Orientierungssatz

Der Versicherungsschutz auf einem Weg nach dem Ort der Tätigkeit iS des RVO § 550 Abs 1 ist nicht auf die kürzeste Verbindung zwischen diesem Ort und der Wohnung des Versicherten beschränkt. Vielmehr ist der Versicherte nicht nur in der Wahl des Verkehrsmittels, sondern auch in der Wahl des Weges grundsätzlich frei. Die Wahl eines weiteren Weges stellt den Versicherungsschutz nur in Frage, wenn für diese Wahl andere Gründe maßgebend waren als die Absicht, den Ort der Tätigkeit zu erreichen und die dadurch bedingte Verlängerung der Wegstrecke unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände als erheblich anzusehen ist.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Oktober 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Ehemann der Klägerin war in der Wartungsabteilung der Firma S AG in B tätig und seit Mittwoch, dem 24. Januar 1973, zusammen mit einem Arbeitskollegen damit beschäftigt, in den L werken in B, F Straße, eine Störung in der Fernmeldeanlage zu beheben. Diese Arbeiten sollten am Sonnabend, dem 27. Januar 1973, zwischen 9,15 und 9,30 Uhr fortgesetzt werden. Der Ehemann der Klägerin benutzte an diesem Tage für die Fahrt von seiner Wohnung zu den L-werken seinen eigenen Pkw. Er fuhr von seiner Wohnung in der Innenstadt in südlicher Richtung zum J-Platz, weiter in südlicher Richtung stadtauswärts die W Straße (Bundesstraße 4) bis zur Umgehungsstraße (sog. Tangente), auf der Umgehungsstraße zunächst in westlicher und dann in nördlicher Richtung, um dann in die F Straße (Bundesstraße 248) einzubiegen. Die W Straße ist vierspurig ausgebaut. Die Tangente und der südliche Teilabschnitt der F Straße sind ein Teil der Stadtautobahn in B Um 9,20 Uhr, kurz vor Erreichen der F Straße, kam er ins Schleudern und verunglückte tödlich. Eine am selben Tage um 10,00 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 0,02 0 / 00 . Der Arbeitskollege, der ebenfalls in der Innenstadt B wohnte, fuhr am Unfalltage mit einem Wagen der Firma S den gleichen Weg wie der Ehemann der Klägerin und wurde auf der Tangente von diesem überholt. Auch an den vorangegangenen drei Tagen hatten er und der Ehemann der Klägerin auf der Hinfahrt von der ebenfalls in der Innenstadt gelegenen Niederlassung der Firma S zu den L im Firmenwagen die gleiche Strecke benutzt wie am Unfalltage.

Mit Bescheid vom 6. März 1973 lehnte die Beklagte Entschädigungsansprüche der Klägerin aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, die vom Ehemann der Klägerin gewählte Wegstrecke betrage 5,4 km, für die bei Einhalt der Geschwindigkeitsbegrenzungen ca. 8 Minuten benötigt würden.

Dagegen betrage die kürzeste Wegstrecke nur 2,1 km, für die man ca. 3 Minuten Fahrzeit benötige. Der Ehemann der Klägerin habe seine Arbeitsstelle auf dem gewählten Weg weder schneller noch sicherer erreichen können.

Die Klägerin hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 13. März 1974 u. a. mit der Begründung abgewiesen hat: Der Unfall habe sich auf einem Umweg ereignet, der um mehr als die Hälfte länger als der verkehrstechnisch mögliche und zumutbare kürzeste Weg gewesen sei. Außergewöhnliche betriebliche Gründe, die dennoch den Versicherungsschutz auf dem zurückgelegten Wege hätten rechtfertigen können, seien nicht erkennbar.

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 28. Oktober 1975 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Witwenrente zu gewähren. Es hat ausgeführt: Der Versicherungsschutz für einen Weg nach dem Ort der Tätigkeit sei nicht auf die kürzeste Verbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beschränkt. Vielmehr sei der Versicherte nicht nur in der Wahl des Verkehrsmittels, sondern auch in der Wahl des Weges grundsätzlich frei. Ihm stehe insoweit ein gewisser subjektiver Spielraum zu. Für die Wahl des längeren Weges seien keine anderen Gründe maßgebend gewesen als die Absicht, den Ort der Tätigkeit zu erreichen. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, daß für die Wahl des Umweges Gründe maßgebend gewesen seien, die dem privaten Lebensbereich zuzuordnen seien. Aber auch bei Anlegung einer objektiven Grenze für die Wahl eines längeren Weges habe der Ehemann der Klägerin unter Versicherungsschutz gestanden; denn er habe als Pkw-Fahrer den nach der Verkehrsanschauung angemessenen Weg gewählt.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Der Versicherte sei in der Wahl des Weges zwar grundsätzlich frei und stehe nicht nur auf der kürzesten Verbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte unter Versicherungsschutz. Es sei aber äußerst bedenklich, daraus schließen zu wollen, da?es auf objektive Kriterien bei der Beurteilung des Versicherungsschutzes auf einem Umweg nicht ankomme. Nach objektiven Maßstäben hätte das LSG aber den Versicherungsschutz des Ehemannes der Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls verneinen müssen, weil die gewählte Fahrstrecke doppelt so lang wie der mögliche kürzeste Weg gewesen sei. Das LSG hätte zumindest weitere Ermittlungen durchführen müssen. Es sei zu Unrecht ihrer Ansicht nicht gefolgt, die mögliche Fahrstrecke in Augenschein zu nehmen. Aus dem Stadtplan könne man nicht ablesen, daß die gewählte Wegstrecke "besser und unkomplizierter" gewesen sei. Vielmehr sei die kürzere Wegstrecke hinsichtlich Risiko und Schnelligkeit wesentlich günstiger. Ohne entsprechende Ermittlungen sei das LSG ferner zu der Feststellung gelangt, der Ehemann der Klägerin sei am Unfalltage erstmalig im eigenen Pkw zu den L gefahren und sei ein mit den Straßenverhältnissen nicht genau vertrauter Kraftfahrer gewesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 28. Oktober 1975 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 13. März 1974 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Das LSG ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zutreffend davon ausgegangen, da?

der Versicherungsschutz auf einem Weg nach dem Ort der Tätigkeit im Sinne des § 550 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht auf die kürzeste Verbindung zwischen diesem Ort und der Wohnung des Versicherten beschränkt ist. Vielmehr ist der Versicherte, wie auch die Beklagte nicht in Abrede stellt, nicht nur in der Wahl des Verkehrsmittels, sondern auch in der Wahl des Weges grundsätzlich frei (s. BSG SozR Nr. 21 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl., S. 486 p; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 550 Anm. 15 - jeweils mit weiteren Nachweisen). Die Wahl eines weiteren Weges stellt den Versicherungsschutz nur in Frage, wenn für diese Wahl andere Gründe maßgebend waren als die Absicht, den Ort der Tätigkeit zu erreichen und die dadurch bedingte Verlängerung der Wegstrecke unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände als erheblich anzusehen ist. Das hat das LSG jedoch aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens und vor allem im Hinblick auf den Zeitpunkt des Antritts der Fahrt und den mit dem Arbeitskollegen, der sich ebenfalls bereits auf der Fahrt zum Ort der Tätigkeit befand, kurz vor deren Fahrtantritt vereinbarten Beginn der Arbeiten verneint. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG lassen keine Anhaltspunkte dafür erkennen, daß der Ehemann der Klägerin den weiteren Weg zu den L gewählt hat, um vor Anbeginn eine privaten Zwecken dienende Verrichtung einzuschieben oder da?

andere private Umstände (z. B. Fahrt durch eine schönere Landschaft, Ausfahren eines schnellen Sportwagens) hierfür maßgebend waren. Das LSG hat vielmehr rechtlich bedenkenfrei festgestellt, daß es sich bei der gewählten Strecke um einen verkehrstechnisch besseren und unkomplizierteren Weg gehandelt hat. Als Art Stadtautobahn soll diese Strecke der Entlastung der Innenstadt dienen und diese vom Durchgangsverkehr möglichst freihalten. Das LSG ist der Auffassung, für die Wahl des Weges müßten "auch objektive Kriterien" maßgebend sein. Es kann dahinstehen, ob das LSG, wie es meint, damit im Gegensatz zu den von ihm angeführten Entscheidungen des BSG (SozR Nr. 21, 33, 34 zu § 543 RVO aF) und zu dem von ihm zitierten Schrifttum (Brackmann aaO; Lauterbach aaO) steht. Auch bei der Entscheidung, ob andere Gründe für die Wahl des weiteren Weges maßgebend waren als die Absicht, den Ort der Tätigkeit zu erreichen, sind objektive Kriterien zu berücksichtigen und auch in den angefochtenen Urteilen berücksichtigt worden. So kann z. B. das Benutzen eines wesentlich längeren Weges gemeinsam mit anderen Umständen darauf hindeuten, daß für die Wahl des Weges nicht die Absicht wesentlich war, den Ort der Tätigkeit möglichst schnell und sicher zu erreichen. Den einzelnen Fallgestaltungen und dem angeführten Schrifttum lagen jedoch jeweils Sachverhalte zugrunde, die insoweit einer näheren Erörterung nicht bedurften. Eine Beschränkung auf den "zumutbaren kürzesten Weg" steht auch im Widerspruch zu der bereits aufgezeigten - mit der Rechtsprechung des BSG und dem Schrifttum im Einklang stehenden - Auslegung des § 550 Abs. 1 RVO, daß der Versicherte nicht auf die - an sich zumutbare - kürzeste Verbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beschränkt ist. Die Wahl eines weiteren Weges dem Versicherten nur dann freizustellen, wenn die kürzeste Verbindung unzumutbar ist, würde die freie Wahl des Weges grundsätzlich ausschließen; denn auf "unzumutbare" Verbindungen braucht sich der Versicherte nicht verweisen zu lassen. Ebenso würde es dem Sinn und Zweck des Versicherungsschutzes auf dem Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit widersprechen, ihn nur für die nach der "Verkehrsanschauung angemessene" Wegstrecke zu gewähren. Welche Strecke nach der Verkehrsanschauung angemessen ist, wird nicht nur für den Versicherten vor Antritt seiner Fahrt zu einem Ort außerhalb des Betriebes häufig gar nicht feststellbar sein, sondern in zahlreichen Fällen nicht zweifelsfrei feststehen. Der Versicherungsschutz des Versicherten auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit darf aber nicht mit einem derartigen Unsicherheitsfaktor belastet sein. Aus diesen Gründen hat das LSG entgegen der Auffassung der Beklagten sich nicht gedrängt fühlen müssen, den vom Ehemann der Klägerin gewählten Weg und die anderen möglichen und kürzeren Wege zu den L in Augenschein zu nehmen. Nicht nur nach dem Stadtplan, sondern vor allem aufgrund der Fahrt mit dem Firmenwagen in den drei vorangegangenen Tagen und der Wahl des Weges durch seinen Arbeitskollegen konnte der Ehemann der Klägerin davon ausgehen, daß es sich bei der von ihm am Unfalltage eingeschlagenen Wegstrecke um eine geeignete Zufahrt zu den L gehandelt hat. Es sind auch insoweit keine Umstände ersichtlich, die darauf hindeuten könnten, der Ehemann der Klägerin habe den Weg über die auch zur Entlastung des Verkehrs in der Innenstadt bestimmten Tangente aus privaten Interessen dienenden Gründen gewählt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650771

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