten Voraussetzungen zur psychotherapeutischen Behandlung als Kassenleistung nicht vor, insbesondere führe Dr. H. nicht selbst überwiegend tiefenpsychologisch fundierte oder analytische Psychotherapie durch. Es könne deshalb offenbleiben, ob es sich bei der psychotherapeutischen Behandlung durch Dr. F. um die sogenannte Große Psychotherapie gehandelt habe, die allein Gegenstand der Richtlinien und der Vereinbarung sei. Schließlich könne aus der Neufassung des § 182 Abs 1 Nr 1 RVO durch § 21 Nr 5 Buchst a des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) - aus dem Einfügen des Wortes "insbesondere" - nicht gefolgert werden, daß die Träger der Krankenversicherung nunmehr auch außerhalb des § 122 RVO für die Krankenbehandlung durch andere als approbierte Ärzte zuständig seien. Bei dieser Rechtslage komme es auf die vom Kläger angesprochenen Schwierigkeiten, psychotherapeutische Behandlung durch einen Kassenarzt zu erlangen, nicht an.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 205 Abs 1 RVO iVm § 182 Abs 1 Nr 1 RVO sowie der §§ 2 Abs 2, 14 und 15 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I): Dem LSG wäre nur zuzustimmen, wenn er erst im nachhinein die Erstattung von Aufwendungen für die psychotherapeutische Behandlung seiner Ehefrau bei der Beklagten geltend gemacht oder wenn er erreichbare ärztliche psychotherapeutische Behandlung abgelehnt hätte. Ein solcher Sachverhalt liege aber nicht vor. Die Beklagte habe schlechthin die Kostenübernahme für eine psychotherapeutische Behandlung abgelehnt. Nachdem sie davon Kenntnis erlangt habe, daß - wovon sie selbst ausgehe - eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie angezeigt gewesen sei, hätte sie ihn vor abschließender Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch durch sachgerechte Aufklärung und Beratung veranlassen müssen, den richtigen Arzt in Anspruch zu nehmen. Dr. H. habe einen solchen Arzt nicht nennen können. Auch der Beklagten müsse die Tatsache einer völlig unzureichenden ärztlichen Versorgung im Bereich der Psychotherapie bekannt gewesen sein. Es gehöre zu den Pflichten der Sozialleistungsträger, den Bürgern zu den ihnen nach dem Gesetz zustehenden Rechten und Leistungen zu verhelfen (BSG vom 26. Oktober 1976 - 12/7 RAr 78/74 - mwN). Bei entsprechender Information hätte er sofort den Kassenarzt und den Psychotherapeuten gewechselt. Ein wesentlicher Teil der ihm entstandenen Behandlungskosten beruhe auf der unterlassenen Beratung. Das LSG wäre verpflichtet gewesen, das Klagebegehren auch unter dem Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Schadensersatzanspruchs zu prüfen (BSG vom 21. Juli 1977 - 7 RAr 38/76 -).

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. August 1977 und des Sozialgerichts Itzehoe vom 30. April 1976 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. August 1975 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. November 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die notwendigen Kosten der selbstbeschafften psychotherapeutischen Behandlung seiner Ehefrau vom 14. April 1975 bis zum 4. Mai 1976 zu erstatten,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Beklagte führt ergänzend aus: Auch psychotherapeutische Behandlung könne als Sachleistung der Krankenversicherung in Anspruch genommen werden, die sogenannte Große Psychotherapie im Rahmen der Vereinbarung vom 11. Juni 1976 und die sogenannte Kleine Psychotherapie, die von jedem zugelassenen Arzt erbracht werden könne. Soweit der Kläger nun geltend mache, ein ärztlicher Psychotherapeut sei nicht zu erreichen gewesen, könne er mit diesem neuen Tatsachenvorbringen in der Revisionsinstanz nicht mehr gehört werden. Davon abgesehen sei es unwahrscheinlich, daß es im Großraum Hamburg keinen ärztlichen Psychotherapeuten gebe. Ein sozialrechtlicher Schadensersatzanspruch scheitere schon daran, daß sie eine Nebenpflicht aus dem Versicherungsverhältnis nicht verletzt habe. Als sie im August 1975 mit dem Kostenerstattungsbegehren konfrontiert worden sei, habe sie den Kläger sofort darauf hingewiesen, daß nach der Psychotherapie-Vereinbarung nur ein zur Ausübung tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie berechtigter Arzt ermächtigt sei, die Behandlung an einen nichtärztlichen Psychotherapeuten zu delegieren. Es wäre Sache des Klägers gewesen, bei ihr um die Adresse eines nach der Psychotherapie-Vereinbarung ermächtigten ärztlichen Psychotherapeuten nachzusuchen, wenn seine Ehefrau bereit gewesen wäre, die Behandlung bei dem in Anspruch genommenen nichtärztlichen Psychotherapeuten abzubrechen. Darüber hinaus müsse dem Kläger vorgehalten werden, daß er es versäumt habe, sich vor Beginn der psychotherapeutischen Behandlung seiner Ehefrau zu erkundigen, unter welchen Voraussetzungen die psychotherapeutische Behandlung als Sachleistung der Krankenversicherung gewährt werden könne.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist. Die Vorinstanzen haben rechtliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen, die für die Beurteilung der Streitsache von Bedeutung sind. Dem Senat ist eine abschließende Entscheidung nicht möglich, denn die bisherigen Tatsachenfeststellungen reichen dazu nicht aus.

Der vom Kläger mit der Revision weiter verfolgte Anspruch auf Kostenerstattung kann nicht, wie bisher geschehen, allein deshalb verneint werden, weil die von dem nichtärztlichen Psychotherapeuten Dr. F. selbständig und ohne ärztliche Anordnung, Leitung und Überwachung durchgeführte Behandlung der Ehefrau des Klägers vom 14. April 1975 bis 4. Mai 1976 keine nach § 182 Abs 1 Nr 1 RVO dem Krankenversicherungsträger obliegende Leistung der Krankenpflege ist. Diese Begründung entspricht zwar der Rechtsauffassung des erkennenden Senats (Urteil vom 10. Juli 1979 - 3 RK 21/78 -, zur Veröffentlichung vorgesehen), sie berücksichtigt aber nicht die besonderen Verhältnisse der vorliegenden Streitsache.

Der Kläger begehrte ursprünglich nicht nur die Erstattung der bereits angefallenen Kosten (in Höhe von 500,- DM für die Behandlungszeit vom 14. April bis 16. Juni 1975), sondern auch die Übernahme der noch (bis 4. Mai 1976) fortdauernden psychotherapeutischen Behandlung. Fraglich erscheint daher, ob der Kläger für seine Ehefrau ausschließlich eine Behandlung durch den nichtärztlichen Psychotherapeuten Dr. F begehrte oder ob er für die Zeit ab Stellung des Antrages bei der Beklagten allgemein eine psychotherapeutische Behandlung als Kassenleistung geltend machen wollte. Im letzteren Falle käme unter bestimmten Voraussetzungen eine Leistungspflicht der Krankenkasse in Betracht. Die Krankenversicherungsträger selbst halten sich für verpflichtet, im Rahmen ärztlicher Behandlung auch eine Psychotherapie zu gewähren, die sogenannte Große Psychotherapie im Rahmen der jeweils geltenden Psychotherapie-Vereinbarung und die sogenannte Kleine Psychotherapie, die den Kassenärzten selbst überlassen wird. Es kann hier zunächst dahingestellt bleiben, ob diese von den Krankenkassen auf psychotherapeutischem Gebiet angebotene Krankenpflege in qualitativer und quantitativer Hinsicht der gesetzlichen Leistungsverpflichtung gerecht wird. Jedenfalls steht fest, daß auch eine psychotherapeutische Behandlung als Maßnahme der Krankenpflege in Betracht kommt. Ein eventueller Anspruch des Klägers auf diese Sachleistung konnte sich - nach der ständigen Rechtsprechung des Senats bezüglich der ärztlichen Behandlung im allgemeinen - in einen Kostenerstattungsanspruch umwandeln, wenn die Beklagte die zeitgerechte Leistung rechtswidrig verweigerte und der Kläger aus diesem Grunde gezwungen war, sich die Leistung selbst zu beschaffen.

Ein solcher Anspruch auf Kostenerstattung ist im vorliegenden Fall nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil sich der Antrag des Klägers seinem Wortlaut nach auf eine - der Krankenkasse nicht obliegende - selbständige Behandlung durch einen bestimmten nichtärztlichen Psychotherapeuten bezog. Zutreffend weist die Revision darauf hin, daß es zu den Pflichten der Sozialleistungsträger gehört, den Bürgern zu den ihnen nach dem Gesetz zustehenden Rechten und Leistungen zu verhelfen. In dem am 1. Januar 1976 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) sind die diesbezüglichen Pflichten für den gesamten Bereich der Sozialleistungen ausdrücklich geregelt. Neben den Verpflichtungen zur allgemeinen Aufklärung (§ 13) und zur individuellen Beratung und Auskunftserteilung (§§ 14, 15) obliegt den Sozialleistungsträgern insbesondere, darauf hinzuwirken, daß unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben ergänzt werden (§ 16 Abs 3). Nach der von mehreren Senaten des BSG wiederholt zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung, die auch vom erkennenden Senat geteilt wird, bestand eine entsprechende Verpflichtung auch schon für die Zeit vor dem Inkrafttreten des SGB I, in der die hier streitbefangene Behandlung begann. So hat der 1. Senat in Anknüpfung an ein Urteil des 12. Senats vom 24. März 1964 (SozR Nr 21 zu Art 2 § 42 ArVNG) und unter Berufung auf die einhellige Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte am 17. November 1970 entschieden, die Auskunft einer Behörde müsse nicht nur richtig, sondern auch so klar und vollständig sein, daß der Empfänger entsprechend disponieren könne; aufgrund der Fürsorge- und Betreuungspflicht habe die Behörde dem Staatsbürger, soweit sie mit dessen Angelegenheiten befaßt sei, zu helfen, damit dieser das erreichen könne, was ihm zustehe oder was er im Rahmen des Möglichen und Zulässigen zu erreichen wünsche (BSGE 32, 60, 65 = SozR Nr 15 zu § 1286 RVO aF; vgl BSGE 34, 124 ff = SozR Nr 25 zu § 29 RVO; 41, 126 ff = SozR 7610 § 242 BGB Nr 5; 41, 260 ff = SozR 4100 § 151 AFG N 3; 42, 224 ff = SozR 2200 § 1324 RVO Nr 3; SozR 4100 § 44 AFG Nr 9; SozR 5850 § 26 GAL Nr 2; SozR 2200 § 1286 RVO Nr 3; BSGE 44, 188 ff = SozR 4100 § 103 AFG Nr 8; BSGE 45, 119 ff = SozR 2200 § 1542 RVO Nr 1). Verletzt ein Versicherungsträger diese sich aus einem konkreten - zB durch einen Sozialleistungsantrag begründeten - Sozialrechtsverhältnis ergebende Verpflichtung, so hat er den Versicherten versicherungsrechtlich so zu stellen, wie dieser bei pflichtmäßigem Verwaltungshandeln gestanden hätte (zum sozialrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch vor allem BSGE 41, 260 ff sowie SozR 4100 § 44 AFG Nr 9). Daraus folgt für den vorliegenden Fall, daß der Antrag des Klägers nicht beschränkt auf die Erstattung von Behandlungskosten des nichtärztlichen Psychotherapeuten Dr. F. aufgefaßt werden darf, soweit anzunehmen ist, daß der Kläger bei vollständiger Aufklärung zumindest hilfsweise die Gewährung einer psychotherapeutischen Behandlung durch einen dazu berechtigten Arzt bzw durch einen von diesem zugezogenen nichtärztlichen Psychotherapeuten begehrt hätte. Eine solche Annahme ist vor allem dann gerechtfertigt, wenn jeder verständige Versicherte mutmaßlich seinen Antrag der erhaltenen Auskunft angepaßt hätte und keine Gründe für ein anderes Verhalten des Klägers vorliegen (vgl BSGE 41, 126, 128; SozR 5850 § 26 GAL Nr 2).

Eine Verletzung der aus dem konkreten Sozialrechtsverhältnis sich ergebenden Nebenpflicht zur eindeutigen und erschöpfenden Auskunft kommt hier in Betracht. Es besteht die Möglichkeit, daß der Kläger gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf ärztliche oder ärztlich-geleitete psychotherapeutische Behandlung seiner Ehefrau hatte, insbesondere, daß die Voraussetzungen einer Behandlung nach der Psychotherapie-Vereinbarung und den Psychotherapie-Richtlinien vorlagen. Nach den Tatsachenfeststellungen im Berufungsurteil litt die Ehefrau des Klägers auch hinsichtlich der neurotischen Komponente ihrer Depression an einer behandlungsbedürftigen Krankheit. Die Beklagte selbst räumte im Widerspruchsbescheid ein, daß im vorliegenden Falle eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie angezeigt gewesen sei. Es hätte daher nahe gelegen, den Kläger über die der Krankenkasse obliegende psychotherapeutische Behandlung genau aufzuklären. Die Beklagte wies zwar in ihren Verwaltungsentscheidungen auf die Psychotherapie-Vereinbarung hin, dieser Hinweis beschränkte sich jedoch darauf, die Ablehnung der dem Wortlaut nach beantragten Leistung (Behandlung durch Dr. F.) zu rechtfertigen. Es wird dem Kläger aber nicht der Weg aufgezeigt, wie er die nach dem Gesetz mögliche Leistung in Anspruch nehmen kann. Das wäre jedoch geboten gewesen, denn zum einen ist das von den Krankenkassen zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben auf psychotherapeutischem Gebiet bereitgestellte Leistungsangebot für die Versicherten so unübersichtlich, daß sich im Einzelfall nicht vermeiden läßt, einen konkreten Weg aufzuzeigen, der zu den gesetzlich möglichen Leistungen führt. Das gilt insbesondere dann, wenn sich aus dem Verhalten eines Versicherten ergibt, daß er über die gesetzlichen Möglichkeiten nicht ausreichend informiert ist. Hinzu kommt, daß der vom Kläger nicht erst - wie der Beklagte meint - im Revisionsverfahren erhobene Einwand, im Bereich der Psychotherapie sei die ärztliche Versorgung unzureichend (vgl Schriftsatz des Bevollmächtigten des Klägers vom 21.März 1977), eine gewisse Bestätigung durch den im Berufungsverfahren erstatteten Bericht des Dr. H. vom 29. Juni 1977 erfährt. Sollte der Einwand des Klägers für seinen Wohnbereich und für die hier streitbefangene Zeit zutreffen, wäre die Beklagte besonders zu einer der Realisierung des Anspruchs des Klägers dienenden Aufklärung verpflichtet gewesen. Es ist ungeklärt, ob die Beklagte der ihr obliegenden Verpflichtung zur Aufklärung nachgekommen ist. Es kann vor allem nicht ausgeschlossen werden, daß dem Kläger außer den Bescheiden weitere schriftliche oder mündliche Informationen zugegangen sind. Im Bescheid vom 27. August 1975 wird auf eine mündliche Besprechung verwiesen.

Ergeben die noch zu treffenden Tatsachenfeststellungen, daß die Beklagte ihre dem Kläger gegenüber obliegende Aufklärungspflicht verletzte und der Kläger allgemein eine psychotherapeutische Behandlung seiner Ehefrau begehrte, ist weiter zu klären, ob dem Kläger ein Anspruch auf diese Sachleistung zustand. Dies ist davon abhängig, ob seine Ehefrau an einer Krankheit litt, die eine solche Behandlung notwendig machte, und ob diese Behandlung nicht im Rahmen einer sonstigen haus- oder fachärztlichen Behandlung durchgeführt werden konnte. Sollten diese Voraussetzungen erfüllt sein und keine anderen - zur Zeit nicht bekannten - Gründe einer Leistungspflicht der Beklagten entgegenstehen, hätte die Beklagte dem Kläger Behandlungskosten insoweit zu erstatten, als sie bei korrektem Verwaltungshandeln zur Sachleistung verpflichtet gewesen wäre.

Da das Revisionsgericht die fehlenden Tatsachenfeststellungen nicht selbst treffen kann, muß von der Möglichkeit der Zurückverweisung Gebrauch gemacht werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Breith. 1980, 828

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