Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Beiladung der Versicherungsträger bei Beitragsstreitigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Hat die Einzugsstelle nach Erlaß eines nicht personenbezogenen Beitragsbescheides im Prozeß dargelegt, auf welche Arbeitnehmer sich die Beitragsforderung bezieht, und hierauf in dem noch während des Gerichtsverfahrens nachgeholten Widerspruchsbescheid Bezug genommen, so ist der Beitragsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides nicht wegen personeller Unbestimmtheit aufzuheben (Abgrenzung zu BSG vom 1.12.1977 12 RK 13/77 = BSGE 45, 206 = SozR 2200 § 1227 Nr 10).

 

Orientierungssatz

1. Der Träger der Rentenversicherung ist nach § 75 Abs 2 SGG zum Rechtsstreit notwendig beizuladen, wenn über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes gestritten wird, der auch die Beiträge zur Rentenversicherung betrifft (vgl BSG vom 27.9.1961 3 RK 74/59 = BSGE 15, 118, 125). Gleiches gilt hinsichtlich der BA, wenn (auch) über Beiträge zu ihr entschieden worden ist. Die Beiladungen sind auch notwendig, wenn es nicht um die Versicherungs- und Beitragspflicht selbst, sondern nur um die Haftung für Beiträge geht (vgl BSG vom 9.12.1981 12 RK 32/81 = SozR 1500 § 75 Nr 41). Die gesetzlichen Befugnisse der Einzugsstelle, wie sie in § 1399 Abs 3 RVO, § 121 Abs 3 AVG und § 182 Abs 1 AFG geregelt sind, begründen zwar die Zuständigkeit der Einzugsstelle zur Entscheidung auch über die Beiträge zur Rentenversicherung und zur BA. Auch kann die Entscheidung der Einzugsstelle diesen Versicherungsträgern gegenüber bindend werden. Andererseits können diese die Entscheidung der Einzugsstelle anfechten. Damit eine einheitliche Entscheidung auch ihnen gegenüber ergeht, sind sie notwendig beizuladen.

2. Aus einer mangelnden Bestimmtheit (Personenbezogenheit) eines Bescheides folgt nicht, daß auch die Versicherungsträger nicht beizuladen sind.

 

Normenkette

SGG § 75 Abs 2; RVO § 1399 Abs 3; AVG § 121 Abs 3; AFG § 182 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 20.01.1988; Aktenzeichen L 4 Kr 32/86)

SG Braunschweig (Entscheidung vom 11.03.1986; Aktenzeichen S 5 Kr 9/83)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte von der Klägerin Beiträge verlangen kann.

Die klagende Firma gründete am 22. Dezember 1980 zusammen mit drei weiteren Gesellschaftern eine GmbH, die eine Schnellreinigung betreiben wollte, ihre Gewerbetätigkeit im Juni 1981 anmeldete, sich jedoch nicht ins Handelsregister eintragen ließ. Sie führte den Namen O.  -F.     -GmbH mit dem Zusatz "GiG" (Gesellschaft in Gründung). Alleiniger Geschäftsführer der Vor-GmbH war der Mitgesellschafter B.    S.    (S). Am 23. April 1982 veräußerte die Klägerin ihren Gesellschaftsanteil und schied aus der Vor-GmbH aus. Das Amtsgericht (AG) Braunschweig eröffnete am 25. Juni 1982 das Konkursverfahren über das Vermögen des S, Inhaber eines im Handelsregister nicht eingetragenen Einzelhandelsgeschäftes unter der Firma "O. F.     , Chemische Reinigung GmbH, in Gründung". Das Konkursverfahren wurde durch Beschluß des AG vom 3. September 1982 mangels Masse eingestellt.

Die Beklagte nahm die Klägerin mit Bescheid vom 22. Oktober 1982 nach § 11 Abs 2 GmbHG auf Zahlung rückständiger Sozialversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1. Februar 1982 bis zum 23. April 1982 (Ausscheiden aus der Vor-GmbH) nebst Säumniszuschlägen in Höhe von insgesamt 8.468,13 DM in Anspruch. Hiervon zog sie 8.322,-- DM an zu erstattenden Arbeitgeberanteilen der für einen Herrn E entrichteten Beiträge ab und verlangte noch restliche 146,13 DM.

Die Klägerin hat Klage beim Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben und ihre Haftung für die Beitragsforderung bestritten. In einem Termin vom 17. September 1985 haben die Beteiligten, nachdem auch die Höhe der Forderung streitig geworden war, gebeten, dazu noch Stellung nehmen zu dürfen. Das SG hat daraufhin die Sache vertagt. In einem Schriftsatz vom 19. November 1985 hat die Beklagte durch ihre Prozeßbevollmächtigten auch zur Höhe der Beitragsforderung Stellung genommen sowie Fotokopien von Beitragsnachweisungen und Lohnlisten beigefügt. Am 10. Dezember 1985 hat das SG die Sache erneut vertagt, damit die Beklagte das Widerspruchsverfahren durchführe. Daraufhin ist der Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 1986 ergangen, in dem der Widerspruch zurückgewiesen wurde. In der Begründung des Widerspruchsbescheides hat die Beklagte ua ausgeführt, sie habe anhand der Beitragsnachweisungen belegt, daß die Beitragsforderung in richtiger Höhe erhoben worden sei. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat die Klägerin beantragt, Bescheid und Widerspruchsbescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, 8.322,-- DM nebst Zinsen an sie (die Klägerin) zu zahlen. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen und - im Wege der Widerklage - die Klägerin zu verurteilen, 146,13 DM nebst Zinsen an sie (die Beklagte) zu zahlen. Durch Urteil vom 11. März 1986 hat das SG die Klage abgewiesen und der Widerklage (außer den Zinsen) stattgegeben.

Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG das Urteil des SG antragsgemäß geändert, den Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben, soweit die Beklagte Sozialversicherungsbeiträge gefordert und sich gleichzeitig durch Aufrechnung befriedigt hat, sowie die Widerklage als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Der Bescheid fordere pauschal Beiträge. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, die personenbezogene Spezifizierung nachzuholen. Dieses könne auch durch eine Beiladung im gerichtlichen Verfahren nicht geschehen (BSG SozR 2200 § 1227 Nr 10 und § 1399 Nr 16). Demzufolge scheide auch die Beiladung der betroffenen Rentenversicherungsträger sowie der Bundesanstalt für Arbeit (BA) aus. Der Bestimmtheitsmangel führe zur Aufhebung des Bescheides. Damit sei für eine Aufrechnung kein Raum mehr. Die Widerklage sei unzulässig, weil die Beklagte eine Beitragsforderung nur durch Bescheid geltend machen könne und dies auch getan habe.

Gegen das Urteil richtet sich die - vom Senat zugelassene - Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung des § 75 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil die anderen Versicherungsträger nicht beigeladen worden sind. Die Klägerin müsse sich entgegenhalten lassen, daß ihre (der Beklagten) Beitragsforderung auf den Beitragsnachweisungen der Vor-GmbH beruhe.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückzuweisen, soweit dieses über die Klage ent- schieden hat, hilfsweise, die Sache zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend, beruft sich auf die Unbestimmtheit des Bescheides und macht weiter geltend, wegen der umfassenden Befugnisse der Einzugsstelle sei eine Beiladung anderer Versicherungsträger nicht notwendig gewesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben war, soweit der Klage stattgegeben worden ist. Insofern war die Sache an das LSG zurückzuverweisen, weil das Verfahren vor dem LSG an Verfahrensmängeln leidet, die das Revisionsgericht nicht beheben kann.

Nach ihrem Revisionsbegehren ficht die Beklagte das vorinstanzliche Urteil nur insoweit an, als das LSG der Aufhebungsklage stattgegeben hat. Hingegen wird das Urteil des LSG ersichtlich nicht angegriffen, soweit es die Widerklage - zutreffend - abgewiesen hat.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß der Träger der Rentenversicherung nach § 75 Abs 2 SGG zum Rechtsstreit notwendig beizuladen ist, wenn über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes gestritten wird, der auch die Beiträge zur Rentenversicherung betrifft (BSGE 15, 118, 125). Gleiches gilt hinsichtlich der BA, wenn (auch) über Beiträge zu ihr entschieden worden ist. Der Senat hat diese Beiladungen auch verlangt, wenn es nicht um die Versicherungs- und Beitragspflicht selbst, sondern nur um die Haftung für Beiträge geht (SozR 1500 § 75 Nr 41). Daran hält der Senat fest. Die gesetzlichen Befugnisse der Einzugsstelle, wie sie in § 1399 Abs 3 Reichsversicherungsordnung (RVO), § 121 Abs 3 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) und § 182 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) geregelt sind, begründen zwar die Zuständigkeit der Einzugsstelle zur Entscheidung auch über die Beiträge zur Rentenversicherung und zur BA. Auch kann die Entscheidung der Einzugsstelle diesen Versicherungsträgern gegenüber bindend werden. Andererseits können diese die Entscheidung der Einzugsstelle anfechten. Damit eine einheitliche Entscheidung auch ihnen gegenüber ergeht, sind sie notwendig beizuladen (zum Ganzen BSGE 15, 118). Dieses ist bisher nicht geschehen. Die Gründe, die der Senat in SozR 1500 § 75 Nr 41 für die notwendige Beiladung der Versicherungsträger angeführt hat, treffen auch zu, wenn der angefochtene Bescheid nicht personenbezogen ergangen ist. Die Auffassung des LSG, aus einer mangelnden Bestimmtheit (Personenbezogenheit) eines Bescheides folge, daß auch die Versicherungsträger nicht beizuladen seien, teilt der Senat nicht.

Darüber hinaus hat das LSG die Anforderungen überspannt, die an die personelle Bestimmtheit von Beitrags- und Haftungsbescheiden zu stellen sind. Infolgedessen hat es auch die notwendige Beiladung von Arbeitnehmern unterlassen, was auch noch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen ist. Der Senat hat zwar in ständiger Rechtsprechung, insbesondere auch in den vom LSG angeführten Urteilen vom 1. Dezember 1977 (BSGE 45, 206 = SozR 2200 § 1227 Nr 10) und vom 17. Dezember 1985 (BSGE 59, 235 = SozR 2200 § 1399 Nr 16) grundsätzlich die personelle Bestimmtheit gefordert und Ausnahmen davon nur zugelassen, wenn sie der Einzugsstelle durch eine Verletzung der Aufzeichnungspflicht des Arbeitgebers unmöglich gemacht worden ist (vgl BSGE 41, 297 = SozR 2200 § 1399 Nr 4; BSGE 59, 235 = SozR 2200 § 1399 Nr 16). In all diesen Fällen war jedoch eine namentliche Bezeichnung der Arbeitnehmer weder im Bescheid noch im Widerspruchsbescheid erfolgt.

Demgegenüber sind hier die Arbeitnehmer, auf die sich die Beitragsforderung bezog, bis zum Abschluß des Verwaltungsverfahrens namentlich bezeichnet worden. Zwar war in dieser Hinsicht der Bescheid vom 22. Oktober 1982 für sich betrachtet unbestimmt. Ob sich allerdings ein Arbeitgeber auf die Unbestimmtheit berufen kann, wenn die Beitragsforderung auf Beitragsnachweisungen, Lohnlisten oder sogar Beitragsberechnungen beruht, die er selbst zuvor der Einzugsstelle eingereicht hat, kann offenbleiben, desgleichen, ob sich die Klägerin eine solche Kenntnis der Vor-GmbH zurechnen lassen müßte. Denn jedenfalls hat die Beklagte Beitragsnachweisungen und Lohnlisten während des erstinstanzlichen Verfahrens mit ihrem Schriftsatz vom 19. November 1985 vorgelegt. Daraus ergab sich auch für die Klägerin, für welche Arbeitnehmer Beiträge verlangt wurden. Da der Widerspruchsbescheid erst danach am 31. Januar 1986 ergangen ist und in ihm auf die vorher im Prozeß gemachten Ausführungen zur Beitragshöhe Bezug genommen wurde, lag bei Abschluß des Verwaltungsverfahrens eine ausreichende personelle Bestimmtheit vor. Darin unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von dem, der dem erwähnten Urteil vom 1. Dezember 1977 zugrunde lag. Damals war, was der Senat nicht für zulässig gehalten hat, erst nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens während des Prozesses versucht worden, den Mangel durch "Nachschieben von Gründen" und durch eine Beiladung der in Betracht kommenden Arbeitnehmer zu beheben.

Die strengen Anforderungen, die das LSG an die personelle Bestimmtheit im Bescheid selbst gestellt hat, sind durch Sinn und Zweck des Bestimmtheitserfordernisses hier nicht gerechtfertigt. Der Senat hat personenbezogene Entscheidungen der Einzugsstellen vor allem verlangt, um im Interesse der einzelnen Arbeitnehmer die Klärung ihrer individuellen Versicherungsverhältnisse und - vor allem zur Begründung von Rentenanwartschaften - die Zuordnung der Beiträge nach Möglichkeit sicherzustellen. Daneben sollte auch dem Adressaten des Bescheides die Überprüfung der Beitragsforderung erleichtert werden. Diesen Anliegen ist hinsichtlich der Personenbezogenheit jedenfalls bei einer Fallgestaltung wie der vorliegenden Genüge getan. Die Forderung nach einer ausdrücklichen Personenbezogenheit des Bescheides und des Widerspruchsbescheides selbst würde hier das Verlangen nach unnützen Wiederholungen bedeuten.

Es kann offenbleiben, ob die Notwendigkeit der Beiladung der Arbeitnehmer entfiele, wenn die Beklagte Beiträge aus der Konkursausfallgeld-Versicherung beantragt und von der BA erhalten hätte. Denn jedenfalls läge hier die Zeit, für die Beiträge verlangt werden (1. Februar bis 23. April 1982), zum Teil vor dem 25. März 1982 und damit länger als drei Monate vor Konkurseröffnung (vgl §141n Abs 1 Satz 1 AFG); insofern würde sie von der Konkursausfallgeld-Versicherung nicht erfaßt.

Das LSG wird hiernach die notwendigen Beiladungen nachzuholen und in der Sache zu entscheiden haben. Es hat auch über die Erstattung außergerichtlicher Kosten - einschließlich des Revisionsverfahrens - zu befinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659724

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