Leitsatz (amtlich)

1. Verneint das LSG zu Unrecht die Zulässigkeit einer Feststellungsklage und kommt es deshalb nicht zu einer Sachentscheidung , so liegt darin ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (Anschluß BSG 1960-02-26 3 RJ 148/57 = SozR Nr 23 zu N 55 SGG.

2. Ist der von einem Verletzten um Entschädigung angegangene Träger der gesetzlichen Unfallversicherung der Ansicht, daß zwar ein Arbeitsunfall vorliege, die Entschädigung aber von einem anderen Versicherungsträger zu gewähren sei, und wendet er deswegen dem Verletzten eine vorläufige Fürsorge zu. so kann er gegen den anderen Versicherungsträger Feststellungsklage nach SGG § 55 Abs 1 Nr 2 auch dann erheben, wenn dieser einen Arbeitsunfall nicht als vorliegend erachtet.

 

Normenkette

RVO § 1735; SGG § 55 Abs. 1 Nr. 2, § 162 Abs. 1 Nr. 2; RVO § 1736

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Juli 1960 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesene.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Mühlen- und Sägewerksbesitze ... Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft ist, lud am 13. April 1955 am Rande eines Waldes bei A... Langholz auf, um es zu seiner Sägemühle zu fahren und dort zu schneiden. Währenddessen kam der Beigeladene, der in sein Waldstück zur Arbeit gehen wollte, am Aufladeplatz vorbei. Als er sah, daß ein Stamm nicht waagerecht auf das Fahrzeug gezogen wurde, sprang er hinzu und wollte behilflich sein. Hierbei geriet er unter den rutschenden Stamm und brach sich den rechten Oberschenkel. Wegen dieses Unfalls verlangte der Beigeladene Entschädigung von der Klägerin. Diese übersandte mit Schreiben vom 20. Dezember 1955 die Vorgänge an die Beklagte. Sie gab ihrer Meinung Ausdruck, die Beklagte sei entschädigungspflichtig, weil der Verletzte in den Betrieb des Sägewerksbesitz ... angetreten sei, und bat deshalb um Rückerstattung ihrer Aufwendungen für die Heilbehandlung. Am 30. Dezember 1955 gab die Beklagte die Akten an die Klägerin zurück; sie stellte sich auf den Standpunkt, es liege kein Arbeitsunfall vor, weil der Beigeladene aus freien Stücken und lediglich aus Gefälligkeit tätig geworden sei. Am 3. Februar 1956 ließ die Klägerin dem Beigeladenen eine Mitteilung über die Gewährung einer vorläufigen Fürsorge nach § 1735 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zugehen. Darin heißt es u.a.: "Es ist unbestritten, daß ein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall vorliegt. Die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft ist jedoch der Ansicht, daß die Entschädigung nicht von ihr, sondern von einem anderen Versicherungsträger zu gewähren ist. .... Es wird Ihnen vorläufige Fürsorge zuteil bis zur Entscheidung über die Zuständigkeitsfrage durch das Sozialgericht (SG) Nürnberg." Seitdem erhält der Beigeladene Leistungen nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von anfänglich 100 v.H., später 60 v.H.

Mit der am 4. Februar 1956 beim SG Nürnberg erhobenen Klage hat die Klägerin gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) um Entscheidung über die Frage des zuständigen Versicherungsträgers gebeten. Nach Verweisung des Rechtsstreits an das SG Bayreuth hat sie beantragt, festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, den Unfall des Beigeladenen vom 13. April 1955 zu entschädigen.

Das SG hat die Klage durch Urteil vom 3. Juli 1957 abgewiesen, das Bayerische Landessozialgericht (LSG) die hiergegen von der Klägerin eingelegte Berufung durch Urteil vom 20. Juli 1960 zurückgewiesen. Beide Instanzen haben übereinstimmend folgende Auffassung vertreten: Es handele sich um einen Streit zwischen mehreren Versicherungsträgern über ihre Zuständigkeit. Bis zum Inkrafttreten des SGG hätten hierfür §§ 1736 ff RVO gegolten. Das Reichsversicherungsamt (RVA) habe, gestützt auf die materiell-rechtliche Vorschrift des § 1735 RVO, es als Zulässigkeitsvoraussetzung für das Verfahren nach § 1736 RVO angesehen, daß die Entschädigungspflicht an sich zweifellos klar, vor allem unter den beteiligten Berufsgenossenschaften unstreitig sei. Da § 1735 RVO heute noch gelte, bestehe kein Anlaß, von der Rechtsprechung des RVA abzuweichen. Unter § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG fielen die früher nach § 1736 RVO zu behandelnden Streitigkeiten. Bevor also ein Streit über die Zuständigkeit entstehen und eine Berufsgenossenschaft von einer anderen Ersatz verlangen könne (§ 1738 RVO), müsse unstreitig feststehen, daß überhaupt ein Arbeitsunfall vorliege. An dieser Voraussetzung fehle es hier. Da die Beklagte es abgelehnt habe, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen, habe die Klägerin nicht, auch nicht im Wege der vorläufigen Fürsorge, für jene tätig werden können. Die Klägerin hätte den Entschädigungsanspruch ablehnen müssen. Dann wäre es Sache des Verletzten gewesen, im Wege der Klage feststellen zu lassen, daß ein Arbeitsunfall vorliege und welcher Versicherungsträger für die Entschädigung zuständig sei.

Das Urteil des LSG ist der Klägerin am 22. September 1960 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 20. Oktober 1960 Revision eingelegt und diese am 19. November 1960 mit der Rüge begründet, das LSG hätte über die Klage sachlich entscheiden müssen. Sie ist der Auffassung, die Rechtsprechung des RVA finde im Gesetz keine Stütze, jedenfalls müsse seit dem Inkrafttreten des SGG eine Klage auf Feststellung des zuständigen Versicherungsträgers auch zulässig sein, wenn der um Entschädigung angegangene Versicherungsträger das Vorliegen eines Arbeitsunfalls leugne.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte zur Entschädigung des Unfalls des Beigeladenen vom 13. April 1955 zuständig sei.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie hält einen Mangel im Verfahren des LSG selbst dann nicht für gegeben, wenn dessen Rechtsauffassung unrichtig sein sollte. Im übrigen bezieht sie sich auf die Rechtsprechung des RVA.

Alle Beteiligten haben sich mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Möglichkeit, in dieser Weise zu verfahren (§ 124 Abs. 2 SGG), Gebrauch gemacht.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch statthaft, weil die Klägerin einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG gerügt hat und dieser vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Die auf Feststellung gerichtete Klage, daß die Beklagte verpflichtet sei, wegen des Unfalls des Beigeladenen vom 13. April 1955 Entschädigung zu leisten, ist vom SG Bayreuth abgewiesen worden. Daß es sich dabei nicht um eine Sachabweisung, sondern um eine Prozeßabweisung handelt, ergibt sich zwar nicht aus dem Entscheidungssatz des erstinstanzlichen Urteils, wohl aber aus seinen Gründen; denn die Abweisung beruht auf der Erwägung, daß es an der Prozeßvoraussetzung der übereinstimmenden Auffassung über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls fehle. Diese Entscheidung hat das LSG durch Zurückweisung der Berufung der Klägerin unter Billigung der Entscheidungsgründe des SG bestätigt. Die Rüge der Revision, das LSG hätte die Klage als zulässig ansehen und eine Sachentscheidung über die Entschädigungspflicht der Beklagten fällen müssen, betrifft einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; denn sie wirft dem LSG eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Vorschrift des § 55 SGG vor. Ebenso wie ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vorliegt, wenn das Gericht die Rechtzeitigkeit der Klageerhebung verkennt und deshalb die Klage als unzulässig abweist (vgl. BSG 4, 201 und 7, 113), so ist dies auch der Fall, wenn eine Klage aus anderen Gründen als unzulässig angesehen und deshalb eine Sachentscheidung abgelehnt wird. Dementsprechend hat bereits der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) einen wesentlichen Mangel des Verfahrens als vorliegend erachtet, wenn bei einer Feststellungsklage das Feststellungsinteresse zu Unrecht verneint wird und aus diesem Grunde eine Sachentscheidung unterbleibt (BSG SozR SGG § 55 Bl. Da 7 Nr. 23). Die von der Klägerin erhobene Rüge ist daher geeignet, die Statthaftigkeit der Revision zu begründen, sofern die Feststellungsklage zulässig ist.

Zu der Frage der Zulässigkeit der Klage hat allerdings das RVA, worauf die Vorinstanzen hingewiesen haben, in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, die Bestimmung des zuständigen Versicherungsträgers nach § 1736 RVO a.F. finde - wie dies schon für § 73 Abs. 2 des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes gegolten habe - nur statt, wenn die Entschädigungspflicht an sich zweifellos klar, insbesondere unter den beteiligten Berufsgenossenschaften unstreitig sei, wenn also, abgesehen von der Höhe der Entschädigung, lediglich die Frage offenstehe, welche Berufsgenossenschaft einzustehen habe (RVA, AN 1902, 264; 1911, 413; 1914, 624). Ob diese einschränkende Auslegung des Gesetzes gerechtfertigt war, kann indessen dahinstehen, weil es nach der Auffassung des Senats an jedem Anhaltspunkt dafür fehlt, daß das SGG hinsichtlich der Zulässigkeit von Feststellungsklagen nur denselben Rechtsschutz wie die RVO hätte gewähren wollen. Während der RVO echte Feststellungsbegehren grundsätzlich fremd waren, will das SGG einen möglichst lückenlosen Rechtsschutz gewähren und hat deshalb allgemeinen verwaltungs- und auch zivilrechtlichen Grundsätzen entsprechend die Rechtsschutzform der Feststellungsklage geschaffen (vgl. Amtl. Begründung zu § 4 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung, Materialien zum SGG, Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, Drucksache Nr. 4357 S. 23; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I S. 240 1). Außerdem betrifft § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG, auf den die vorliegende Klage gestützt ist, nicht nur - wie §§ 1735 ff RVO - die Träger der Unfallversicherung, sondern alle Versicherungsträger der Sozialversicherung; deshalb lassen sich einschränkende Auslegungen des § 1736 RVO nicht auf § 55 SGG übertragen, auch nicht deswegen, weil § 1735 RVO, der einem Träger der Unfallversicherung unter bestimmten Voraussetzungen die Gewährung einer vorläufigen Fürsorge auferlegt, über den 1. Januar 1954 hinaus weitergilt. § 55 SGG ist daher ohne Rücksicht auf den früheren Rechtszustand nach dem Sinn und Zweck der verfahrensrechtlichen Neuregelung auszulegen.

Nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann die Feststellung begehrt werden, welcher Versicherungsträger der Sozialversicherung zuständig ist. Ob von dieser Form des Rechtsschutzes nur gegenüber einem gleichgeordneten oder auch gegenüber einem unter- oder übergeordneten Rechtsträger Gebrauch gemacht werden kann (vgl. hierzu die Übersicht bei Brackmann aaO S. 240 1), bedurfte hier keiner Entscheidung. Jedenfalls ist die Klage auf Feststellung des zuständigen Versicherungsträgers bei Streitigkeiten zwischen gleichgeordneten Rechtsträgern, vor allem zwischen Trägern der Sozialversicherung, zulässig; soweit ersichtlich, ist dies unbestritten. Demgemäß wird im Schrifttum gerade der Fall des § 1735 RVO als Anwendungsfall für eine Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG angeführt (Brackmann aaO S. 240 q und r; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, § 55 Anm. 11 S. K 104; von Schuch, BG 1954 S. 318, 319). Nach der Auffassung des erkennenden Senats scheidet § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG als Klagegrundlage im vorliegenden Falle nicht etwa deshalb aus, weil die Klägerin es nicht dem Gericht überlassen will, unter mehreren in Frage kommenden Versicherungsträgern den leistungspflichtigen zu bestimmen, vielmehr die Feststellung begehrt, daß ein bestimmter Versicherungsträger, nämlich die Beklagte, entschädigungspflichtig sei. Der gegenteiligen, offenbar unter Überbewertung des Gesetzeswortlauts gewonnenen Auffassung des 4. Senats des BSG (SozR SGG § 55 Bl. Da 11 Nr. 26; so auch Dapprich, Das sozialgerichtliche Verfahren, S. 117, 118) vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Einer Anrufung des Großen Senats bedurfte es nicht, weil im vorliegenden Fall das Klageverfahren zwischen zwei Versicherungsträgern schwebt, während in dem vom 4. Senat entschiedenen Falle ein Versicherter auf Feststellung des zuständigen Versicherungsträgers geklagt hatte.

Die Zulässigkeit der Feststellungsklage setzt nach § 55 SGG weiter voraus, daß der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Auch dieses Erfordernis ist nach der Auffassung des Senats im vorliegenden Falle gegeben. Ob das Feststellungsinteresse schon deshalb zu bejahen ist, weil der Verletzte B. Entschädigungsansprüche bei der Klägerin angemeldet hat, kann dahinstehen; denn hier kommt hinzu, daß die Klägerin dem Verletzten Heilbehandlung und eine noch andauernde vorläufige Fürsorge gewährt. Jedenfalls diese Leistungsverpflichtung begründet ihr Interesse an der baldigen Feststellung des letztlich Leistungspflichtigen. Aus demselben Grunde bedarf es auch nicht der Entscheidung, ob gegen die Zulässigkeit der Feststellungsklage aus dem Gesichtspunkt der Möglichkeit einer Leistungsklage Bedenken bestehen (vgl. BSG 10, 21, 24); denn die endgültige Höhe der vorläufigen Fürsorge steht noch nicht fest, so daß eine alle Aufwendungen umfassende Leistungsklage einstweilen nicht erhoben werden könnte.

Hiernach ist die Feststellungsklage auf Grund des § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig, obwohl die Beklagte einen Arbeitsunfall nicht als vorliegend erachtet.

Sollte, wie die Klägerin meint, die Beklagte dem Verletzten entschädigungspflichtig und deshalb der Klägerin wegen der als vorläufige Fürsorge gemachten Aufwendungen ersatzpflichtig sein (§ 1738 RVO), so stellt sich die Frage, ob eine solche Ersatzverpflichtung ein Rechtsverhältnis im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG darstellt, auf dessen Feststellung die Klage gerichtet sein könnte. Einer Entscheidung dieser Frage bedarf es jedoch nicht, weil die Zulässigkeit der Feststellungsklage sich bereits aus § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG ergibt.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, daß die Revision auch begründet ist, weil das LSG über das Feststellungsbegehren der Klägerin sachlich hätte entscheiden müssen. Da diese Entscheidung von weiteren tatsächlichen Feststellungen abhängt und das Revisionsgericht diese nicht treffen kann, vermochte der Senat in der Sache selbst nicht zu entscheiden. Das angefochtene Urteil mußte mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 52

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