Entscheidungsstichwort (Thema)

Ruhens- und Rückforderungsfeststellung von Witwenrente. Bindungswirkung. Zulässigkeit der Berichtigung von Bescheiden

 

Orientierungssatz

1. Die Bindungswirkung eines Bescheides entfällt nicht deshalb, weil der Adressat gegen diesen Bescheid rechtzeitig Widerspruch eingelegt hat und dieser Bescheid wieder aufgehoben worden ist, bevor er für beide Beteiligten unangreifbar (§ 77 SGG) geworden ist. Die Bindung eines Bescheides für die Verwaltung tritt unabhängig von dem Ablauf der für den Adressaten geltenden Rechtsbehelfsfrist mit dem Zugang des Bescheides bei demjenigen ein, für den er bestimmt ist (vgl BSG 1978-12-20 3 RK 4/78 = SozR 2200 § 183 Nr 19).

2. Die Zulässigkeit der Berichtigung von Bescheiden ungeachtet ihrer Bindungswirkung, etwa unter Heranziehung des dem § 138 SGG zugrunde liegenden Rechtsgedankens, ist nur anzuerkennen, soweit es sich um Fehler im Ausdruck, nicht aber von solchen in der Willensbildung handelt (vgl BSG 1980-02-20 5 RKn 3/78 = SozR 2200 § 1278 Nr 7).

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 138 Fassung: 1953-09-03; RKG § 93 Abs 2; RVO § 1301

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.09.1980; Aktenzeichen L 15 Kn 111/79)

SG Duisburg (Entscheidung vom 24.08.1979; Aktenzeichen S 3 Kn 180/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, in welchem Umfang die Beklagte überzahlte Witwenrente von der Klägerin zurückfordern darf.

Die Klägerin ist die Witwe des früheren Hauers Karl D., der seit 1953 eine Unfallvollrente erhielt. Nach seinem Tod im November 1974 lehnte die Bergbau-Berufsgenossenschaft die Gewährung einer Unfallwitwenrente zunächst ab, erkannte aber im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren - Januar 1977 - ihre Leistungspflicht an, zahlte Vorschüsse und führte schließlich im Mai 1977 ihr Anerkenntnis aus, indem sie die noch rückständigen Beträge in Höhe von rund 13.000,-- DM an die Klägerin erbrachte. Seitdem werden die Hinterbliebenenleistungen monatlich ausgezahlt.

Im Dezember 1974 beantragte die Klägerin die knappschaftliche Witwenrente. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 2. April 1975 der Klägerin die erhöhte Witwenrente (§ 69 Abs 2 Reichsknappschaftsgesetz -RKG-). Der Bescheid enthält den Zusatz, die Beklagte sei gehalten, eine Umrechnung der Rente aus der knappschaftlichen Versicherung vorzunehmen, falls es zur Gewährung einer Unfall-Hinterbliebenenrente kommen sollte. Eventuell überzahlte Beträge seien zurückzuzahlen.

Die Beklagte, die von der Bergbau-Berufsgenossenschaft über deren Vorschußleistungen unterrichtet wurde, wies die Klägerin sowohl mit Schreiben vom 13. Juni 1975 wie auch mit Schreiben vom 27. Juni 1977 darauf hin, daß die Gewährung einer Unfallrente voraussichtlich zu einer Minderung der Höhe der knappschaftlichen Rente führe, so dann eine Überzahlung erfolgt sei, die zurückgefordert werden würde. Im Mai 1977 erhielt die Beklagte von der Bergbau-Berufsgenossenschaft eine Aufstellung der der Klägerin zustehenden und bereits geleisteten Zahlungen. Mit Bescheid vom 31. August 1977 errechnete die Beklagte die Höhe der Witwenrente unter Anwendung der Ruhensbestimmungen für die Zeit vom 1. März 1977 bis 31. Oktober 1977 neu. Sie stellte für verschiedene Zeitabschnitte die bisher tatsächlich erbrachten Zahlungen und die nunmehr festgesetzten Leistungsbeträge einander gegenüber, warf die jeweiligen Überzahlungen aus und errechnete "insgesamt eine Überzahlung von 3.695,60 DM". Anschließend heißt es wörtlich:

"Aus zahlungstechnischen Gründen konnte eine weitere Verrechnung von Rentenbeträgen nicht vorgenommen werden. Sofern noch eine Überzahlung zu verrechnen ist, ergeht demnächst weitere Mitteilung. Insoweit ist eine Verminderung des laufenden Zahlbetrages nicht ausgeschlossen."

Am Ende des Bescheides findet sich folgender Zusatz:

"Nach Mitteilung der Bergbau-Berufsgenossenschaft in Bochum wurde

Ihnen der aufgelaufene Rentenbetrag aus Ihrer Unfallwitwenrente

in Höhe von 13.269,-- DM im April 1977 ausgezahlt.

Durch die rückwirkende Gewährung der Unfallrente ergibt sich eine

Überzahlung bei ihrer knappschaftlichen Witwenrente in Höhe von

3.695,60 DM.

Wir bitten um Mitteilung, ob Sie uns diesen Betrag mit beiliegender

Zahlkarte auf unser Postscheckkonto überweisen wollen oder die

Summe in mehreren größeren Raten an uns zurückzahlen möchten".

Die Klägerin legte Widerspruch ein. Die Beklagte erteilte ihr am 18. Mai 1978 einen neuen Bescheid, durch den sie den Bescheid vom 31. August 1977 aufhob und die Witwenrente bereits ab 1. Mai 1975 neu berechnete. Dies ergab bis zum 31. Oktober 1977 eine Überzahlung von insgesamt 5.690,-- DM, die die Beklagte zurückforderte. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 1978). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. August 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 16. September 1980 das Urteil des SG abgeändert, die Bescheide der Beklagten insoweit aufgehoben als mit diesen eine Überzahlung von mehr als 3.695,60 DM zurückgefordert wurde und im übrigen die Berufung zurückgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt:   Mit dem bindend gewordenen Bescheid vom 31. August 1977 habe die Beklagte festgestellt, daß der Klägerin infolge teilweisen Ruhens der Rente ein Betrag von 3.695,60 DM und nicht mehr zustehe. Der Bescheid enthalte sowohl den für die Klägerin nachteiligen Ausspruch, daß ihre Rente in dieser Höhe ruhe und zurückgezahlt werden müsse wie auch die für die Klägerin vorteilhafte Aussage, daß im übrigen ein Ruhen nicht eingetreten sei und eine Rückzahlungspflicht nicht bestehe. Die Beklagte habe versehentlich die vor dem 1. März 1977 an die Klägerin geleisteten Zahlungen nicht berücksichtigt. Der Zusatz, daß aus zahlungstechnischen Gründen eine weitere Verrechnung von Rentenbeträgen nicht vorgenommen werden könne, und sofern noch eine Überzahlung zu verrechnen sei, ergehe demnächst weitere Mitteilung, betreffe nach Wortlaut und Sinngehalt nur Ruhenstatbestände, die bei Bescheiderteilung noch nicht hätten berücksichtigt werden können, also solche, die entweder zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingetreten oder aber der Beklagten bis dahin unbekannt geblieben seien.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte sinngemäß eine Verletzung des § 93 RKG und des § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG habe den Inhalt des Bescheides vom 31. August 1977 unrichtig ausgelegt. Die Feststellung des LSG, die Beklagte sei irrtümlich davon ausgegangen, daß das teilweise Ruhen der knappschaftlichen Witwenrente erst vom 1. März 1977 an eingetreten sei, sei unter Verletzung von Verfahrensvorschriften (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) zustande gekommen. Das LSG hätte sich zB anhand des Kontospiegels der Beklagten davon überzeugen können, daß die Beklagte lediglich die Rentenzahlungen vom 1. März 1977 an in die maschinelle Datenverarbeitung eingegeben habe.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben und die Berufung der

Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom

24. August 1979 zurückzuweisen.

Die Klägerin ist in der Revisionsinstanz nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Zu Recht hat das LSG aufgrund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die die Beklagte in der Revisionsinstanz nicht mehr hat erschüttern können (§ 163 SGG), den Anspruch der Beklagten verneint, soweit er über 3.695,60 DM hinausgeht. Die Rückforderung richtet sich im Falle der Klägerin noch nach § 93 Abs 2 RKG und nicht nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches -Verwaltungsverfahren- (SGB 10; vgl Urteil des 5b Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 26. November 1981 - 5b/5 RJ 126/80 -).

Unabhängig davon, ob die Klägerin von der Beklagten tatsächlich mehr als 3.695,60 DM in der Zeit von Mai 1975 bis einschließlich Oktober 1977 zu Unrecht an Witwenrente bezogen hat, darf die Beklagte nun nicht mehr als den genannten Betrag von der Klägerin zurückfordern. Der weitergehenden Rückforderung steht der insoweit zugunsten der Klägerin bindende Bescheid vom 31. August 1977 entgegen. Der Bescheid der Beklagten vom 18. Mai 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Oktober 1978 ist rechtswidrig, soweit er von der Klägerin mehr als 3.695,60 DM verlangt. In rechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das LSG den Bescheid vom 31. August 1977 unter anderem aufgrund der von ihm festgestellten Tatsachen dahin ausgelegt, er enthalte die feststellung, die Leistungsansprüche der Klägerin an die Beklagte ruhten für die Vergangenheit in Höhe von 3.695,60 DM und nicht in Höhe eines größeren Betrages und seien auch nur in dieser Höhe rückforderbar. Dieser Ausspruch ist der Bindungswirkung fähig (hinsichtlich des Ruhensausspruchs vgl BSG SozR 2200 § 1278 Nr 7). Von ihnen abzuweichen und nachträglich - anders als bereits festgestellt - mehr als 3.695,60 DM zurückzuverlangen, ist der Beklagten nicht mehr erlaubt (§ 77 SGG).

Die Bindungswirkung des Bescheides vom 31. August 1977 zugunsten der Klägerin ist nicht deshalb entfallen, weil die Klägerin gegen diesen Bescheid rechtzeitig Widerspruch eingelegt hat und dieser Bescheid wieder aufgehoben worden ist, bevor er für beide Beteiligten unangreifbar (§ 77 SGG) geworden ist. Die Bindung eines Bescheides für die Verwaltung tritt unabhängig von dem Ablauf der für den Adressaten geltenden Rechtsbehelfsfrist mit dem Zugang des Bescheides bei demjenigen ein, für den er bestimmt ist (BSGE 14, 154, 157 = SozR Nr 24 zu § 77 SGG; 47, 288, 292 = SozR 2200 § 183 Nr 19).

Das LSG hat den im angefochtenen Urteil zum Teil zitierten Wortlaut des Bescheides vom 31. August 1977 nach seinem Erklärungsinhalt dahin ausgelegt, daß die Rente der Klägerin für die Vergangenheit in Höhe von 3.695,60 DM geruht habe und die Beklagte damit über die Rückzahlungspflicht der Klägerin in dieser Höhe abschließend entscheiden wollte. Mit der maschinellen Hinzufügung einer Klausel, daß noch eine Nachberechnung erfolgen könne, habe sich die Beklagte eine Neuberechnung lediglich für den Fall vorbehalten wollen, daß weitere Ruhenstatbestände bekannt würden. Da es sich bei diesen Feststellungen der Willensrichtung der Beklagten um Tatsachenfeststellungen handelt (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 1. April 1981 - 5a/5 RKn 13/79 - mwN), gegen welche die Beklagte keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgetragen hat, ist der Senat an diese Feststellungen gemäß § 163 SGG gebunden.

Ein Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG), den die Beklagte zu erkennen glaubt, läge nur vor, wenn die Grenzen der freien Beweiswürdigung nicht beachtet wären (vgl BSG SozR § 128 Nr 34), zB wenn das Gericht gegen allgemeine Erfahrungs- und Denkgesetze verstoßen hätte. Das ist jedoch nicht erkennbar. Vielmehr hält sich die Tatsachenwürdigung des LSG im Rahmen der ihm zustehenden freien Beweiswürdigung. Die Annahme, das LSG habe seine Überzeugung nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) gestützt, wird durch den Vortrag der Beklagten nicht gedeckt, auch nicht durch den Inhalt des Urteils des LSG. Das LSG hat nicht - wie die Beklagte unterstellt - gesagt, die Beklagte habe das Ruhen der Rente erst ab März 1977 errechnen wollen. Das LSG ist vielmehr davon ausgegangen, daß die Beklagte das Ruhen von Anfang an errechnen wollte und glaubte, das auch getan zu haben (möglicherweise durch eine Fehlinformation der Datenverarbeitung), so daß nach der damaligen Meinung der Beklagten der Bescheid vom 31. August 1977 die volle Rückforderungssumme ergab. Dann sprechen aber die vom LSG angeblich nicht berücksichtigten Aktenteile nicht einmal gegen die Tatsachenwürdigung des LSG; ein Verfahrensfehler bei der Tatsachenwürdigung ist erst recht nicht erkennbar. Die tatsächliche Würdigung des Bescheides der Beklagten vom 31. August 1977 durch das LSG wird insbesondere gestützt durch den abschließenden Zusatz im Bescheid, der den Eindruck erweckt, die Rückforderung der Beklagten sei damit abschließend geregelt. Es ist auch nicht ersichtlich, zu welcher weiteren Beweiserhebung hinsichtlich der Feststellung des Willens der Beklagten das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 5).

Den Bescheid der Beklagten vom 31. August 1977, der die Klägerin vor weiteren Rückforderungen schützt, durfte die Beklagte nicht ausnahmsweise entgegen der Bindungswirkung aufheben. Zwar gibt es Fälle, in denen das zulässig ist. Bis zum Inkrafttreten des SGB 10 - 1. Januar 1981 - waren bindende Bescheide eines Rentenversicherungsträgers ua nach § 1744 Reichsversicherungsordnung (RVO) unter besonderen Voraussetzungen Voraussetzungen überprüfbar. Ausnahmen von der Bindungswirkung konnten nur aufgrund Gesetzes gegeben sein (§ 77 SGG), wozu die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechtes nicht zu rechnen waren (BSGE 20, 288; 22, 37; 24, 206; 31, 190, 194). Die Voraussetzungen für einen derartigen ausnahmsweisen Eingriff in die Bindungswirkung des Bescheides vom 31. August 1977 liegen hier indes nicht vor und sind von der Beklagten auch in keinem Stadium des Verfahrens behauptet worden. Eine nachträgliche Änderung des Bescheides der Beklagten vom 31. August 1977 unter Heranziehung des ua dem § 138 SGG zugrundeliegenden Rechtsgedankens (vgl nunmehr auch § 38 SGB 10) scheidet ebenfalls aus. Denn die Zulässigkeit der Berichtigung von Bescheiden ungeachtet ihrer Bindungswirkung ist nach diesen Grundsätzen nur anzuerkennen, soweit es sich um Fehler im Ausdruck, nicht aber von solchen in der Willensbildung handelt (vgl BSG in SozR 2200 § 1278 Nr 7 mwN). Wie das LSG in tatsächlicher Hinsicht festgestellt hat, lag hier der Fehler aber bei der Willensbildung und nicht bei der Willensäußerung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652532

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