Entscheidungsstichwort (Thema)

Fachschulausbildung als Ersatz für weitere Schulausbildung

 

Orientierungssatz

1. Fachschulen sind - nicht als Hochschulen anerkannte - berufsfindende Schulen, die ua der technischen Ausbildung dienen und deren Besuch eine ausreichende praktische Berufsvorbildung oder mindestens berufspraktische Tätigkeit voraussetzt (vgl BSG vom 9.6.1988 4/11a RA 68/87 - mwN).

2. Zwischen abgeschlossener Fachschulausbildung und einer Hochschulausbildung besteht regelmäßig kein notwendiger Zusammenhang iS einer einheitlichen Ausbildung, wie dies bei der Schulausbildung und dem anschließenden Hochschulstudium der Fall ist.

3. Ist der Besuch einer Fachschule nicht auf einen berufspraktischen Schulabschluß gerichtet, sondern erforderlich, um die zu diesem Zeitpunkt geltenden Zugangsvoraussetzungen der Hochschulreife für das angestrebte Studium der Volkswirtschaft zu erlangen, so stellt sich die Fachschulausbildung als Ersatz für eine weitere Schulausbildung und damit als Abschnitt einer einheitlichen Ausbildung dar, an den sich das Hochschulstudium anschließt. Dieser Umstand rechtfertigt es, eine Fachschulausbildung der "weiteren Schulausbildung" gemäß § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b AVG (= § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b RVO) zuzuordnen mit der Folge, daß auch ein zulässiger Zwischenzeitraum bis zur Aufnahme des Studiums als Ausfallzeittatbestand vorzumerken ist.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 11.11.1986; Aktenzeichen L 2/1 An 226/85)

SG Wiesbaden (Entscheidung vom 13.12.1984; Aktenzeichen S 1/3 An 152/82)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Zeit zwischen der Beendigung eines Fachschulbesuches und der Aufnahme eines Hochschulstudiums als Ausfallzeit gemäß § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorzumerken ist.

Der 1925 in Zuckmantel/Kreis Teplitz-Schönau (Böhmen) geborene Kläger besuchte von September 1940 bis Mai 1943 die Wirtschaftsoberschule in Teplitz-Schönau. Das Abgangszeugnis vom 26. Juni 1944 berechtigte ihn nach deutschem Reichsrecht zum Studium der Wirtschaftswissenschaft an den wissenschaftlichen Hochschulen, an denen ein wirtschaftswissenschaftliches Studium durchgeführt werden konnte. Mit Bescheinigung der Schule vom 19. September 1944 wurde ihm aufgrund seiner nachgewiesenen Einberufung zur Wehrmacht die "Reife" zuerkannt.

Der Kläger war von Mai 1943 bis August 1943 beim Reichsarbeitsdienst eingezogen und dann bis Mai 1945 Soldat bei der Wehrmacht. Bis zu seiner Vertreibung aus der CSSR in das Gebiet der heutigen DDR im August 1946 war er in Zuckmantel als dienstverpflichteter Arbeiter tätig. Da das Reifezeugnis der Wirtschaftsoberschule Teplitz-Schönau von der Universität Jena nicht als Zugangsberechtigung für das Hochschulstudium anerkannt wurde, besuchte der Kläger vom 4. Februar 1947 bis 16. Juli 1948 die Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Weimar, deren Abschlußzeugnis ihn zum Studium an den Hochschulen berechtigte. Vom 2. Oktober 1948 an studierte er an den Universitäten Jena und Leipzig Volkswirtschaft. Er schloß das Studium am 15. Juli 1951 mit der Diplomprüfung für Wirtschaftler ab.

Im Verfahren zur Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen merkte die Beklagte mit Bescheid vom 3. März 1982 als Ausfallzeittatsache ua die Fachschulausbildung vom 4. Februar 1947 bis 16. Juli 1948 und die Hochschulausbildung ab 2. Oktober 1948 vor, nicht dagegen die Zeit vom 17. Juli bis 1. Oktober 1948. Den ua hiergegen erhobenen Widerspruch wies sie insoweit durch Bescheid vom 5. Oktober 1982 mit der Begründung zurück, bei der Fachschulausbildung und der Hochschulausbildung handele es sich nicht um eine einheitliche, notwendig zusammenhängende Ausbildung, so daß die Zwischenzeit nicht als Ausfallzeit vorgemerkt werden könne. Durch Bescheid vom 20. September 1984 merkte die Beklagte weitere Versicherungszeiten vor.

Während das Sozialgericht die Klage hinsichtlich der Vormerkung der Ausfallzeit abgewiesen hat (Urteil vom 13. Dezember 1984), hat das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Klägers das Ersturteil und die angefochtenen Bescheide abgeändert und die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 17. Juli 1948 bis 1. Oktober 1948 als Ausfallzeittatbestand vorzumerken (Urteil vom 11. November 1986). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelte Grundsatz, wonach generell unvermeidbare Zwischenzeiten zwischen Schul- und Hochschulausbildung als Ausfallzeit anzurechnen seien, soweit sie Zeiträume bis zu allenfalls vier Monaten nicht überschritten, müsse auf diese Fallgestaltung angewendet werden. Dem Kläger könne kein Nachteil daraus erwachsen, daß er vor Aufnahme des Universitätsstudiums noch einen weiteren Schulbesuch zu absolvieren gehabt habe.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte, daß das LSG die Rechtsprechung zur Anerkennung des Zeitraums zwischen allgemeinbildendem Schulbesuch und Aufnahme des Hochschulstudiums als Ausfallzeit auf den Fall einer abgeschlossenen Fachschulausbildung übertragen habe. Der Unterschied zwischen einer weiteren Schulausbildung als Bestandteil einer Gesamtausbildung und einer Fachschulausbildung iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG lasse es nicht zu, den Zeitraum zwischen Ende der Fachschulausbildung und dem Beginn der Hochschulausbildung als Ausfallzeittatbestand zu werten.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. November 1986 insoweit abzuändern, als sie zur Vormerkung der Zeit vom 17. Juli 1948 bis 1. Oktober 1948 als Ausfallzeittatbestand verurteilt worden ist, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG idF des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965) sind auf die Versicherungsjahre nach § 35 AVG anrechenbare Ausfallzeiten ua Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung oder einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung, jedoch eine Schul- oder Fachschulausbildung nur bis zur Höchstdauer von vier Jahren, eine Hochschulausbildung bis zur Höchstdauer von fünf Jahren. Als Ausfallzeit iS dieser Vorschrift ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, von der Rechtsprechung auch die generell unvermeidbare Zwischenzeit zwischen dem Ende der Schulausbildung und dem Beginn des zum nächstmöglichen Termin aufgenommenen Hochschulstudiums anerkannt worden (BSGE 24, 241, 242 = SozR Nr 16 zu § 1259 RVO), sofern sie drei (allenfalls vier) Monate nicht überschreitet (BSGE 56, 148, 150 = SozR 2200 § 1259 Nr 81; vgl auch SozR Nr 47 zu § 1259 RVO); denn Schul- und Hochschulausbildung stellen sich in diesen Fällen als einheitliche, notwendig zusammenhängende Ausbildung dar. Studierwillige Abiturienten sind während dieses Zwischenzeitraumes regelmäßig an der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und damit an der Beitragsleistung zur Rentenversicherung gehindert (vgl zur Anerkennung von Zwischenzeiträumen als Ausfallzeiten bei ähnlich gelagerten Sachverhalten BSGE 48, 193, 194 = SozR 2200 § 1259 Nr 39; SozR 2200 § 1259 Nr 51 und Nr 58).

Die Zeit zwischen der Beendigung der Fachschulausbildung des Klägers und der Aufnahme des Hochschulstudiums stellt sich nach den vorliegenden besonderen Umständen als Ausfallzeittatbestand dar. Dabei kann zunächst offenbleiben, ob aufgrund des vom LSG durch Bezugnahme auf das Abschlußzeugnis festgestellten Inhalts der Ausbildung an der Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Weimar überhaupt eine Fachschulausbildung gemäß § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG anzunehmen ist und es sich nicht ohnehin um eine weitere Schulausbildung iS der Vorschrift gehandelt hat. Fachschulen sind nämlich - nicht als Hochschulen anerkannte - berufsfindende Schulen, die ua der technischen Ausbildung dienen und deren Besuch eine ausreichende praktische Berufsvorbildung oder mindestens berufspraktische Tätigkeit voraussetzt (Urteil des erkennenden Senats vom 9. Juni 1988 - 4/11a RA 68/87 - mwN). Anhaltspunkte für die Voraussetzung der berufsbezogenen praktischen Tätigkeit ergeben sich aus den Feststellungen des LSG nicht, so daß - wofür manches spricht - die Ausbildung des Klägers an der Fachschule der einer Wirtschaftsoberschule vergleichbar gewesen und damit als "weiterer Schulbesuch" zu werten sein könnte.

Der Senat brauchte weiter nicht die von der Beklagten in den Vordergrund gestellte Frage zu entscheiden, ob der Grundsatz der Anerkennung von Zwischenzeiträumen zwischen Schul- und Hochschulausbildung als Ausfallzeit auch auf die Fallgestaltung anzuwenden ist, in der nicht der Abschluß einer "weiteren Schulausbildung", sondern der einer Fachschulausbildung den Beginn des Zwischenzeitraumes bildet; denn zwischen abgeschlossener Fachschulausbildung und einer Hochschulausbildung besteht regelmäßig kein notwendiger Zusammenhang im Sinne einer einheitlichen Ausbildung, wie dies bei der Schulausbildung und dem anschließenden Hochschulstudium der Fall ist. Darauf kommt es jedoch im vorliegenden Verfahren nicht entscheidend an; die Zeit des Fachschulbesuches ist hier vielmehr dem Ausfallzeittatbestand "weitere Schulausbildung" gemäß § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG zuzurechnen, so daß auch die notwendige, zweieinhalb Monate dauernde Zwischenzeit zwischen Beendigung der Fachschule zum 16. Juli 1948 und der Aufnahme des Hochschulstudiums am 2. Oktober 1948 die Voraussetzung als Ausfallzeittatbestand erfüllt. Nach den bindenden Feststellungen des LSG war das Abgangszeugnis der Wirtschaftsoberschule Teplitz-Schönau vom 26. Juni 1944, aufgrund dessen dem Kläger durch Bescheinigung der Schule vom 19. September 1944 die "Reife" zuerkannt worden war und das ihn nach damals geltendem Reichsrecht zum Studium der Wirtschaftswissenschaft an wissenschaftlichen Hochschulen berechtigte, von der Universität Jena nicht als Zeugnis der Hochschulreife anerkannt worden. Diese Feststellungen binden den Senat, und zwar, soweit es sich um Tatsachenfeststellungen handelt, nach § 163 SGG und ggf als Feststellung nichtrevisiblen Rechts (§ 162 SGG) nach § 202 SGG iVm § 562 der Zivilprozeßordnung. Der Besuch der Fachschule in Weimar durch den Kläger war mithin nicht auf einen berufspraktischen Schulabschluß gerichtet, sondern erforderlich, um - erneut - die zu diesem Zeitpunkt geltenden Zugangsvoraussetzungen der Hochschulreife für das angestrebte Studium der Volkswirtschaft in Jena zu erlangen. Die Fachschulausbildung stellte sich als Ersatz für eine weitere Schulausbildung und damit als Abschnitt einer einheitlichen Ausbildung dar, an den sich das Hochschulstudium anschloß. Dieser Umstand rechtfertigt es, die Fachschulausbildung im vorliegenden Fall der "weiteren Schulausbildung" gemäß § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG zuzuordnen mit der Folge, daß auch der Zwischenzeitraum bis zur Aufnahme des Studiums von der Beklagten als Ausfallzeittatbestand vorzumerken ist.

Nach alledem konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666075

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