Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz kraft Satzung. Unternehmensbesichtigung. Handlungstendenz. zukünftiger Arbeitsplatz

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Arbeitsplatzbesichtigung für ein in Aussicht genommenes Beschäftigungsverhältnis fällt nicht unter den durch Satzungsrecht begründeten Unfallversicherungsschutz für "Teilnehmer an Besichtigungen des Unternehmens".

 

Normenkette

RVO § 544 Nr. 1

 

Verfahrensgang

SG Aachen (Entscheidung vom 11.09.1992; Aktenzeichen S 4 U 34/91)

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.06.1993; Aktenzeichen L 5 U 148/92)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist umstritten der Anspruch des Klägers auf Erstattung von Heilbehandlungskosten, die ihm wegen der Folgen eines am 4. Oktober 1990 erlittenen Unfalls entstanden sind.

Der Kläger, im Hauptberuf Beamter, suchte am 4. Oktober 1990 zu Verhandlungen über eine stundenweise Aushilfstätigkeit den Betrieb der K. L. GmbH, E. , auf. Um sich einen Eindruck über die anfallenden Arbeiten zu verschaffen, führte ihn der Lagerleiter E. H. durch den Betrieb. Dabei fuhr dem Kläger in der Lagerhalle ein Gabelstapler über die Füße. Er erlitt Verletzungen an beiden Füßen und am rechten Handgelenk. Seinen Antrag auf Erstattung der von ihm getragenen Heilbehandlungskosten lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 25. März 1991 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 1991). Die Arbeitssuche sei keine versicherte Tätigkeit. Ebensowenig sei ein Versicherungsschutz nach § 48 ihrer Satzung gegeben. Personen, die - wie der Kläger - das Unternehmen zu Verhandlungen über den Abschluß eines Arbeitsvertrages aufsuchten, seien darin als Versicherte kraft Satzung nicht aufgeführt.

Die Beklagte forderte den Kläger ferner auf, die Kosten der zunächst durchgeführten berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung zu erstatten (Bescheid vom 6. November 1991).

Das Sozialgericht Aachen (SG) hat mit Urteil vom 11. September 1992 den Rückforderungsbescheid vom 6. November 1991 als rechtswidrig aufgehoben. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen, weil der Kläger am 4. Oktober 1990 keinen als Arbeitsunfall (§ 548 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) zu entschädigenden Unfall erlitten habe. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat durch Urteil vom 8. Juni 1993 auf die Berufung des Klägers die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Heilbehandlungskosten aufgrund des Unfalls vom 4. Oktober 1990 zu erstatten. Zwar sei der Kläger weder nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO noch nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO versichert gewesen. Der Versicherungsschutz folge hingegen aus § 48 Abs 1 Buchst b der Satzung der Beklagten. Diese Vorschrift umfasse auch solche Teilnehmer einer Besichtigung, die in Verhandlungen über eine spätere Arbeitsaufnahme stünden. Schon nach der Systematik des Schutzes der gesetzlichen Unfallversicherung wäre es systemwidrig, auf die hinter dem Besichtigungszweck stehenden Motive abzustellen.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 544 RVO iVm § 48 Abs 1 Buchst b der Satzung der Beklagten). Das LSG habe nicht nur den Begriff "Teilnehmer an Besichtigungen des Unternehmens" fehlerhaft angewandt; es habe auch die - rein eigenwirtschaftliche - Handlungstendenz des Klägers unbeachtet gelassen und allein auf das Interesse bzw den Nutzen für das Unternehmen abgestellt, auf die es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (BSG SozR 2200 § 539 Nr 119) in Fällen dieser Art gerade nicht ankomme. Nach ihrer Satzung stünden nur Besucher allgemeiner Art unter Versicherungsschutz. Verfolge der Besucher jedoch mit der Besichtigung ausschließlich eigene Interessen (zB Bewerbung um einen Arbeitsplatz), so komme Versicherungsschutz weder nach § 539 Abs 1 oder Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO noch nach § 544 iVm § 48 der Satzung in Betracht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Juni 1993 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 11. September 1992 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist der vom Kläger im Berufungsverfahren verfolgte Anspruch auf Erstattung der von ihm getragenen Heilbehandlungskosten. Den Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 6. November 1991 über die von ihr bereits getragenen Leistungen hingegen hat das SG aufgehoben. Hiergegen hat die Beklagte keine Berufung eingelegt.

Das Urteil des LSG war aufzuheben. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der Heilbehandlungskosten, weil er zum Unfallzeitpunkt nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand. Er hat keinen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall erlitten, als ihm in der Lagerhalle der K. L. GmbH ein Gabelstapler über die Füße fuhr.

Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Keine der danach unfallversicherungsrechtlich geschützten Tätigkeiten hat der Kläger ausgeübt. Zum Unfallzeitpunkt bestand zwischen ihm und der Beklagten kein Versicherungsverhältnis, aus dem der geltend gemachte Erstattungsanspruch hätte entstehen können.

Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß ein Versicherungsschutz des Klägers weder nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO noch nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO gegeben ist. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) war es im Unfallzeitpunkt zu dem Abschluß eines Arbeitsverhältnisses noch nicht gekommen (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO). Der Kläger stand auch nicht nach § 539 Abs 2 RVO wie ein nach Abs 1 dieser Vorschrift Tätiger unter Versicherungsschutz. Seine Handlungstendenz (s BSG SozR 2200 § 539 Nr 119) war nicht auf die Belange des Unternehmens, nämlich der Firma K. L. GmbH, gerichtet. Vielmehr diente die Besichtigung - wie das LSG bindend festgestellt hat - wesentlich allein eigenen Angelegenheiten. Der Kläger war nicht wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses, sondern eigenwirtschaftlich tätig. Auch wenn es der Firma K. bei einer späteren Tätigkeitsaufnahme dienlich gewesen wäre, lag der Schwerpunkt des Zwecks der Besichtigung in der Information des Klägers über seinen Arbeitsplatz im Rahmen der Vertragsverhandlungen. Gegen diese rechtlich nicht zu beanstandenden Ausführungen des LSG erheben die Beteiligten im Revisionsverfahren keine Einwände.

Der Kläger stand aber auch nicht unter Versicherungsschutz nach § 48 Abs 1 Buchst b der Satzung der Beklagten iVm § 544 Nr 1 RVO.

Nach § 544 Nr 1 RVO kann die Satzung bestimmen, daß und unter welchen Bedingungen Personen, die nicht im Unternehmen beschäftigt sind, aber die Stätte des Unternehmens besuchen oder auf ihr verkehren, gegen Arbeitsunfälle versichert sind, soweit sie dies nicht schon nach anderen Vorschriften sind. Es steht im pflichtgemäßen Ermessen der Vertreterversammlung, ob und ggf unter welchen Bedingungen die das Unternehmen besuchenden Personen versichert sind (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 477f und 477k). Im Rahmen des § 544 Nr 1 RVO kann somit die Vertreterversammlung sowohl den Personenkreis als auch die Bedingungen, unter denen Unfallversicherungsschutz zu gewähren ist, bestimmen.

Von dieser Ermächtigungsnorm hat die Beklagte Gebrauch gemacht und in § 48 Abs 1 Buchst b der Satzung den Versicherungsschutz auf "Teilnehmer an Besichtigungen des Unternehmens" erstreckt. Danach sind Personen, die nicht im Unternehmen beschäftigt sind, aber als Teilnehmer an Besichtigungen des Unternehmens im Auftrag oder mit Zustimmung des Unternehmers die Stätte des Unternehmens aufsuchen oder auf ihr verkehren, während ihres Aufenthalts auf der Betriebsstätte gegen die ihnen hierbei zustoßenden Arbeitsunfälle beitragsfrei versichert, soweit sie nicht schon nach anderen Vorschriften versichert sind. Diese Regelung hält sich im Rahmen der Ermächtigung und ist auch mit sonstigem höherrangigen Recht vereinbar (s BSGE 68, 111, 112).

Die Beklagte ist eine bundesunmittelbare Berufsgenossenschaft und für das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zuständig (§ 1 Abs 2, § 4 ihrer Satzung). Der Geltungsbereich ihrer Satzung geht damit über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus. Deshalb handelt es sich bei der Anwendung des Satzungsrechts der Beklagten auf den vorliegenden Streitfall um revisibles Recht iS des § 162 SGG (s BSGE 31, 47, 48; 31, 275, 276; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 162 RdNr 5, jeweils mwN).

Die Auslegung des § 48 der Satzung ergibt entgegen der Ansicht des LSG, daß auf ihrer Grundlage ein Versicherungsschutz des Klägers nicht begründet werden kann. Der Kläger war im Sinne dieser Vorschrift nicht Teilnehmer an einer Besichtigung des Unternehmens.

Bereits nach dem Wortlaut ist unter Besichtigung eines Unternehmens (oder "Betriebsbesichtigung") in der Regel die vom Unternehmen organisierte Führung einer Gruppe von Interessierten zu verstehen, wobei aus der Sicht der Teilnehmer die Besichtigung Hauptzweck des Aufenthalts auf der Betriebsstätte zu sein hat. Daraus folgt, daß die Handlungstendenz der betreffenden Personen wesentlich auf die Besichtigung des Unternehmens gerichtet sein muß. Dabei kann hier durchaus offenbleiben, ob - entgegen der Auffassung der Beklagten - schon nach dem Wortlaut (Teilnehmer), jedenfalls nach Sinn und Zweck der angeführten Satzungsbestimmung nicht auch nur eine einzelne Person ein solcher Teilnehmer an einer Besichtigung sein kann. Hauptzweck der Anwesenheit muß jedoch die Besichtigung des Betriebes sein. Verfolgt die Person mit ihrem Verhalten hingegen in Wirklichkeit wesentlich allein andere - eigene - Angelegenheiten, etwa den Abschluß eines Arbeitsvertrages, so wird ein Besichtigungsrundgang im Rahmen der den Abschluß eines Arbeitsvertrages dienenden Verhandlungen von dem Versicherungsschutz nach § 48 Abs 1 Buchst b der Satzung nicht erfaßt. Hiervon zu unterscheiden ist die von der Revision betonte Motivation der betreffenden Person. Daher wäre ein Versicherungsschutz nicht auszuschließen zB bei der Teilnahme einer Person an einer eigenständigen Besichtigung, um für sich festzustellen, ob dieses Unternehmen für ihn als geeignete Arbeitsstätte in Betracht käme.

Nach den Feststellungen des LSG handelte es sich hier nicht um eine eigenständige Besichtigung des Unternehmens; vielmehr stellte sich der Rundgang als Teil der dem Abschluß eines Arbeitsverhältnisses dienenden Verhandlungen dar. Der Rundgang hat somit - wie das erstinstanzliche Urteil zutreffend ausgeführt hat - keine eigenständige rechtliche Bedeutung. Davon abgesehen ist den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen, daß der Kläger überhaupt eine Betriebsbesichtigung unternehmen wollte. In Anbetracht der von ihm in Aussicht genommenen stundenweisen und geringfügigen Tätigkeit als Nebentätigkeit liegt es hier näher anzunehmen, daß ihm der zukünftige Arbeitsplatz gezeigt werden sollte, als daß man ihm nur Gelegenheit bieten wollte, das Unternehmen zu besichtigen.

Auch der dieser Satzungsregelung zugrunde liegende Sinn und Zweck führt zu keinem für den Kläger günstigeren Ergebnis. § 48 der Satzung ist eine Bestimmung, die den Ermächtigungsrahmen des § 544 Nr 1 RVO nicht voll ausgeschöpft hat. Sie hat gerade nicht den weiten Gesetzeswortlaut übernommen, sondern in entscheidender Weise eingegrenzt. Nicht jeder ist versichert, der die Stätte des Unternehmens besucht oder auf ihr verkehrt. Vielmehr ist die Beklagte bei der Fassung des § 48 der Satzung sowohl in personeller als auch in sachlicher Hinsicht nach dem Enumerativprinzip vorgegangen. Dies wird besonders deutlich durch die Aufzählung des Personenkreises in Buchst d dieser Vorschrift ("Rechtsanwälte, Steuerberater, Ärzte oder Sachverständige"). Hinter jeder einzelnen Regelung des § 48 steht darüber hinaus - wie die Beklagte überzeugend dargelegt hat - ein besonderer Schutzzweck. So ist § 48 Abs 1 Buchst b der Satzung konzipiert für Besuchergruppen, die bei der Besichtigung eines Betriebs regelmäßig schon durch die Teilnehmerzahl aber auch durch den von ständigen Ablenkungen gekennzeichneten Gang durch den Betrieb eine erhöhte Unfallgefahr verursachen. Hätte die Beklagte auch die Personen, die den Betrieb über das allgemeine Interesse von Besuchern, einen derartigen Betrieb mit seinen Arbeitsabläufen zu sehen, hinaus lediglich aus rein eigenwirtschaftlichen Gründen, etwa zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses aufsuchen, vom Versicherungsschutz umfassen wollen, dann hätte sie die allgemeine und weitgehende Regelung des § 544 Nr 1 RVO in ihrer Satzung übernehmen können. Erst recht hätte es dann der Regelungen in § 48 Abs 1 Buchst d und e der Satzung der Beklagten nicht bedurft. Deshalb kann auch nicht, wie der Kläger in seinem Schriftsatz vom 16. März 1993 meint, (s Bl 102 LSG Akte) aus dem Wort "verkehren" in § 48 der Satzung der Beklagten etwas anderes abgeleitet werden; denn dieses Tatbestandsmerkmal der angeführten Satzungsregelung bezieht sich auf die Regelungen in den Buchst a, c bis d des § 48.

Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 517717

Breith. 1995, 212

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