Leitsatz (amtlich)

Beim vorzeitigen Altersruhegeld nach AVG § 25 Abs 3 gehört der Rentenantrag nicht zum Versicherungsfall iS von AnVNG Art 2 § 41.

 

Normenkette

AVG § 25 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 41 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1248 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. Juli 1961 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob zugunsten der Klägerin die Voraussetzungen für die Rentenberechnung nach Art. 2 § 41 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG - (sogenannte Vergleichsberechnung) gegeben sind. Die Entscheidung hängt davon ab, wann bei ihr der Versicherungsfall eingetreten ist.

Die Klägerin (geb. 29.11.1897) gab ihren Handwerksbetrieb als selbständige Damenschneiderin im Jahre 1956 auf. Im Juni 1959 suchte sie um das vorzeitige Altersruhegeld nach § 25 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nach. Die Beklagte gab dem Antrag vom 1. Juni 1959 an statt. Sie berechnete die Rente nach den Vorschriften des AVG in der vom 1. Januar 1957 an geltenden Fassung (§§ 30 ff). In dem Rentenbescheid vermerkte sie, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zahlung der nach dem früheren Recht berechneten Rente, weil nach dem 31. Dezember 1956 nicht mindestens neun Beiträge für jedes Kalenderjahr vor dem Jahr des Versicherungsfalls bzw. vor dem Jahr des Altersruhegeldbezugs entrichtet worden seien (Bescheid vom 15. Juli 1959).

Die Klägerin war mit der Rentenberechnung nicht einverstanden und erhob Klage. Das Sozialgericht (SG) Speyer (Urteil vom 23. November 1959) und das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz gaben ihr recht. Das LSG verurteilte die Beklagte, das der Klägerin nach § 25 Abs. 3 AVG zu gewährende Altersruhegeld nach Durchführung der Vergleichsberechnung gemäß Art. 2 § 41 AnVNG neu festzustellen: Die Anwartschaft aus den Beiträgen der Klägerin sei am 1. Januar 1957 erhalten gewesen. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei der Versicherungsfall nicht erst mit der Antragstellung der Klägerin im Juni 1959, sondern bereits mit der Vollendung des 60. Lebensjahres am 29. November 1957 eingetreten. Der Entrichtung von mindestens je neun Beiträgen für die Kalenderjahre 1957 und 1958 habe es zur Vornahme der Vergleichsberechnung nicht bedurft. Die Rente der Klägerin sei deshalb unter Berücksichtigung von Art. 2 § 41 AnVNG zu berechnen. - Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 5. Juli 1961).

Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag, unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG die Klage abzuweisen. Sie rügte die unrichtige Anwendung des § 25 Abs. 3 AVG i. V. m. Art. 2 § 41 AnVNG. Beim Altersruhegeld nach § 25 Abs. 3 AVG bilde der Antrag eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung; als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls müsse deshalb die Antragstellung der Klägerin im Juni 1959 zugrunde gelegt werden. Da aber die Klägerin für die Jahre 1957 und 1958 nicht die nach Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG erforderlichen Beiträge entrichtet habe, könne sie die Vergleichsberechnung nicht beanspruchen.

Die Klägerin beantragte die Zurückweisung der Revision.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, das Altersruhegeld der Klägerin nach Durchführung der Vergleichsberechnung gemäß Art. 2 § 41 AnVNG neu festzustellen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind gegeben, weil die Anwartschaft der Klägerin aus ihren Beiträgen am 1. Januar 1957 nach den bis dahin geltenden Vorschriften erhalten war und der Versicherungsfall, auf dessen Zeitpunkt es nach dem Gesetz allein ankommt, bei ihr nach Aufgabe der beruflichen Tätigkeit bereits mit der Vollendung des 60. Lebensjahres im Jahre 1957 eingetreten ist; die Vergleichsberechnung erforderte deshalb nicht, daß die Klägerin mindestens je neun Monatsbeiträge für die Kalenderjahre 1957 und 1958 entrichtet hat. Dieses Ergebnis wird nicht deshalb in Frage gestellt, weil die Klägerin um das Altersruhegeld erst im Jahre 1959 nachgesucht hat. Entgegen der Meinung der Beklagten ist der Antrag auf Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes nicht zum Versicherungsfall i. S. von Art. 2 § 41 AnVNG zu rechnen.

Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG) schon wiederholt entschieden, der Antrag sei eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung für das vorzeitige Altersruhegeld nach § 25 Abs. 3 AVG (§ 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -); diese Rente könne nach § 67 Abs. 1 und Abs. 5 AVG (§ 1290 Abs. 1 und Abs. 5 RVO) erst vom Beginn des Antragsmonats an gewährt werden, auch wenn alle sonstigen Voraussetzungen bereits in einem früheren Zeitpunkt erfüllt seien (BSG 13, 79 und Beschluß vom 21. Dezember 1960 - 1 RA 144/60 -). Daraus ergibt sich aber nur, daß der Antrag eine der Voraussetzungen ist, die vorliegen muß, damit das Altersruhegeld gewährt wird. Die genannten Entscheidungen lassen aber nicht erkennen, daß der Rentenantrag zugleich einen Bestandteil des Versicherungsfalls bildet. Der Versicherungsfall umfaßt nicht alle materiellen Anspruchsvoraussetzungen. Zum Begriff des Versicherungsfalls - auch i. S. des Art. 2 § 41 AnVNG - gehört der Antrag beim vorzeitigen Altersruhegeld ebensowenig, wie etwa die - gleichfalls eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung bildende - Erfüllung der Wartezeit oder die überwiegende Ausübung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten 20 Jahren.

Die Rentenversicherungsgesetze verwenden den Begriff "Versicherungsfall" an zahlreichen Stellen, ohne ihn selbst näher zu erläutern. Im Schrifttum bestehen darüber, was den Versicherungsfall ausmacht, sehr unterschiedliche Auffassungen (vgl. zuletzt: "Die Rentenversicherung" 1963 S. 78 und die dort angegebenen Zitate, ferner S. 214). Nach der Auffassung des Senats, die mit der des LSG übereinstimmt, ist darunter ein bestimmtes Ereignis oder das Zusammentreffen mehrerer Ereignisse im Leben des Versicherten zu verstehen, gegen deren Nachteile die Versicherung Schutz gewähren soll. Das Gesetz kennt eine Anzahl solcher Ereignisse, die hauptsächlichsten sind der Eintritt der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit, die Vollendung des 65. Lebensjahres und der Tod des Versicherten. Diesen Ereignissen ist gemeinsam, daß sie unabhängig vom Willen des Berechtigten eintreten, von ihm also weder willkürlich bestimmt noch durch die Stellung des Rentenantrags verschoben werden können. Zwar hat das BSG den Altersrentenfall des früheren Rechts (§ 1253 RVO aF, § 25 AVG aF) nicht schon in der Vollendung des 65. Lebensjahres des Versicherten gesehen, sondern angenommen, der Versicherungsfall trete hier nicht vor der Stellung des Antrags auf die Gewährung des Altersruhegeldes ein (BSG 3, 24). Dieser Rechtsauffassung ist jedoch der Gesetzgeber für das am 1. Januar 1957 in Kraft getretene Recht nicht gefolgt, wie sich aus der Regelung in §§ 25 Abs. 1 und 67 Abs. 1 Satz 1 AVG ergibt. Danach steht jetzt auch beim Anspruch auf das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres der Eintritt des Versicherungsfalls objektiv fest; der Versicherte hat nach dem geltenden Recht keine Möglichkeit, ihn über den Rentenantrag willkürlich zu bestimmen oder zu verschieben (so zutreffend: Scheerer in "Die Rentenversicherung" 1963 S. 214 f). Diese Regelung entspricht dem Versicherungsgedanken, der es verbietet, daß der Versicherte durch die Wahl eines beliebigen Zeitpunktes, in dem er den Rentenantrag stellt, den Eintritt des Versicherungsfalles festlegen kann. Etwas anderes kann auch nicht für den Versicherungsfall beim vorzeitigen Altersruhegeld für weibliche Versicherte nach § 25 Abs. 3 AVG gelten. Zwar bestimmt die Versicherte hier selbst unter Umständen den Zeitpunkt, in dem sie die rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgibt. Allein auch hier bedeutet die Aufgabe der beruflichen Tätigkeit im Grunde ein objektiv feststehendes Ereignis, das jedenfalls nicht ausschließlich vom Willen des Berechtigten abhängig ist, wie der Rentenantrag. Dieser wird zwar beim vorzeitigen Altersruhegeld im Gesetz an zwei Stellen (§ 25 Abs. 3 und § 67 Abs. 5 AVG) ausdrücklich erwähnt und hervorgehoben. Seine besondere Bedeutung liegt aber darin, daß es der Versicherten beim vorzeitigen Altersruhegeld wegen der mit dem Bezug dieser Rente verknüpften Folgen (Sperrwirkung für weitere Beiträge) freistehen soll, ob sie aus dem Versicherungsfall überhaupt einen Leistungsanspruch herleiten will und von welchem Zeitpunkt an. Dagegen kann die Versicherte durch eine bloße Willenserklärung, wie sie der Rentenantrag bedeutet, nicht den Eintritt des Versicherungsfalls bestimmen; der Versicherungsfall tritt hier vielmehr mit den Ereignissen ein, die ihn ergeben. Dazu gehört aber nicht der Rentenantrag. Von dieser Auffassung ist schon der 4. Senat für das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 RVO (§ 25 Abs. 2 AVG) ausgegangen, wie sich aus den Gründen des Urteils in BSG 13, 79 ergibt. Auch hier wurde bei der Prüfung, ob Art. 2 § 25 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - (Art. 2 § 24 Abs. 2 AnVNG) anzuwenden sei, die Möglichkeit bejaht, daß der Eintritt des Versicherungsfalls und die Antragstellung auseinanderfallen. Wollte man dagegen den Rentenantrag beim vorzeitigen Altersruhegeld zum Versicherungsfall rechnen, so könnte der Versicherte durch bloßes Hinausschieben dieses Antrags willentlich Einfluß auf die Rentenbemessungsgrundlage nach § 32 Abs. 2 AVG und auf die Länge der Ausfallzeiten (§ 36 Abs. 2 Satz 1 AVG) - und damit auf die Höhe der Rente - nehmen, ein Ergebnis, das mit dem Versicherungsgedanken nicht zu vereinbaren und vom Gesetzgeber sicher nicht gewollt ist.

Danach hat der Rentenantrag beim vorzeitigen Altersruhegeld nach § 25 Abs. 3 AVG die Bedeutung, daß er beim Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen den Versicherungsträger zur Leistung verpflichtet und den Beginn der Rentenzahlung bestimmt. Er rechnet selbst aber nicht zum Begriff des Versicherungsfalls. Dieser tritt vielmehr ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung mit der Vollendung des 60. Lebensjahres und der Aufgabe der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit ein, wobei es keinen Unterschied macht, welches dieser beiden Ereignisse zeitlich früher oder später liegt. Im Fall der Klägerin war daher der Versicherungsfall mit der Vollendung des 60. Lebensjahres (als dem letzten Ereignis) am 29. November 1957 eingetreten. Damals hatte die Klägerin auch die Wartezeit nach § 25 Abs. 4 AVG erfüllt. Ihr hätte, wenn sie den Rentenantrag noch im Jahre 1957 gestellt hätte, die Beklagte das vorzeitige Altersruhegeld von November oder Dezember 1957 an mit der Berechnung nach Art. 2 § 41 AnVNG gewährt. Allein deshalb, weil sie die Rente erst im Juni 1959 beantragt hat, hat sie schon einen Rechtsverlust in der Weise erlitten, daß sie den Rentenanspruch für die Zeit von 1957 bis 1959 nicht mehr verwirklichen kann. Durch die verspätete Antragstellung unter sonst nicht veränderten Umständen kann ihr aber, weil der Versicherungsfall bereits im Jahre 1957 eingetreten ist, nicht noch der weitere Rechtsnachteil entstehen, daß sie auch der Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 41 AnVNG verlustig geht. Dies haben SG und LSG richtig erkannt und die Voraussetzungen dieser Berechnung mit Recht als gegeben angesehen.

Die Revision der Beklagten muß daher zurückgewiesen werden (§§ 170 Abs. 1 Satz 1, 193 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 2379851

BSGE, 48

NJW 1964, 222

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