Leitsatz (redaktionell)

Wird ein Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung trotz Vorliegens erheblicher Gründe abgelehnt, so verletzt das Gericht den Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Ein solcher Verstoß stellt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens dar.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. März 1957 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Kläger stellten am 19. Dezember 1952 Antrag auf Gewährung einer Elternrente. Durch Bescheid vom 23. Juli 1953 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA.) Heidelberg diesen Antrag ab, weil der am 10. Oktober 1944 bei Warschau gefallene jüngste Sohn Karl nicht der Ernährer seiner Eltern gewesen sei und auch nicht geworden wäre. Das Einkommen der Kläger sei vor dem Tode dieses Sohnes aus den Erträgnissen ihrer etwa 22 ha umfassenden Landwirtschaft gesichert gewesen. In Anbetracht der Tatsache, daß die noch lebenden fünf Kinder - drei Söhne und zwei Töchter - nicht in der Lage seien, gemeinsam zu dem Unterhalt der Kläger beizutragen, sei es unwahrscheinlich, daß gerade der jüngste Sohn Karl der Ernährer seiner Eltern geworden wäre.

Die Kläger haben gegen diesen Bescheid Klage erhoben mit der Begründung, daß der gefallene Sohn Karl ihre ehemalige im Sudetenland liegende Landwirtschaft nach der dort üblichen Regelung als jüngstes Kind übernommen hätte und damit Ernährer seiner Eltern geworden wäre. Die noch lebenden und in der Bundesrepublik wohnenden Söhne Johann und Franz seien wegen ihrer anderen Verpflichtungen nicht in der Lage, ihre Eltern zu unterstützen. Durch Urteil vom 14. Juli 1955 hat das Sozialgericht (SG.) Mannheim den Beklagten verurteilt, an die Kläger vom 1. Dezember 1952 ab Elternrente unter Berücksichtigung eines sonstigen Einkommens von 40 DM monatlich zu zahlen. Das SG. ist davon ausgegangen, daß der gefallene jüngste Sohn die Landwirtschaft im Sudetenland übernommen haben würde und daher bei normalem Ablauf der Ereignisse der Ernährer seiner Eltern geworden wäre, weil er nach landläufiger Sitte das Altenteil hätte gewähren müssen. Da die Kläger von der Unterhaltshilfe aus dem Lastenausgleich in Höhe von monatlich 122,50 DM nicht leben könnten, sei auf Grund der festgestellten Verhältnisse anzunehmen, daß sie von den noch lebenden Kindern insgesamt in Höhe von 40 DM monatlich unterstützt würden.

Mit der Berufung gegen das Urteil des SG. Mannheim hat der Beklagte geltend gemacht, daß der gefallene Sohn Karl nicht der Ernährer seiner Eltern geworden wäre. Die jetzige Notlage der Kläger beruhe nicht auf dem Verlust dieses Sohnes, sondern auf der Tatsache der Vertreibung aus der Heimat. Die Folgen der Vertreibung seien aber nach dem Lastenausgleichsgesetz zu entschädigen und könnten deshalb hier nicht berücksichtigt werden. Die Kläger haben zunächst ebenfalls gegen das Urteil des SG. Mannheim Berufung eingelegt, diese aber im Laufe des Verfahrens nicht aufrecht erhalten. Das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg hat die Beteiligten mit Verfügung vom 8. März 1957 zur mündlichen Verhandlung am 26. März 1957 um 10.30 Uhr geladen. Mit Schreiben vom 21. März 1957, eingegangen beim LSG. am 23. März 1957, haben die Kläger mitgeteilt, daß sie infolge Krankheit und hohen Alters nicht in der Lage seien, persönlich zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen. Am 23. März 1957 hat das LSG. durch Eilbrief das persönliche Erscheinen entweder des Klägers oder der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 26. März 1957 mit dem Zusatz angeordnet, etwa vorhandene Unterlagen über die Gewährung von Familienunterhalt mitzubringen und vorzulegen. Dieser das persönliche Erscheinen anordnende Eilbrief ist den Klägern erst am 25. März 1957 zugestellt worden. Nach einem Aktenvermerk vom 26. März 1957 hat der Berater der Kläger Rudolf B... nochmals fernmündlich mitgeteilt, daß die Kläger durch Krankheit verhindert seien, an der Verhandlung teilzunehmen. Der Kläger leide an Magenkrämpfen, die Klägerin an einer noch nicht ganz abgeklungenen Lungenentzündung. Ein ärztliches Zeugnis werde auf Verlangen vorgelegt. Mit Schreiben vom 26. März 1957, das zwei Tage nach der mündlichen Verhandlung beim LSG: eingegangen ist, haben die Kläger die fernmündliche Mitteilung noch schriftlich bestätigt und um eine Verlegung der Verhandlung um zwei Monate gebeten.

Das LSG. Baden-Württemberg hat durch Urteil vom 26. März 1957 auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG. Mannheim vom 14. Juli 1955 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid des VersorgA. Heidelberg vom 23. Juli 1953 abgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, daß nach der Größe des früheren landwirtschaftlichen Grundbesitzes der Kläger die behauptete Zahlung von Familienunterhalt nicht wahrscheinlich sei. Die Kläger hätten für diese Behauptung auch keinen Nachweis erbringen können. Da der gefallene Sohn nach den Gesamtverhältnissen nicht annähernd die Hälfte des Lebensunterhalts seiner Eltern hätte aufbringen können, wäre er auch nicht ihr Ernährer im Sinne des § 50 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes geworden, so daß ein Anspruch auf Elternrente nicht bestehe. Das LSG. hat in seinem Urteil lediglich am Schluß des Tatbestandes angeführt, daß das persönliche Erscheinen des Klägers oder der Klägerin angeordnet worden sei, diese aber wegen Krankheit nicht erschienen seien. Der Auflage zur Vorlage der Unterlagen über die Gewährung von Familienunterhalt seien sie nicht nachgekommen und hätten auch nicht mitgeteilt, ob sie derartige Unterlagen im Besitz hätten.

Gegen das am 18. April 1957 zugestellte Urteil des LSG. haben die Kläger mit Schriftsatz vom 14. Mai 1957, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 15. Mai 1957, Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils das Urteil des SG. Mannheim vom 14. Juli 1955 zu bestätigen,

hilfsweise: das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Baden-Württemberg zurückzuverweisen.

Die Kläger rügen eine Verletzung der §§ 62, 110 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 227 der Zivilprozeßordnung (ZPO) in Verbindung mit § 202 SGG.

Das Berufungsgericht habe das persönliche Erscheinen eines der Kläger erst am 23. März 1957 angeordnet. Die Ladung sei an ihrem Wohnort (Zaisenhausen, Landkreis Sinsheim) erst am 25. März 1957 - also einen Tag vor der mündlichen Verhandlung - angekommen. Da sie bereits mit Schreiben vom 21. März 1957 dem LSG. mitgeteilt hätten, daß sie erkrankt seien, hätte das LSG. am 23. März 1957 das persönliche Erscheinen zu der mündlichen Verhandlung am 26. März 1957 nicht anordnen dürfen. Im übrigen habe der die alten und ungewandten Kläger beratende Rudolf B... fernmündlich am 26. März 1957 noch vor der Verhandlung dem Gericht nochmals von der Erkrankung der Kläger Kenntnis gegeben und Verlegungsantrag gestellt. Las LSG. habe diesem Antrag trotz Vorliegens erheblicher Gründe nicht stattgegeben. Damit habe das Berufungsgericht den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt, so daß die Revision wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft sei.

Der Beklagte ist dem Antrag der Kläger auf Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz nicht entgegengetreten.

Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist - da vom LSG. nicht zugelassen - nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt (BSG. 1 S. 150).

Mit der Revision machen die Kläger geltend, daß das Berufungsgericht den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt habe, weil es den von ihnen gestellten Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung trotz Vorliegens erheblicher Gründe (§ 227 ZPO in Verbindung mit § 202 SGG) abgelehnt habe. Über das Verfahren bei Terminsänderungen enthält das SGG keine Vorschriften.

Da grundsätzliche Unterschiede zwischen dem Zivilprozeß und dem sozialgerichtlichen Verfahren die entsprechende Anwendung des § 227 ZPO nicht ausschließen, ist diese Vorschrift im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 202 SGG anwendbar (BSG. 1 S. 277 u. 280). Nach § 227 ZPO kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben. Ist ein solcher Grund gegeben, so stellt das Gesetz die Entscheidung darüber, ob dieser Grund im Einzelfalle bei dem jeweiligen Verfahrensstand eine Terminsänderung als tunlich erscheinen läßt, in das freie Ermessen des erkennenden Gerichts. Die Ausübung dieses freien Ermessens kann zwar nicht ohne weiteres vom Revisionsgericht nachgeprüft werden; es liegt aber jedenfalls dann ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vor, wenn durch die Ablehnung des Antrags auf Terminsverlegung gleichzeitig andere Verfahrensvorschriften verletzt werden (BSG. 1 S. 280 [282]). In dieser Hinsicht rügen die Kläger eine Versagung des rechtlichen Gehörs. Nach § 62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann auch schriftlich geschehen. Wenn ein Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung trotz Vorliegens erheblicher Gründe abgelehnt wird, so wird dadurch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt (vgl. hierzu auch BSG. 1 S. 277 [280] = SozR. SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 15). Sind erhebliche Gründe dargetan, so muß das Gericht den Termin zur Sicherung des rechtlichen Gehörs verlegen, auch wenn es die Sache für entscheidungsreif hält. Denn der Vortrag eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung kann vom Gericht entgegen seiner bisherigen, aus dem Akteninhalt gewonnenen Auffassung als wesentlich für die Entscheidung erachtet werden. Das Gericht ist daher ohne Rücksicht darauf, ob die Sache auf Grund des Akteninhalts entscheidungsreif erscheint, zur Prüfung verpflichtet, ob erhebliche Gründe für eine Verlegung des Termins gegeben sind.

Im vorliegenden Falle hat das LSG. am 23. März 1957 - also nur drei Tage vor der auf den 26. März 1957 angesetzten mündlichen Verhandlung - das persönliche Erscheinen entweder des Klägers oder der Klägerin mit der gleichzeitigen Auflage angeordnet, für die Entscheidung der Streitsache gegebenenfalls wesentliche Unterlagen über die Gewährung von Familienunterhalt zur Verhandlung mitzubringen. Wie durch Vorlage des Briefumschlags nachgewiesen ist, haben die Kläger die Ladung mit der Anordnung des persönlichen Erscheinens erst am 25. März 1957 - also einen Tag vor der mündlichen Verhandlung - erhalten. Bei seiner Anordnung hat das Berufungsgericht nicht berücksichtigt, daß die Kläger mit Schreiben vom 21. März 1957, das am 23. März beim LSG. eingegangen ist, mitgeteilt haben, daß sie infolge Krankheit nicht in der Lage seien, persönlich zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen. Im übrigen ist das Berufungsgericht am 26. März 1957 vor Beginn der mündlichen Verhandlung fernmündlich nochmals darauf hingewiesen worden, daß die Kläger durch Krankheit am Erscheinen verhindert seien; gleichzeitig ist Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung gestellt worden. Diese fernmündliche Mitteilung ist durch einen in den Berufungsakten befindlichen Aktenvermerk vom 26. März 1957 nachgewiesen. Bei diesem Sachverhalt hat das Berufungsgericht das rechtliche Gehör versagt oder zumindest in unzulässiger Weise beschränkt, weil es dem Antrag der Kläger auf Terminsänderung trotz Vorliegens erheblicher Gründe nicht stattgegeben hat. Die Versagung des rechtlichen Gehörs ist insbesondere darin zu erblicken, daß das LSG. trotz Kenntnis von der Krankheit, der Kläger das persönliche Erscheinen eines der Kläger erst drei Tage vor der mündlichen Verhandlung angeordnet und gleichzeitig die Auflage erteilt hat, für die Entscheidung wesentliche Unterlagen mitzubringen. Dieser Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der durch Artikel 103 Abs. 1 des Grundgesetzes verfassungsrechtlichen Rang erhalten hat, stellt einen Mangel dar, der das Verfahren nicht mehr als geeignete Grundlage für die Urteilsfindung erscheinen läßt; er ist also "wesentlich" im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Die Revision der Kläger ist somit wegen Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensmangels statthaft; sie ist auch begründet.

Das angefochtene Urteil beruht auf dieser Gesetzesverletzung, da die Möglichkeit besteht, daß das LSG. ohne Verstoß gegen die Vorschrift des § 62 SGG anders entschieden hätte (vgl. BSG. 2 S. 197 [201] = SozR. SGG § 162 Bl. Da 7 Nr. 29). Im Hinblick darauf, daß in dieser Sache noch weitere Ermittlungen erforderlich sind - insbesondere zu der Frage, ob die Kläger früher für den Sohn Karl Familienunterhalt erhalten haben (vgl. jedoch hierzu auch BSG. in SozR. BVG § 50 Bl.Ca 2 Nr. 6) - mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Baden-Württemberg zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324466

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