Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Verletzung. Anspruch auf rechtliches Gehör. Ablehnung. Vertagung. mündliche Verhandlung

 

Orientierungssatz

Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gem § 62 SGG, wenn das LSG dem Antrag eines Beteiligten auf Vertagung der mündlichen Verhandlung hätte entsprechen müssen.

 

Normenkette

SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1; SGG § 124 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 15.11.1957)

SG Kassel (Urteil vom 05.07.1956)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. November 1957 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger bezog wegen "chronischer Nierenentzündung und Thrombose am linken Unterschenkel" - hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes - auf Grund des Umanerkennungsbescheids vom 4. Oktober 1951 Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 70 v.H. Nach einer Nachuntersuchung stellte der Beklagte wegen einer wesentlichen Änderung (Besserung) die Rente durch Bescheid vom 26. Mai 1954 neu fest, weil durch die nunmehr anerkannten Schädigungsfolgen "Defektheilung einer doppelseitigen Nierenentzündung, Stauung des linken Beines nach Thrombose" die Erwerbsfähigkeit nur noch um 30 v.H. beeinträchtigt werde. Widerspruch und Klage blieben erfolglos.

Gegen das am 16. Juli 1956 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 5. Juli 1956 hat der Kläger mit Schreiben vom 14. August 1956, das beim Landessozialgericht am 17. August 1956 eingegangen ist, Berufung eingelegt. Mit der Ladung vom 23. Oktober 1957 zur mündlichen Verhandlung am 15. November 1957 hat das Landessozialgericht dem Kläger mitgeteilt, daß das Urteil erster Instanz am 16. Juli 1956 durch Postzustellungsurkunde zugestellt, die Berufung aber erst am 17. August 1956 beim Landessozialgericht eingegangen ist und daher wegen Fristversäumung als unzulässig verworfen werden müsse; er wurde gebeten "zu prüfen, ob die Rücknahme der Berufung zu erwägen sei", und seinen Entschluß noch vor dem 15. November 1957 mitzuteilen. Hierauf hat der Kläger durch Schreiben vom 26. Oktober 1957 mitgeteilt, er bestehe auf dem angesetzten Termin. Zum Termin ist er nicht erschienen. Er hat unmittelbar vor der angesetzten Terminstunde fernmündlich um Vertagung gebeten und mitgeteilt, daß er in Gießen sei, einen Motorschaden habe und nicht mehr zum Termin erscheinen könne. Durch Urteil vom 15. November 1957 hat das Landessozialgericht die Berufung als unzulässig verworfen, weil der Kläger trotz Hinweises auf die Versäumung der Berufungsfrist keine Gesichtspunkte schriftlich geltend gemacht habe, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen könnten, und Anhaltspunkte für eine schuldlose Versäumung der Frist aus den Akten nicht zu ersehen seien.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung und Verhandlung an das Landessozialgericht Darmstadt zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine nicht ordnungsmäßige Ladung, weil er von dem Beamten des Landessozialgerichts, der seinen fernmündlichen Anruf entgegengenommen habe, vom Termin abbestellt und die Ladung widerrufen worden sei. Außerdem sei ihm das rechtliche Gehör versagt worden. Schließlich macht er geltend, ihm habe die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen, weil er die Berufungsschrift am 15. August 1956 zur Post gegeben habe, so daß sie noch innerhalb der am 16. August 1956 endenden Berufungsfrist habe eingehen müssen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision nach § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen oder als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Der Kläger hat die Revision gegen das oben bezeichnete Urteil form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Da das Rechtsmittel vom Landessozialgericht nicht zugelassen ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), findet es vorliegend - im Hinblick auf die Verwerfung der Berufung wegen Unzulässigkeit - nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG. 1 S. 150). Diese Voraussetzungen sind gegeben.

Soweit der Kläger Verstöße gegen eine ordnungsgemäße Ladung geltend macht, trifft zwar zu, daß er das Landessozialgericht am Terminstage fernmündlich wegen eines angeblichen Motorschadens um Vertagung gebeten hat. Selbst wenn ihm aber, wie er vorbringt, erklärt worden ist, er brauche überhaupt nicht zu kommen, da ohnehin seine Berufung wegen Fristversäumnis verworfen werden würde, so ist darin eine Zurücknahme der Ladung nicht zu erblicken. Der Kläger war ordnungsgemäß durch die am 26. Oktober 1957 zugestellte Ladung vom 23. Oktober 1957 zum Termin am 15. November 1957 geladen worden; dabei war ihm mitgeteilt worden, daß auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne. Gleichzeitig war er auf den verspäteten Eingang der Berufungsschrift hingewiesen worden mit dem Bemerken, seine Berufung müsse wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen werden. Durch die vom Kläger behauptete Antwort auf seinen fernmündlichen Vertagungsantrag ist ihm also lediglich das wiederholt worden, was ihm bereits durch die Ladung bekannt war. In der Wortfassung, er brauche überhaupt nicht zu kommen, liegt keine Zurücknahme der Ladung; vielmehr ist darin nur ein erneuter Hinweis auf die Vorschrift des § 126 SGG zu erblicken. Damit entfallen die übrigen Ausführungen des Klägers über eine Verhandlung ohne ordnungsgemäße Ladung. Der geltend gemachte Verstoß gegen §§ 63, 110, 112 SGG liegt somit nicht vor.

Mit Recht aber rügt der Kläger eine Versagung des rechtlichen Gehörs, weil das Berufungsgericht seinem Antrag auf Vertagung hätte entsprechen müssen. Zu den Grundgedanken, die das Verfahren vor den Sozialgerichten bestimmen, gehört der Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG). Sie hat auch in diesen Verfahren die von dem Gesetzgeber als wesentlich erachtete Aufgabe, den Streitstoff mit den Beteiligten erschöpfend zu erörtern, und ist ein Mittel zur Verwirklichung des den Beteiligten verbürgten rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Die Beteiligten haben deshalb grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden (BSG.1 S. 277 ff. (278)), es sei denn, daß vorher eine schriftliche Anhörung durchgeführt worden war. Infolgedessen muß beim Vorliegen erheblicher Gründe ein Termin zur mündlichen Verhandlung verlegt werden, um die Gewährung des rechtlichen Gehörs zu sichern. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung hat das Landessozialgericht den Kläger auf die Versäumung der Berufungsfrist hingewiesen. Wenn er auch die Möglichkeit hatte, sich nach Kenntnis der verspäteten Berufungseinlegung schriftlich zu äußern, so kann doch in dem Zusatz zur Ladung vom 23. Oktober 1957 eine schriftliche Anhörung nicht erblickt werden. Denn der Kläger ist nicht aufgefordert worden, zur Versäumung der Berufungsfrist schriftlich Stellung zu nehmen. Vielmehr ist er nur gebeten worden "zu prüfen, ob die Rücknahme der Berufung zu erwägen sei". Im Hinblick auf diese Wortfassung des Zusatzes zur Ladung bestand für ihn kein Anlaß, sich schriftlich zur Frage der Rechtzeitigkeit der Berufung zu äußern. Aus dem Schreiben des Klägers vom 26. Oktober 1957, er bestehe auf dem angesetzten Termin, ergab sich klar, daß er in der mündlichen Verhandlung Ausführungen zu der - von ihm auch in der Revision behaupteten - Einhaltung der Berufungsfrist machen wollte. Da also das Gericht den Kläger zu einer schriftlichen Äußerung über die Frage der Versäumung der Berufungsfrist nicht aufgefordert hat, dieser eine solche Äußerung auch nicht abgegeben, sondern vielmehr auf der Durchführung der mündlichen Verhandlung bestanden hat, hätte das Landessozialgericht im Hinblick auf seinen rechtzeitig vor der Terminsstunde und unverzüglich nach Behebung des Motorschadens gestellten und begründeten Antrag auf Vertagung die Verhandlung nicht durchführen dürfen, zumal kein Anhalt dafür festgestellt worden ist, daß er auch ohne Eintritt des Motorschadens nicht mehr rechtzeitig zur angesetzten Zeit zum Termin hätte erscheinen können. Das Berufungsgericht hat durch sein Verfahren dem Kläger die Möglichkeit, Ausführungen zur Versäumung der Berufungsfrist zu machen, abgeschnitten und ihm damit das rechtliche Gehör nicht gewährt. Somit liegt eine Verletzung des § 62 SGG vor. Dies ist ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, so daß die Revision statthaft ist.

Das Rechtsmittel ist auch begründet. Der Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der durch Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verfassungsrechtlichen Rang erhalten hat, stellt einen Mangel dar, der das Verfahren nicht mehr als geeignete Grundlage für die Urteilsfindung erscheinen läßt (BSG. 1 S. 280). Deshalb hat der Senat gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG eine Entscheidung in der Sache nicht getroffen. Vielmehr war der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, damit dieses nunmehr dem Kläger die Möglichkeit gibt, sich zur Versäumung der Berufungsfrist zu äußern.

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, hat der Senat ohne mündliche Verhandlung entschieden.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2180163

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